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Zu Fuß durch ein nervöses Land

Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält

AutorJürgen Wiebicke
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783462316421
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
So geht's nicht weiter. Aber wohin sonst? Ein Land im Krisenmodus, die Welt in labilem Zustand - wie lässt sich dennoch ein gutes Leben leben? Der Philosoph und WDR-Journalist Jürgen Wiebicke hat sich auf den Weg durch unser Land gemacht: auf der Suche nach Menschen, die sich um mehr kümmern als um ihr privates Wohlbefinden - und gerade deshalb glücklich sind. Immer mehr Menschen spüren ein zunehmendes Unbehagen daran, dass an unserem derzeitigen individualistischen Lebensstil etwas grundsätzlich faul ist. Aber wie er zu ändern wäre, ist immer noch äußerst unklar. Gegen diese Lähmung im Denken und Handeln ist das Wandern seit jeher eine großartige Therapie. Daher ist der Philosoph Jürgen Wiebicke im Sommer letzten Jahres einfach losgelaufen, um etwas über den Zustand unserer Gesellschaft zu erfahren, über den Krisenmodus, in dem wir stecken - und um Menschen zu begegnen, die ganz konkret neue Formen des politischen Engagements erproben. Er trifft Künstler, Millionäre und Sportler, spricht mit Leitern von Jugendhilfezentren und Flüchtlingsheimen, besucht unter anderem ein Schützenfest, Yoga-Sitzungen im Klostergarten und einen Schlachthof. Er stellt fest: Nicht nur angesichts der Flüchtlinge wächst die Bereitschaft, sich um mehr als um den eigenen Vorgarten zu kümmern und sich für ein gelingendes Gemeinwesen einzusetzen.

Jürgen Wiebicke lebt als freier Journalist in Köln. Seit 16 Jahren moderiert er wöchentlich »Das philosophische Radio« auf WDR5. Sein Buch »Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen - eine philosophische Intervention« erschien 2013. 2016 »Zu Fuß durch ein nervöses Land - auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält« und 2017 »Zehn Regeln für Demokratie-Retter« sowie 2021 »Sieben Heringe. Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben«.. Er gehört zu den Programm-Machern der phil.Cologne, des Internationalen Festivals der Philosophie.

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Leseprobe
Inhaltsverzeichnis

29. Juni 2015: »Welches Ziel es auch ist, aus der Kampfzone führt kein Weg hinaus. Der Terror sucht und findet seine Opfer überall. Es gibt keine Ferien mehr.«


(FAZ)

Am Ende meiner Straße klebt die Jakobsmuschel. Lange Zeit muss ich den blauen Sticker mit dem gelben Symbol der Pilger übersehen haben, denn er ist längst ausgebleicht und pappt unbeachtet an einem Laternenpfahl. Mir ist auch noch nicht aufgefallen, dass fromme Leute mit frommen Liedern auf den Lippen durch meine Straße gezogen wären. Santiago ist weit. Mich interessiert die Muschel nicht, ich bin kein Pilger. Die Vorstellung, auf einem vorgezeichneten Pfad an ein Ziel zu kommen, das als heilig gilt, halte ich für Aberglaube. Falls es einen Gott gibt, wäre von ihm doch wohl zu erwarten, dass er in einer Hochhaussiedlung genauso gegenwärtig ist wie in Santiago, oder wir könnten ihn mit gutem Recht ignorieren. Pilger haben ein Ziel, ich habe keins. Denn wer vorher schon weiß, was draußen zu finden ist, muss ja gar nicht erst die Schuhe schnüren. Aber eins verdanke ich dem Aufkleber am Ende meiner Straße doch: den simplen Gedanken, dass man jederzeit einfach loslaufen kann. Dass eine Reise auch vor der eigenen Haustür beginnen kann. Als ich ihn zum ersten Mal bewusst sah, wusste ich, was ich tun wollte. Am liebsten gleich.

