2. Ist der Begriff »Elite« noch zu retten?
Die schlüpfrige Elite
Wenn französische Kaufleute im 17. Jahrhundert von élite sprachen, meinten sie damit Garne und Lebensmittel von ausgesuchter Qualität, die sie entsprechend teuer anboten. Ursprünglich leitet sich das Wort nämlich vom lateinischen Verb eligere ab, was so viel heißt wie »auslesen« oder »auswählen«.
Nach der Französischen Revolution und im Zeitalter der Industrialisierung machte der Begriff auch gesellschaftlich Karriere. Das Bürgertum brachte Elite im 19. Jahrhundert als »Kampfbegriff« (Schmoll, 2008) gegen die qua Geburt privilegierten Stände, den Klerus und den Adel, ins Spiel und zeigte damit auch die veränderten Spielregeln in der Gesellschaft auf: Nicht mehr Geburt und vererbte Privilegien, sondern Leistung und Wettbewerb sollten von nun an darüber entscheiden, wer im aufdämmernden Kapitalismus Spitzenpositionen einnimmt.
Gleichzeitig grenzten sich die neuen Eliten mit diesem Gütesiegel von den »unteren Schichten« ab, dem ungebildeten Volk. Das ständische Denken wurde also im Kapitalismus nicht abgeschafft, sondern lediglich neu verpackt. Der Gegensatz von herrschender Elite und breiter Masse kennzeichnet seither also weiterhin die Diskussionen.
Einer, der diese Diskussion prägte, war der 1848 geborene italienische Soziologe Vilfredo Pareto. Er wendete den Begriff »Elite« auf die jeweils herrschende Minderheit an. Sein Gesellschaftsbild gleicht einer Pyramide, die Spitze bildet dabei die Oberschicht, aufgepflanzt auf der breiten Masse. Pareto nimmt allein die Spitze in den Blick und sieht Geschichte als eine Abfolge des Aufstiegs und Falls von Eliten. »Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten«, konstatiert Pareto. Im Kampf um die Macht stehen sich dabei jeweils zwei Typen gegenüber: Wölfe und Füchse. Erstere setzen ihre Machtansprüche mit Gewalt um, Letztere mit List.
Dass es Eliten geben müsse, war für Pareto ebenso wie für seinen Zeitgenossen und wissenschaftlichen Rivalen Gaetano Mosca unumgänglich. Mosca, der die herrschende Elite auch als »politische Klasse« bezeichnete und damit einen demokratiekompatibleren Elitebegriff als Pareto lieferte, sah Eliten als unabdingbar an, um Prosperität und Wohlstand einer Gesellschaft zu sichern.
Die italienischen Faschisten machten sich die Thesen der beiden Eliteklassiker zu eigen und deuteten sie dahingehend, dass jedes Volk eine Herrschaftselite brauche, welche den Massen den Weg in die Zukunft weist und dem Volk das Überleben sichert. Die Nationalsozialisten in Deutschland übernahmen das und gaben dem Terminus noch eine blutige Note, indem sie ihn mit der Vorstellung von rassischer Überlegenheit kombinierten und Vertreter »minderwertiger« Rassen in den Exodus schickten oder gleich ermordeten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schienen die Eliten in Deutschland unauffindbar zu sein. Das Vertrauen in dieselben war so nachhaltig erschüttert, dass man sich fragte, ob man diesen Begriff überhaupt jemals wieder verwenden sollte. Der Soziologe Ralf Dahrendorf, den man wohl zur intellektuellen Elite im Nachkriegsdeutschland rechnen kann, sinnierte 1961 über jene Gruppen, »an deren bestimmendem Einfluss für die Geschicke der gesamten Gesellschaft kaum Zweifel bestehen kann, die also sicher zur Oberschicht gehören, wenn und solange es eine solche Schicht überhaupt gibt«.
Gleichzeitig nahmen sich die Wissenschaftler des Begriffs »Eliten« jedoch an und versuchten ihn zu resozialisieren, indem sie ihn von jeglichen Bezügen zu Rasse oder Herkunft entkleideten. Der an der Freien Universität Berlin lehrende Politologe Otto Stammer definierte Eliten 1955 als »Funktionseliten«. Das klingt bürokratisch, sachlich, korrekt. Dahrendorf übernahm den Begriff und definierte 1965 sieben zentrale Funktionsbereiche, in denen diese Eliten jeweils ihren Führungsaufgaben nachkamen: Wirtschaft, Politik und Verwaltung, Wissenschaft und Bildung, Kultur und Kunst, die Justiz, die Kirchen und das Militär. Die Gruppe der Mächtigen wurde also segmentiert und auf verschiedenen Abteilungen der Gesellschaft aufgeteilt. Dass diese saubere Trennung in der Wirklichkeit so nicht funktioniert, prophezeite bereits der amerikanische Soziologe George W. Mills. In seinem Buch Power Elite zeigte er 1955, dass sich der Einfluss der Herrschenden durch ein Beziehungsgeflecht von Militär, Politik und Wirtschaft zu einem Machtkomplex verdichten kann.
