Was macht Videospiele so reizvoll?
«Bis ich 11 Jahre alt war, habe ich Fußball gespielt. Bis 13 dann Wasserball. Und dann bekam ich meinen Computer.»
Laut der bereits erwähnten DAK Studie «Geld für Games» (2019), bei der 1000 Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren in Deutschland befragt wurden, ist der am häufigsten genannte Grund für den Konsum von Videospielen, der Spaß am Spiel. Daneben geben 75 % der Befragten an, beim Spielen gut abschalten zu können. Knapp 30 % der Befragten nannten als Grund, währenddessen nicht an «unangenehme Dinge» denken zu müssen.
Diese Ergebnisse decken sich ebenfalls mit unseren Beobachtungen: Zunächst steht der Spaß für die Spieler im Vordergrund. Doch gleichzeitig ergibt die Auswertung unserer Fragebögen, dass das am häufigsten erfüllte Kriterium die dysfunktionale Gefühlsregulation ist, also das Vergessen oder Verdrängen von Problemen sowie negativen Gefühlen. Viele Jugendliche ersetzen mit dem Spielen andere Freizeitaktivitäten. An die Stelle von Sport treten Videospiele. Während Sport allerdings meist tatsächlich bei der Stressbewältigung hilft, hat das Spielen eine überwiegend eskapistische Wirkung. «Ich spiele eigentlich immer, um meine Probleme zu vergessen», berichtet Jennie. «Im Spiel kann ich dann gut abschalten und alles um mich herum vergessen.» Bei Frust im realen Leben, durch Übergewicht oder Misserfolg in der Schule, bieten Computerspiele eine ideale Fluchtmöglichkeit.
Weil die Gefühlsregulation beim Spielen so gut funktioniert, assoziieren Kinder und Jugendliche diese Aktivität dann logischerweise mit einer positiven Wirkung. Die gedankliche Vereinnahmung spielt daher ebenfalls eine große Rolle. Selbst wenn nicht gespielt wird, denken die Betroffenen daran. Der Wunsch, das Spiel zu spielen, steigt, die Konzentration, z.B. in der Schule, lässt nach, da die Gedanken um das Spiel kreisen. «Natürlich muss ich an das Spiel denken», sagt Omar. «Ich muss ja schon planen, wie ich später weitermache.» Matheunterricht wird so zu einer weit weniger attraktiven Nebensache, und für Freunde bleibt immer weniger Zeit.
Eine weitere Studie namens «Game Over» aus dem Jahr 2016 hat Zahlen zur Computerspielabhängigkeit erhoben. Laut dieser Studie, bei der 1531 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 25 Jahren in Deutschland befragt wurden, gab mehr als jeder vierte männliche Befragte (26 %) an, sich unglücklich zu fühlen, wenn er nicht spielen konnte. Insgesamt erfüllte jeder zwölfte befragte Junge oder junge Mann in Deutschland (8,4 %) die Kriterien für eine Computerspielabhängigkeit nach der «Internet Gaming Disorder Scale».
Unter den (schwer) adipösen Bewohnern des Adipositas-Zentrums zeigt sich im Verhältnis eine Computerspielabhängigkeit prozentual noch viel öfter: Vor allem die männlichen Befragten verbringen am Wochenende ihre Freizeit mit Videospielen. Die männlichen Patienten, die die Kriterien einer Computerspielabhängigkeit erfüllen, gaben ihre Spielzeit am Wochenende mit durchschnittlich 8 Stunden und 40 Minuten täglich an. Im Vergleich dazu spielten die männlichen Befragten, die keine oder nicht alle Kriterien der «Internet Gaming Disorder» erfüllten, «nur» ca. 5 Stunden am Wochenende. Diese Werte liegen insgesamt sehr hoch und lassen erahnen, dass bei vielen männlichen Patienten, egal ob nach den Kriterien computerspielabhängig oder nicht, Videospiele die einzige Freizeitbeschäftigung am Wochenende sind. Die Spielzeit des 15-jährigen Enrico, der früher Fußball und Wasserball spielte, beträgt nach seinen Angaben heute an Wochentagen 6 Stunden. Am Wochenende schätzt er sie auf 11 Stunden pro Tag.
Das Bedürfnis, aus dem belastenden Alltag zu fliehen, scheint einer der stärksten Anreize für das intensive Spielen im Netz zu sein. Aber wie kommt es dazu, dass Videospiele so immens viel Raum im Leben der (vor allem männlichen) Jugendlichen und jungen Erwachsenen einnehmen?
Neben der sogenannten Coping-Funktion, in diesem Fall dem Spielen als Verdrängungsmechanismus für Probleme, wird der große Spielreiz durch aufrechterhaltende Faktoren erzeugt: spielinterne und spielexterne Faktoren. Dazu zählen zum Beispiel diverse Belohnungssysteme, die völlig gesunde psychische Grundbedürfnisse des Spielers, z.B. die nach Anerkennung und Beschäftigung, ausnutzen. Solche Faktoren werden von der Spieleindustrie bewusst geschaffen, um den Spieler dazu zu animieren, sehr schnell viel Zeit und früher oder später auch Geld in das Spiel zu investieren. Sowohl bei «Pay-to-play Games», also Spielen, die gekauft werden müssen, als auch bei «Free-to-play Games», die kostenfrei gespielt werden können, werden Mechanismen angewandt, um eine Abhängigkeit zu erzeugen. Und diese führt zu weiteren Investitionen.