Von wo nach wo? Diese Frage hatte mich vorher unnötig lange beschäftigt, nachdem der Plan gefasst war, ein paar Wochen zu gehen. Ich habe Deutschlandkarten studiert, auf denen die Fernwanderwege verzeichnet sind. Aber die sind nicht für Leute wie mich gemacht. Ich suche nicht nach dem spektakulären Panoramablick, nach den Idyllen der deutschen Mittelgebirge, meine Wege sollen auch dorthin führen, wo es schäbig ist. Ich glaube nämlich, dass man eine Gesellschaft am besten von ihren Rändern her verstehen kann. Was sich dort verändert, bekommt die gesellschaftliche Mitte in ihrer Behäbigkeit häufig gar nicht mit. Deshalb wird meine Wanderung auch an Orte führen, die wie Inseln sind, abgespalten vom großen Ganzen, das sie umgibt. Flüchtlingsheime, Psychiatrien, Schlachthöfe liegen nicht am Jakobsweg, verdienen anscheinend keine Wegweiser, aber ich möchte dorthin. Hier zeigen sich die feinen Haarrisse in der Gesellschaft zuallererst, aus denen schnell Klüfte werden können. Die möchte ich wahrnehmen und nach Antworten auf die Frage suchen, ob es überhaupt noch etwas gibt, das die Gesellschaft heute noch zusammenhalten kann. Diese Antworten sind umso wichtiger, weil sich nach meiner Beobachtung viele unserer Gespräche gerade darum drehen, dass der Boden unter unseren Füßen schwankt. Dass uns kollektiv Sicherheit verloren gegangen ist. So ist das wohl, wenn man das Empfinden hat, in einer Epoche des Übergangs zu leben, in einer Zwischenzeit, in der das Alte zwar in rasender Geschwindigkeit entwertet wird, das Neue aber noch keine klare Kontur besitzt. Ein gutes halbes Leben rum und plötzlich so vieles fraglich. Wo man auch hinschnuppert, riecht es nach Krise. Weit verbreitet das Gefühl, dass die fetten Jahre vorbei sind. Da kann es nicht schaden, für ein paar Wochen zu gehen statt wie sonst zu rennen. Im Laufen denkt es sich besser, im Laufen kommt man aber hoffentlich auch etwas leichter von einem Denken los, das nicht vom Fleck will.

Aber das allein ist es nicht, was mich nach draußen zieht. Denn natürlich möchte ich auch etwas über mich erfahren. Wie das ist, wenn man morgens loszieht, ohne zu wissen, an welchem Ort und in welchem Bett man abends die Augen zumacht. Was geschieht, wenn der Zufall bestimmt, mit welchem unbekannten Menschen ich das nächste Gespräch führen werde. Ob ich klarkommen werde mit dem Verzicht auf Planung und Taktung. Wenigstens für einen Moment soll das Gefühl, dass Tage und Stunden einem durch die Finger rinnen, keine Rolle spielen. Und dann natürlich die Einsamkeit. In meinem Alltag fehlt sie mir oft, geht es mir wie so vielen, die merken, dass sie überkommuniziert sind. Und nun auf einmal ganz viel davon? Da wird es darauf ankommen, dass ich mich selbst aushalten kann, wovor ich ein bisschen Angst habe. Es wird Zeit für mich, den Stecker rauszuziehen und über ein paar Dinge nachzudenken. Ich gehe los, um von der Straße zu lernen.

 

Am Tag meines Aufbruchs werden die Toten einer Serie von Anschlägen islamistischer Terroristen gezählt, Urlaub in Tunesien gilt jetzt als zu gefährlich. In Frankreich hat ein Islamist seinen Vorgesetzten enthauptet und versucht, ein Chemieunternehmen in Brand zu setzen. Genau ein Jahr ist es her, dass der Chef des IS ein neues Kalifat ausgerufen und sich selbst als Nachfolger Mohammeds tituliert hat. Am Tag meines Aufbruchs fürchten viele auch einen Börsencrash, weil Griechenland vor der Pleite steht. Davon lese ich in der Zeitung, bevor ich die Haustür hinter mir zuziehe.

Ich schaffe es tatsächlich, unerkannt aus meinem Kölner Vorort rauszukommen, und spüre schon bald, wie mein Körper geflutet wird von einem Gefühl der Euphorie. Was jetzt vor mir liegt, gehört mir ganz allein. Von einem Moment auf den anderen bin ich in den Besitz eines äußerst knappen Gutes geraten: Ich habe Zeit! So viel davon, dass das, was vor mir liegt, so endlos scheint wie die Sommerferien der Kindheit.