Bis in die 90er-Jahre mied man das E-Wort in Deutschland und sprach stattdessen euphemistisch etwa von »politischer Klasse«. Ausgerechnet die erste rot-grüne Regierung machte den Begriff wieder endgültig salonfähig. »Zur Elite gehört man durch Leistung, meine Damen und Herren«, hob Gerhard Schröder 1998 in seiner Regierungserklärung hervor. Er bezog sich auf Personen, die sich durch ihre besonderen Fähigkeiten dazu eignen, besondere Positionen zu erfüllen. Das schloss selbstredend auch den Kanzler selbst ein, der es selten versäumte, auf seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen hinzuweisen. In die Amtszeit der Schröder-Regierung fällt auch die Exzellenzinitiative, die aus dem breiten Spektrum von Hochschulen einige Universitäten zu »Eliteuniversitäten« erkor und ihnen eine besondere Rolle bei der Ausbildung und Rekrutierung von Spitzenforschern zuwies.
Einig sind sich die heutigen Eliteforscher darin, dass es die eine Elite in unserer komplexen Gesellschaft nicht gibt. In horizontaler Richtung unterscheiden sie drei Kategorien von Elite: Da sind die, die viel können, die sogenannte Leistungselite. Jene, die beruflich auf einer Position sind, auf der sie viel zu entscheiden haben, gehören zur Funktionselite. Und jene, die großen Einfluss haben, bilden die sogenannte Machtelite.
Das funktioniert im Idealfall wie ein Fließband: Aus der Leistungselite wird nach Ausbildung oder Studium (meisten doch eher nach dem Studium) die Funktionselite, die in der Demokratie mit der Machtelite zum Teil identisch ist. Konkret hieße das: Das Mathe-Genie wird Finanzministerin, die Jugend-forscht-Siegerin Bayer-Konzernvorstand (die Vorständin ist noch nicht in den Sprachgebrauch eingeführt). Es handelt sich dabei um eine zugegebenermaßen ziemlich meritokratische Vorstellung von Gesellschaft – die Gesellschaft wird regiert von den Besten –, und wenn man es genauer bedenkt, auch um eine recht gruselige. Wer will schon Leute vor der Nase haben, die immer alles besser wissen und können? Gottlob ist die Wirklichkeit also differenzierter: Wer viel Einfluss hat, kann ein Simpel sein. Wer hochbegabt ist, kann als Putzfrau arbeiten. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann man nur annehmen: Wer viel Geld hat, hat mit Sicherheit auch viel Macht. Sonst würde nicht jede Regierung sich davor drücken, Erbe und Vermögen stärker zu besteuern oder eine Steuer auf Spekulationen mit Aktien und Anleihen zu erheben.
An Pareto und Mosca angelehnt, gelten bei den Soziologen heute jene Personen als Mitglieder der Elite, die qua Amt oder Eigentum in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. (Hartmann, Soziale Ungleichheit – Kein Thema für Eliten?, 2013) Diese Definition ist allerdings sehr dehnbar.
Denn niemand kennt die Superreichen genau und keiner, schon gar nicht die Steuerbeamtin vom Finanzamt, weiß, wie viel sie eigentlich besitzen, welche Hebel ihnen also zur Verfügung stehen. Die Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft, die seit 30 Jahren die Lebensverhältnisse in Deutschland abfragen und sie zu einer Langzeitstudie, dem Sozio-Ökonomischen Panel, aneinanderlegen, sind selbst unsicher, ob die reichsten ein Prozent der Bevölkerung – das entspricht 400.000 Haushalten – noch ein Fünftel oder doch schon ein Drittel des gesamten Vermögens, das heißt aller Immobilien, Wälder, Gelder, Unternehmen et cetera besitzen (Westermeier & Grabka, 2015). Bei den Superreichen konzentrieren sich also bis zu zwei Billionen Euro – eine Zahl mit zwölf Nullen und ungefähr das Siebenfache dessen, was der Staat für die restlichen 99 Prozent seiner Bürger pro Jahr zum Ausgeben hat.
In der Liste der reichsten Deutschen, die das Manager Magazin jährlich veröffentlicht, tauchen die Familien Reimann, Herz, Kühne, Rethmann, Schleicher auf – dem Namen nach könnte es sich auch um die Nachbarn aus der Wohnung im Parterre links handeln. Mit Prominenz sollte man den Begriff der Elite also am besten nicht verwechseln.
Auch die Liste jener, die qua Amt in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen, scheint recht lang zu sein. Ist es der einzelne Spitzenpolitiker wie ein Bundesfinanzminister, der darüber wacht, dass keine neuen Schulden im Bundeshaushalt auftauchen, und der damit den Ausgabegelüsten seiner Kollegen rigoros entgegentritt? Oder sind es nicht auch die 630 gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die den Bundeshaushalt erst einmal beschließen müssen? Sind es Konzernlenker wie der Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größtem Energiekonzern E.ON Johannes Teyssen, der Millionen Deutsche ins Schwitzen bringt, wenn er eine Erhöhung der Strom- und Gaspreise ankündigt? Oder gehören nicht auch die Aktionäre von E.ON in den Kreis der Elite, die Eigentümer des Konzerns, die in der Hauptversammlung für oder gegen Teyssens Kurs stimmen? Und sorgt nicht auch der Fußballnationaltrainer für erhebliche gesellschaftliche Stimmungsschwankungen, wenn er die Mannschaftsaufstellung für die nächste Weltmeisterschaft bekannt gibt?
In den Untersuchungen zur Elite in...