Kapitel 1
In den Fängen des Terrors
Am 22. März 2016, kurz nach acht Uhr morgens, überschlagen sich die Meldungen in den sozialen Medien. Rasch wird klar, dass wir nun an der Reihe sind. Bombenanschläge auf den Flughafen und in der Brüsseler U-Bahn, 35 unschuldige Menschen kommen dabei ums Leben, 305 werden verletzt, es ist das blutigste Massaker in unserem Land seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach Paris war dies der nächste schwere Anschlag von IS-Anhängern auf europäischem Boden, und es war leider nicht ihr letzter. Es folgten Nizza, Saint-Étienne-du-Rouvay, München, Orlando, Istanbul, Dhaka, Bagdad … Es scheint weltweit kein Ende nehmen zu wollen.
New York, 9/11
9/11, der Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001, markierte eine Zeitenwende. Davor war der islamische Fundamentalismus der Taliban, al-Qaida und so weiter etwas gewesen, das es nur in weit entfernten, fremden Ländern gab. Der islamistische Terror hatte sich hauptsächlich in Afghanistan, einem gescheiterten Staat, abgespielt ‒ mit ein paar terroristischen Metastasen in einigen afrikanischen Ländern und im Nahen Osten.
Nach 9/11 schlich sich die Bedrohung jedoch immer näher heran. In den Jahren 2004 und 2005 wurden wir durch Anschläge in den U-Bahnen von Madrid und London brutal aufgeschreckt. Die Bilanz: 243 Tote und mehr als 2500 Verletzte. Mit dem «Arabischen Frühling» überstürzten sich dann die Ereignisse. Er begann Ende 2010 als Aufstand gegen Diktatur und Unterdrückung. Erstmals stand in zahlreichen arabischen Ländern eine neue, junge Generation auf, die entschlossen mehr Freiheit forderte. Doch das Fehlen demokratischer Traditionen spielte diesen Revolutionen schon bald einen Streich. Die diktatorischen Regime hatten jahrzehntelang die Bildung von Parteien und die Entstehung von Interessenverbänden verhindert, sodass die Menschen nun ohne Organisationen dastanden. Die massive Arbeitslosigkeit und die Armut stellten zudem einen perfekten Nährboden für die Verfechter radikaler Lösungen dar, den die Extremisten begierig nutzten. Die Folgen sehen wir heute, an erster Stelle in Libyen, im Irak und in Syrien. Im letztgenannten Land versuchte Diktator Baschar al-Assad den Protest nach altbewährtem Muster mit brutaler Gewalt zu unterdrücken. Was folgte, war ein Bürgerkrieg, der sich zu einer Hölle mit Hunderttausenden von Toten und Millionen von Flüchtlingen auswuchs. Die zahlreichen ethnischen, politischen und religiösen Bruchlinien machen den Konflikt hoffnungslos komplex. In dieser wirren Gemengelage drang der IS 2014 vom Irak aus, wo er bereits einige Jahre aktiv gewesen war, nach Syrien vor und machte sich auch dort breit. Am 29. Mai dieses Jahres rief er das Kalifat unter der Führung von Abu Bakr al-Baghdadi aus. So schaffte es der IS in die internationale Presse und an die Spitze des gewalttätigen islamischen Fundamentalismus. Muslime in der ganzen Welt wurden aufgerufen, das Kalifat anzuerkennen und es aktiv zu unterstützen.
Terror auf europäischem Boden
Seit 2013 ist der gewalttätige Extremismus ein unmittelbares Problem für uns, mit Jugendlichen, die von hier stammen. Anfangs sympathisierten sie mit dem Arabischen Frühling und wollten zusammen mit anderen gegen den Diktator Assad kämpfen. Eine ganze Reihe von Meinungsführern aus Politik und Gesellschaft äußerte sich beschönigend: Manchmal wurden diese Jugendlichen als Freiheitskämpfer bezeichnet, und man zog Parallelen zu den internationalen Freiwilligen, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschisten Franco gekämpft hatten. Doch die Sympathien vieler (potenzieller) Kämpfer, die unser Land Richtung Syrien verließen, richteten sich schon bald auf die eher extremistischen Gruppierungen, in erster Linie den IS. Mit raffinierter Agitation und Propaganda versuchten diese Gruppen, in Europa neue Anhänger zu rekrutieren. Tausende Jugendliche strömten ihnen zu. Sie wurden als Kanonenfutter benutzt, indoktriniert und trainiert und als Kämpfer in einem bestialischen Krieg ohne Regeln eingesetzt.