Überhaupt ist der Sommer auf meiner Seite. Der Wetterbericht hat zwar für die kommenden Tage Temperaturen bis nah an die 40 Grad gemeldet. Eigentlich vollkommen bescheuert, bei dieser Hitze loszulaufen, aber anders als sonst macht sie mir nicht das Geringste aus. In einem Ein-Euro-Shop habe ich mir auf den letzten Drücker noch einen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe gekauft, der mich definitiv für ein Leben in der Großstadt disqualifiziert. Im Rucksack findet sich nur das Allernötigste. Ich setze darauf, an Waschsalons vorbeizukommen. Außerdem habe ich eine wichtige Kleinigkeit dabei: eine Kreditkarte. Denn mir geht es nicht darum, möglichst asketisch zu leben und einen Kampf gegen mich selbst zu führen. Mein Deutschland muss nicht umsonst sein. Ich habe mir auch fest vorgenommen, auf das Zählen der Kilometer zu verzichten. Mir ist es egal, wie viel ich schaffen werde. Es wäre zwar gelogen, wenn ich behaupten würde, mir nichts beweisen zu müssen. Aber die Anzahl der Kilometer ist es nicht.

Gleichwohl laufe ich nicht vollkommen planlos. Alle paar Tage habe ich eine lose Verabredung, die sich jedoch jederzeit absagen ließe. Verabredungen mit Menschen, von denen ich mir Denkanstöße erhoffe. Und gleich heute wird es das erste Treffen geben. Dazu muss ich nur knapp zwei Stunden bergauf durch den Königsforst Richtung Osten nach Forsbach laufen. Unterwegs im Wald treffe ich auf zwei ältere Herren, die mich prompt nach meinem Weg fragen. Offenbar ist es mit einem Rucksack auf dem Rücken ähnlich wie mit einem Hund an der Seite, man wird als Fremder leichter angesprochen. Die beiden lachen, nachdem ich gesagt habe, dass ich das noch nicht weiß. »In die Richtung geht’s ins Sauerland«, meint einer und zeigt Richtung Osten.

Oben auf dem Bergrücken angekommen, bin ich vollkommen durchgeschwitzt. Aber die Frau, mit der ich verabredet bin, erwartet gewiss kein tadelloses Äußeres. Sie liebt es, gesellschaftliche Konventionen zu unterlaufen: Mary Bauermeister, Künstlerin, inzwischen 81 Jahre alt. Von ihr möchte ich wissen, wie man älter werden kann, ohne die Bedeutung des utopischen Denkens aus den Augen zu verlieren. Vor über 40 Jahren hat sie hier in Forsbach ein großes Wald-und-Garten-Grundstück gekauft, das heute wie ein Museum der Avantgarde wirkt. Hierhin ist sie mit ihren vier Kindern gezogen, nachdem ihr Zusammenleben mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen in die Brüche gegangen war. Vor ein paar Jahren hat Mary in einem Buch bemerkenswert offen Auskunft über ihr Lebensexperiment mit einer Ehe zu dritt gegeben. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der im hohen Alter so radikal denkt und so vitalisierend auf die eigene Umgebung wirkt wie sie. Mary ist ein Vulkan. Sie scheint keine Angst zu kennen. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie gesagt, dass sie sich jetzt im Alter mit jedem Tag freier fühle. »Ich bin die hässliche Alte«, meinte sie damals mit breitem Grinsen und wies demonstrativ auf ihre Zahnlücken. Sofort war mir klar, dass ich sie gern ein bisschen näher kennenlernen würde.

Sie verkörpert für mich ein Lebensgefühl, das meiner Generation vollkommen fremd ist. Eines, um das ich sie ein wenig beneide. Denn während wir heute gut 50-Jährigen von vornherein mit der Grundmelodie groß geworden sind, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist, alle Utopien verdampft, letzte Ausfahrt postmoderne Ironie, hat Mary lebensgeschichtlich das Glück gehabt, dabei gewesen zu sein, als etwas völlig Neues in die Welt kam. »Am Anfang war der Klang« heißt ein Kapitel in ihrem Buch, in dem beschrieben ist, welche ungeheure Wirkung die Zerstörung etablierter Hörgewohnheiten durch die Neue Musik entfaltet hat. Im Sommer 1960 hat Mary im Großen Sendesaal des WDR an einem Abend drei Uraufführungen von Werken von Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und Luigi Nono miterlebt und in der Nacht darauf in ihr Tagebuch geschrieben, dass man sich selbst total neu erschaffen und alle Erwartungen fahren lassen müsse. Sie war dann bald darauf in den wilden Jahren des künstlerischen Aufbruchs eine der Leitfiguren der Fluxus-Bewegung. Das Erstaunliche an Mary ist, dass auf ihren Aufbruch kein Abbruch folgte. Sie ist frei von Zynismus, der Krankheit vieler Veteranen der künstlerischen Avantgarde, und voll von dem Impuls, diese Gesellschaft immer wieder neu denken zu wollen. Schon merkwürdig, dass es mich für den Anfang zum...

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