1. Über Trauma
(Mit Kate M. Iverson)
Die Welt ist voller Leid, aber auch voller Menschen, die es überwunden haben.
Helen Keller
1.1 Was ist ein Trauma?
Seit Erfindung der Schrift gibt es Zeugnisse verschiedener Arten von schmerzhaften traumatischen Ereignissen. Männer und Frauen haben Naturkatastrophen und Kriege durchgestanden, Verluste hingenommen oder wurden Opfer von Gewalttaten.
Ein Trauma kann jeder Mensch erleben. Verwendet wird die Bezeichnung „Trauma“ meist im Zusammenhang mit Situationen, in denen man dermaßen stark bedroht, verängstigt, hilflos und entsetzt ist, dass man unter extrem hohem Stress steht (APA, 2003). Dabei handelt es sich um ganz unterschiedliche Situationen, unter anderem um folgende:
- sexueller oder körperlicher Missbrauch in der Kindheit,
- emotionale, sexuelle oder körperliche Misshandlungen durch den Partner oder die Partnerin,
- sexualisierte Gewalt,
- Vergewaltigung,
- körperliche Gewalt,
- schwere Autounfälle,
- Folter,
- Krieg,
- Brände,
- Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Überschwemmungen und Erdbeben,
- Zeuge eines schlimmen Ereignisses sein, das jemand anderem zustößt.
Die Vielfalt der Traumafolgen beschränkt sich nicht auf die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (Follette & Ruzek, 2006; Herman, 2003). Viele Betroffene leiden nach dem Trauma unter Problemen, die sie zuvor nicht hatten und deren Schweregrad sich auf einem Spektrum oder Kontinuum von geringfügig bis sehr ausgeprägt bewegt. Wie inzwischen bekannt ist, häufen sich die Traumafolgen zudem an, mit anderen Worten: je mehr Traumatisierungen, desto mehr Probleme. Wenn Sie also schon mehrere Traumata erlitten haben, heißt das nicht, dass Sie sich einfach daran gewöhnen werden.
Trotz einiger Gemeinsamkeiten, die sich inzwischen herauskristallisiert haben, sind die psychischen Folgen eines Traumas von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. [Achten Sie an dieser Stelle auf Ihren Atem. Wie in der Einleitung bereits gesagt wurde, soll das Zeichen der Glocke Sie daran erinnern, einen Moment lang innezuhalten, um wahrzunehmen, was gerade mit Ihnen passiert. Nehmen Sie Ihre Reaktionen, um welche es sich auch immer handeln mag (zum Beispiel Ihren Atem, Ihre Gedanken oder Gefühle), im Stillen zur Kenntnis oder schreiben Sie darüber, indem Sie die Leerzeilen am Kapitelende nutzen]. Bei manchen kommt es besonders in schwierigen Lebenssituationen zu wiederkehrenden Episoden einer psychischen Störung. Die einen leiden gleich nach dem Trauma unter leichten Anpassungsstörungen, erholen sich dann aber vollständig, ohne dass sich weitere Probleme im Zusammenhang mit der Traumatisierung zeigen. Bei anderen treten die Symptome ebenfalls gleich nach dem Trauma auf, verschlechtern sich dann über viele Jahre immer mehr, was schließlich in komplexe und chronische Störungen mündet.
Obwohl in den vergangenen 30 Jahren im Bereich der Psychotraumatologie viele neue Erkenntnisse gewonnen wurden, hat man noch nicht genug getan, um sie denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie am nötigsten brauchen. Wie Sie vielleicht aus eigener Erfahrung wissen, kostet es einige Überwindung zuzugeben, wenn man im Leben Probleme hat, zumal wenn man ein Trauma erlebt und Angst davor hat, dass die anderen einen nicht verstehen. So haben gerade Traumaüberlebende Schwierigkeiten, über ihre Probleme zu reden, weil oft die anderen mit dem, was sie durchgemacht haben, scheinbar gar nichts anfangen können und keinen Zugang dazu haben. Dabei sind traumatische Erfahrungen doch viel häufiger, als man denkt. Warum also wird so selten darüber gesprochen? Weil man sich abgewertet und wie gelähmt fühlt, wenn man von anderen Dinge zu hören bekommt (oder es sich gar selber sagt) wie: „Jetzt komm endlich mal darüber hinweg“ oder: „Denk einfach nicht dran.“ (Wenn die Heilung von einem Trauma doch nur so einfach wäre!) Oder wenn man direkt oder indirekt zu spüren bekommt, dass die anderen von dem, was man erlebt habt, lieber nichts hören wollen.
Obwohl das Thema Trauma und seine Folgen zunehmend von den Medien aufgegriffen wird, ist das Reden über ein erlittenes Trauma immer noch mit einem erheblichen Stigma behaftet. Infolgedessen haben viele Traumaüberlebende das Gefühl, schlechter mit ihrem Trauma fertig zu werden als andere Menschen mit ähnlichen Belastungen, und befürchten, dass sie verrückt werden, es nicht packen oder innerlich zerbrochen sind. Leider haben viele Menschen, selbst diejenigen, die beruflich damit zu tun haben, Angst oder keine Lust, über traumatische Ereignisse zu sprechen. Vielleicht haben auch Sie noch niemandem, auch nicht denen, die es wirklich gut mit Ihnen meinen, von Ihrer traumatischen Erfahrung erzählt und sie daran teilhaben lassen, weil Sie keine gute Erfahrung damit gemacht haben. Selbst Lebensgefährten, Eltern, Therapeuten, Verwandten oder sogar Ihren besten Freunden fällt es schwer zu verstehen, was Sie durchgemacht haben. Es ist jedoch sehr wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass Sie nicht verrückt werden, weder ein Schwächling noch innerlich zerbrochen sind. Die Probleme, unter denen Sie als Folge der Traumatisierung leiden, sind weitverbreitet.