Das folgende Kapitel setzt sich mit solchen spielinternen und spielexternen Faktoren auseinander, um bestehende Zusammenhänge besser verstehen zu können. Damit wollen wir möglichst detailliert über die Vielfältigkeit dieser Mechanismen aufklären – und wie perfide die Spielindustrie sie für ihre Zwecke nutzt.
Welche Faktoren können zu Computerspielabhängigkeit führen?
«Mein 5-jähriger Bruder kümmert sich mit Mamas Handy um seine Welpen.»
Johannes erzählt uns, dass er sich gar nicht mehr erinnern kann, dass sein kleiner Bruder irgendwann nicht mit dem Handy gespielt habe. Eine seiner Beschäftigungen sei es, sich am Smartphone um Hundewelpen zu kümmern. Die Welpen müssen täglich mehrfach gefüttert, gepflegt und bespielt werden, und seine Mutter stellt dem kleinen Bruder dafür ihr Handy zur Verfügung.
Durch die Art und Weise, wie die Großzahl der Online-Spiele aufgebaut ist, werden bereits junge Kinder systematisch an den Mediengebrauch gewöhnt. Kinder in diesem Alter finden es schön, sich um etwas zu kümmern. Und die Bilder und Geräusche im Handy wirken für sie sehr real. Wenn, wie im Beispiel von Johannes, Tiere oft versorgt und bespielt werden, geht es ihnen gut, ist das nicht der Fall, folgen negative Konsequenzen. Regelmäßiges Handyspielen wird durch dieses Belohnungssystem gefördert, trainiert und positiv verstärkt. Zusätzlich werden die Kinder animiert, durch «In-App-Käufe» Geld auszugeben. Denn noch besser geht es den Welpen, wenn schmackhaftes Hundefutter oder eine besondere Bürste gekauft werden.
Eltern werden dann gerne mal vor vollendete Tatsachen gestellt, wenn sie am Ende des Monats hohe Rechnungen zahlen müssen. Einige investieren jedoch auch eigene Zeit in die Versorgung digitaler Tiere, um zu vermeiden, dass das Kind traurig ist. Eine fatale Falle, denn so wird die Abhängigkeit legitimiert und noch verstärkt.
Spielen ohne Ende: Free-to-play-Games
«Ich war erfolgreich und wurde immer besser. Da hatte ich richtig Bock, weiter zu zocken.»
Bei «Free-to-play-Games» besteht aus Sicht der Spieleindustrie besonders zu Beginn die Gefahr, dass der Spieler zum nächsten Spiel wechselt, weil er ja nicht für das Spiel bezahlt hat. Ist die Absprungrate hoch, verdienen die Hersteller kein Geld. Also ist es zunächst oberstes Ziel, den Spieler möglichst schnell in das Spiel einzuführen und ihm gleich zu Beginn positive Erlebnisse zu schaffen, sodass er Interesse gewinnt und das Spiel weiter ausprobiert. «Free-to-play-Games» sind daher meist so angelegt, dass sie für den Spieler leicht zu erfassen sind und schnelle Erfolge bieten. Was die Spieler häufig nicht wissen – die Spiele haben in der Regel kein Ende. Denn gäbe es ein Ende, würde kein Geld mehr verdient werden. An den Verkaufszahlen von Spiele-Apps zeigt sich z.B. deutlich, dass das Geld im Spiel verdient wird. Für den Kauf einer Spiele-App gaben die Nutzer im Jahr 2018 etwa 15 Millionen Euro aus. Für Käufe innerhalb eines Spiels dagegen 1491 Millionen Euro. An diesen Zahlen wird sehr deutlich, wie lukrativ es ist, den Spieler so lange wie möglich an das Spiel zu binden.
Ralf, 23 Jahre, berichtet, dass auch er zuletzt eigentlich ausschließlich «Free-to-play-Games» gespielt hat. «Ich habe viel zwischen den Spielen hin und her gewechselt. Runterladen, anspielen und wenn es mir nicht gefiel, das nächste ausprobieren. Wenn ich es mir so überlege, hat sich bei mir eigentlich schon in den ersten 10 bis 15 Minuten gezeigt, ob ich das Spiel weiterspielen werde.»
Ralf beschreibt im Zusammenhang mit dem Spiel «Clash of Clans», wie sein Interesse aufrechterhalten wurde: «Ich konnte mich superschnell in das Spiel reindenken und wurde richtig schnell erfolgreich. Ich habe Kämpfe gewonnen, und mein Barbarendorf wuchs schnell weiter. Alles lief supergut, da gab es für mich keinen Grund, das Spiel wieder zu wechseln. Ich war erfolgreich und wurde immer besser. Da hatte ich richtig Bock, weiter zu zocken.»
Glücksgefühle – Belohnungen mit System
«Wenn es bei ‹League of Legends› richtig gut lief, hatte ich immer richtiges Bauchkribbeln. Ein total angenehmes Gefühl. Bei guten Erfolgen hat es 20 bis 30 Minuten angehalten.»
Bei Erfolgserlebnissen wird das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert, und die Person empfindet Freude oder gar Euphorie. Das menschliche Gehirn speichert das Glücksgefühl und seinen Auslöser. Und wir suchen rein biologisch bedingt erneut nach genau diesem Erlebnis....