Die Stadt Gottes – die Folgen der Reformation
Das neue Jerusalem – Huldrych Zwingli und die Folgen
„Ein Kriegsdienst ist das Leben des Menschen auf Erden. Mit den Waffen des Paulus gewappnet, muss darum in der vordern Linie tapfer kämpfen, wer sich den Ruhm erwerben will […]“
Sehnsucht nach Martyrium klang aus diesen Zeilen, die Huldrych Zwingli am 24. Juli 1520 an seinen Mitstreiter Oswald Myconius in Luzern richtete. Die militärischen Metaphern, derer er sich bediente, stammten aus dem Buch Hiob. Sie und ähnliche Wendungen tauchten in seinen Schreiben immer wieder auf. Zwingli besass Schlachtenerfahrung. Er kannte den ungestümen Drang des eidgenössischen Fussvolks, er hatte gesehen, wie es sich angetrunken, mit lautem Geschrei und scheinbar ohne Todesfurcht gegen die feindlichen Linien bewegt hatte. Vor allem aber hatte er den bitteren Geschmack der Niederlage kennengelernt.
Vom Feldkaplan zum Solddienstkritiker
Mindestens zweimal hatte Zwingli die Glarner Truppen als Feldprediger auf ihrem Zug nach Italien begleitet. Die Schlacht von Marignano vom 13./14. September 1515 verfolgte der gelehrte Theologe möglicherweise persönlich.
Nach den Siegen in den Burgunderkriegen und im Schwabenkrieg (1499) war dies das erste Desaster für die von Erfolgen verwöhnten Schweizer. Noch 1512 waren sie im Triumph in Mailand eingezogen. Italien hatte damals den Atem angehalten. Erstand in den Alpen, wie Nicolò Machiavelli mutmasste, ein neues Rom? Setzte die neue Heimat der Bürgertugend dazu an, Italien zu erobern? Dergleichen Träume waren nun passé. Die französische Artillerie hatte das Ende der eidgenössischen Militärdominanz eingeleitet. Katerstimmung machte sich breit. Weitere Eroberungszüge schienen nicht mehr lohnend. Wenn man dennoch finanziellen Gewinn auf dem Schlachtfeld erzielen wollte, so blieb nur der Dienst unter fremden Fahnen. Auch der Sieger von Marignano, der König von Frankreich, hatte dies erkannt und den Eidgenossen in einem Bündnisvertrag lukrative Bedingungen geboten, sofern sie ihn als bevorzugten Dienstgeber akzeptierten.
Der Dienst für fremde Herren (das sogenannte Reislaufen) war schon vor der Niederlage von Marignano eine durchaus geläufige und immer wieder heftig kritisierte Einrichtung. Die eidgenössischen Orte hatten auf den Vorwurf der Bestechlichkeit und der Sittenlosigkeit reagiert, indem sie Geldgeschenke der Fürsten an Standesvertreter schon 1503 verboten und eine stärkere Kontrolle des Militärdienstes durch die einzelnen Obrigkeiten anmahnten. Zwar trugen die Solddienstverträge mit Frankreich und anderen Souveränen, die nunmehr folgten, dazu bei, das Chaos zu ordnen, der Geldfluss an die grossen Familien nahm dennoch eher noch zu. Dasselbe galt für die Zahl der Eidgenossen, die im Felde standen. Nicht wenige Zeitgenossen reagierten mit harscher Kritik.
Der ehemalige Feldprediger Zwingli gehörte zu jenen, die besonders entschieden zur Umkehr mahnten. Er, der sich schon früh als eidgenössischer Patriot präsentierte, forderte, das Wort Gottes ernst zu nehmen. Aufmerksame Zuhörer fand er vor allem in Zürich. Das Chorherrenstift hatte ihn 1519 zum Leutpriester bestellt. Wenngleich der wortgewaltige Prediger bei seiner letzten Tätigkeit in Einsiedeln mit einer Liebesaffäre Aufsehen erregt hatte, lag diese Personalentscheidung nahe. Zwingli war ein gebildeter Mann mit besten Kontakten in die Gelehrtenwelt.
Seine Distanz gegenüber dem Solddienst, die er 1521 auch öffentlich zum Ausdruck brachte, wurde von einem Grossteil seiner neuen Gemeinde geteilt. Viele der aufstrebenden Handwerksmeister und Handelsleute betrachteten den plötzlichen Reichtum der Militärunternehmer mit Misstrauen. Die Erinnerung an die „Affäre Waldmann“ war nach wie vor präsent. Zwinglis immer wütendere Attacken gegen diese Form des „Fleischhandels“, wie er es nannte, trafen daher auf Billigung.
In seinen Predigten und Schriften liess er keinen Zweifel daran, dass er ihn für das Grundübel der Eidgenossenschaft hielt. Die Fürsten und Könige, so erklärte er, ruhten nicht, bis sie den von Gott gesegneten Hort des Glaubens und der Tugend verunreinigt hätten. Sie seien, so Zwingli, auf dem besten Wege dazu, denn die Gier nach dem leicht verdienten Geld drohe, die edlen Schweizer ihrer kostbaren Freiheit zu berauben. Statt sich mit ehrlichem Handwerk und Ackerbau zu nähren, ziehe man in die Ferne, schlachte Unschuldige ab, verwüste Ländereien und ergebe sich dann daheim dem Luxus.