1.2 Die Wahrheit über Trauma: Sie sind nicht allein
Dass Traumatisierungen so häufig sind und derartige Auswirkungen auf Einzelne, Familien und sogar die ganze Gesellschaft haben, wird oft gar nicht für möglich gehalten, weil dieses Thema von einigen langlebigen Mythen verschleiert wird. Auf diese Mythen wollen wir im Folgenden kurz eingehen.
Mythos 1: Traumatische Erfahrungen sind außergewöhnlich
Es ist geradezu erschreckend, wie verbreitet Traumatisierungen sind. Über 70 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenenbevölkerung erleiden irgendwann einmal in ihrem Leben ein Trauma (Breslau, 2002). Obwohl sich die vielen verschiedenen Methoden und Definitionen der Prävalenzforschung zum Teil widersprechen, geht daraus klar hervor, dass die Rate traumatischer Erfahrungen sehr hoch ist. Früher betrachtete man ein Trauma als ein isoliertes, für das normale Leben nicht typisches Ereignis. Inzwischen weiß man jedoch, dass viele Menschen jährlich von Trauma betroffen sind.
[Kommen bei Ihnen in diesem Moment irgendwelche Gedanken oder Gefühle hoch?]
Mythos 2: Wenn man nur stark genug ist, kommt man über ein Trauma hinweg
Gegen ein Trauma ist jeder Mensch machtlos, auch vor dessen Folgen gibt es keinen Schutz. Worin Menschen sich unterscheiden, ist der jeweilige Schweregrad der Probleme oder Symptome, die bei der Bewältigung eines traumatischen Ereignisses auftauchen. Diese werden wir später in diesem Kapitel noch ausführlich besprechen. Der Schweregrad der Symptome hängt jedenfalls von einer Reihe von Faktoren ab, etwa von früheren traumatischen Erfahrungen, der angeborenen Stressresistenz, dem wahrgenommenen Schweregrad des Traumas und vor allem von der Art der Unterstützung durch Familie, Freundinnen und professionellen Helferinnen (Herman, 1992). Die Genesung von einem Trauma ist ein komplexes Thema, das weiterhin im Brennpunkt der Forschung steht.
Mythos 3: Alle Traumaüberlebenden brauchen Psychotherapie
Warum schaffen es manche Menschen, sich von der Belastung und den Problemen eines Traumas oder Unglücks zu erholen und danach wieder aufzublühen? Welche Fähigkeiten oder Qualitäten besitzen sie? Noch immer sucht man nach den Antworten auf diese Fragen. Hier, wie auch an vielen anderen Stellen finden wir zwei verschiedene, scheinbar einander widersprechende Ansichten, die jedoch beide zutreffen. Denn einerseits muss ein Trauma trotz seiner vielen weitverbreiteten Folgen grundsätzlich nicht Ihr Leben zerstören. Andererseits tragen Sie keine Schuld an den Problemen, die Sie belasten. Und außerdem ist die Definition der Heilung etwas Subjektives und wird für alle Betroffenen, alle Leser und Leserinnen dieses Buches unterschiedlich ausfallen.
Unserer Überzeugung nach haben Sie die Kraft, durch Ihre Entscheidungen ein zufriedenes und sinnvolles Leben zu führen. Mit dem Begriff „Resilienz“ beschreibt man die Fähigkeit eines Stoffes, nach einer Verformung elastisch wieder zu seiner ursprünglichen Form zurückzufinden. Diese Resilienz, d. h. Widerstandskraft, besitzen auch Menschen, in diesem Zusammenhang jene, die nach einem Trauma wieder auf die Füße kommen. Allerdings deckt dieser Begriff nicht den Heilungsprozess ab, durch den man allmählich zum früheren Funktionsniveau zurückfindet. Resilienz heißt ja nicht, dass ein Trauma für Sie keine schwere Belastung darstellt oder keinerlei Spuren bei Ihnen hinterlässt, sondern dass Sie trotz dieser Hindernisse den Willen und die Fähigkeit haben, nach vorne zu schauen und Ihr Leben anzupacken. Gewiss könnten Sie über Ihre vergangene Erfahrung noch hinauswachsen und später sogar ein zufriedenes Leben führen. [Kommen Ihnen gerade irgendwelche Gedanken oder Gefühle? Geht Ihr Puls schneller oder hat sich Ihr Atemrhythmus verändert?]
Schon dass Sie dieses Buch in der Hand halten und bereit sind, an einer Lebensveränderung zu arbeiten, ist ein Zeichen dafür, dass Sie die Fähigkeit haben, von Ihrer traumatisierenden Erfahrung zu genesen: Sie haben gemerkt, dass Sie allein nicht zurechtkommen, und dann Schritte unternommen, um sich Hilfe zu holen.
Für alle Übungen in diesem Buch empfiehlt es sich, dafür zu sorgen, diese in Papierform vorliegen zu haben.
Übung 1.1: Erkennen Sie Ihre eigene Stärke
Für Ihre Genesung ist es wichtig, dass...