Es sei Zeit zur Umkehr. Zwingli klagte nicht nur an, er bot auch einen Ausweg. Anstatt den Lockrufen der Verführer zu verfallen, sollten sich die Zürcher unter den Befehl ihres Hauptmanns Jesus Christus stellen. Ihm und nur ihm gehöre ihre Treue. Im selben Atemzug, in dem er Christus pries, verdammte er jene, die ihm den Thron streitig machten. Dies war in seinen Augen vor allem ein Klerus, der die Botschaft Christi aus reinem Eigennutz verdunkelte. Statt den Gläubigen die Wahrheit zu verkünden, führe man sie mit allerlei abergläubischen Lehren in die Irre. Heiligenkult und Messopfer, prunkvolle Prozessionen und Ohrenbeichte dienten letztlich nur dazu, die Taschen der Priester zu füllen. Man knechte die Seelen, um die Körper folgsam zu machen.
Der Krieg der Worte
Der Aufruf zur Umkehr, die völlige Hingabe an Christus, die neue Hinwendung zum biblischen Text und die Kritik am Klerus – all dies waren keineswegs theologische Aussenseiterpositionen. Europäische Berühmtheiten, wie Zwinglis verehrter Briefpartner Erasmus von Rotterdam, argumentierten ähnlich. Der neue Leutpriester am Grossmünster ging jedoch noch einen Schritt weiter. Er verdammte nicht nur den habgierigen Klerus, sondern begann, das Papsttum selbst als Grundübel der Kirche anzuklagen. Der Glaube allein, entfacht durch das reine Wort Christi, werde das Heil bringen. Alles Blendwerk und jedes Beiwerk war zu entfernen. Die Geistlichen sollten sich ausschliesslich auf ihr Amt – die Verkündigung – konzentrieren. Die päpstliche Vermischung zwischen politischer und religiöser Macht lehnte er prinzipiell ab.
Diese Botschaft – die er zeitgleich zu und wohl auch beeinflusst durch Luther verkündete – war durchaus revolutionär, denn sie erklärte einen ganzen Stand für überflüssig. All die Chorherren, Nonnen, Priester und Diakone, die in Zürich lebten und wirkten, sollten künftig ihrer Privilegien und ihrer reichen Pfründen beraubt sein. Folgte man Zwingli, so waren sie einfache Bürger, die ausschliesslich ihrem Rat Gehorsam und Steuern schuldeten.
Den Senatoren verhiess die Botschaft der Reformation damit zusätzliche Macht und ein gewaltiges Vermögen. Sie war aber auch dazu angetan, Konflikte zu erzeugen. Immerhin schickte sich der Leutpriester an, die gesamte religiöse Kultur, die bislang dem Leben Rhythmus und Orientierung gegeben hatte, zu verändern. Es drohte zudem Ungemach mit all den kirchlichen Autoritäten, mit denen der Rat sich bislang zu arrangieren wusste, so etwa mit dem Bischof von Konstanz oder der Äbtissin des Fraumünsters.
Die Obrigkeit zögerte. Noch hatte der theologische Disput seine gesellschaftlichen Sprengkräfte nicht entfaltet. Um dies zu ändern und eine Kette von Ereignissen zu initiieren, entschlossen sich die Anhänger des Reformators zu einer spektakulären Demonstration.
Das „Wurstessen“
Am 9. März 1522 lud der Buchdrucker Christoph Froschauer zum gemeinsamen Mahl in sein Haus. Anwesend waren neben seinen Gesellen auch sein Freund Huldrych Zwingli und dessen Kollege Leo Jud. Es war der erste Sonntag der vorösterlichen Fastenzeit. Der Verzehr von Fleisch war strikt untersagt. Froschauer reichte den Gästen dennoch zwei geräucherte Würste. Sie wurden kleingeschnitten, verteilt und verzehrt. Zwingli schaute zu, Jud ass mit. Es war ein eindeutiges Vergehen gegen die städtische Ordnung. Der Rat bestellte Froschauer ein und verhörte ihn. Der verwies auf den Arbeitsdruck, unter dem er stand. Er habe Tag und Nacht mit seinen Gesellen in der Werkstatt gestanden, um die Aufträge für die Frankfurter Buchmesse erledigen zu können. Mit Mus habe er sich und die seinen nicht bei Kräften halten können und Fisch sei zu teuer gewesen – eine deutliche Kritik an den Folgen der Fastenordnung, die vor allem den ärmeren Handwerksmann finanziell schädigte. Zudem, so fuhr er fort, habe ihn die Lehre Zwinglis davon überzeugt, dass es sich beim Verbot des Fleischverzehrs nicht um ein göttliches Gebot handele.
Abb. 9: Zechrunde in einer der Trinkstuben. – Darstellung aus dem Wappenbuch des Gerold von Edlibach, Ende des 15. Jahrhunderts.
Das Fastenbrechen und dessen provokante Rechtfertigung setzten den Rat unter Handlungsdruck. Man versuchte, der Angelegenheit die Brisanz zu nehmen, indem man den Rechtsbrecher zwar vermahnte, die Sache aber ansonsten auf sich beruhen lassen wollte. Genau dies tat Zwingli nicht. Zwei Wochen nach dem Ereignis hielt er eine Predigt, in der Froschauers Handeln ausdrücklich gebilligt wurde. Sie erschien wenig später im Druck. Jetzt wurde der Bischof aufmerksam und sandte eine Delegation in die Limmatstadt, die am 7. April 1522 dort eintraf. Noch immer wartete der Rat ab, wurde von Zwingli aber sehr geschickt zu einer Entscheidung gedrängt. Der Leutpriester, dem der Rat 1520 eine theologische Führungsposition in der Stadt zugebilligt hatte, forderte, seine Thesen verteidigen zu dürfen. Das Zusammentreffen zwischen Bischofsdelegation und Zwingli vor dem Rat war das erste Duell um die neue Lehre. Der Reformator suchte in den nun folgenden Monaten immer wieder die Konfrontation mit dem Gegner und er war – höchst erfolgreich – bestrebt, den Rat in den theologischen Streit...