Inzwischen sorgen Koalitionen aus vor Ort kämpfenden Parteien in einer Vielzahl von Ländern, unter ihnen auch dem unseren, für immer mehr Kontra. Seit der IS militärisch in die Defensive gedrängt wird und in seinem Kerngebiet an Terrain verliert, hat er die Strategie deutlich geändert und seine Terroranschläge auf Europa ausgeweitet. Mit dem Blutbad im Jüdischen Museum in Brüssel (24. Mai 2014), den zwölf Toten beim Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo (7. Januar 2015) und dem Massaker im Pariser Konzerthaus Bataclan (13. November 2015) hat die Barbarei auch hier zugeschlagen und scheint nicht mehr zu stoppen zu sein. Mit Soldaten auf der Straße, Polizisten, die kugelsichere Westen tragen, öffentlichen Sicherheitsstufen 3 und 4 sowie endlosen Kontrollen auf dem Flughafen befinden wir uns im Griff des Terrors. Viele Menschen haben Angst, fühlen sich machtlos und sind zugleich wütend.
Militärisch chancenlos
Es ist verführerisch, von einem Weltenbrand oder einer Kriegssituation zu sprechen – es gibt nun einmal Parallelen. Dennoch haben die Herausforderer in militärischer Hinsicht keinerlei Chance gegen die internationale demokratische Rechtsordnung. Jüngsten Schätzungen des CIA und des britischen Nachrichtendienstes zufolge verfügt der IS über nicht mehr als 19.000 bis 25.000 Kämpfer. Die russische Verteidigung schätzt ihre Zahl ein gutes Stück höher ein, nämlich auf 70.000. Die Terrororganisation hat keine eigene Luftwaffe und verfügt lediglich über einige Panzer. Laut der belgischen Nachrichtenwebsite newsmonkey leben kaum einmal 2,3 Millionen Menschen in den Gebieten, die der IS im Irak und in Syrien kontrolliert, und Newsweek meldet, dass das gesamte Jahresbudget des IS nur etwa zwei Milliarden Euro beträgt.
Dem steht die Europäische Union mit 1,8 Millionen Soldaten gegenüber. Der gesamte NATO-Verband zählt sogar 3,19 Millionen Personen in Uniform – eine erdrückende Übermacht mit zudem überlegenen Waffen. Jährlich geben die NATO-Staaten 900 Milliarden Euro für Verteidigung aus. Der Grund, weshalb es so lange dauert, den IS auf seinem Gebiet auszuschalten, hat demzufolge keine militärischen, sondern ausschließlich politische Ursachen. Die internationale Gemeinschaft will Lehren aus dem Desaster ziehen, in das der Krieg gegen Saddam Hussein geführt hat. Saddams Armee – die als eine der stärksten der Welt bekannt war – wurde innerhalb kürzester Zeit von den Amerikanern und ihren Verbündeten pulverisiert. Doch aus den Trümmern erstanden im Nu terroristische Organisationen, die den gesamten Krieg als Imperialismus abtaten, als eine ausländische Invasion und Besatzung, als Krieg gegen den Islam und somit gegen alle Muslime. Gleichzeitig zeigte sich, dass der Aufbau eines neuen, glaubwürdigen Staatsapparats, der die Legitimität der Bevölkerung genoss, sehr viel schwieriger war als gedacht. Man hütet sich beim Kampf gegen den IS also vor (zu viel) direkter Einmischung. Die Arbeit muss von den Menschen vor Ort, wie den Kurden oder der irakischen Befreiungsarmee, selbst geleistet werden, die Hilfe «beschränkt» sich auf Waffenlieferungen, Ausbildung, Unterstützung bei der Logistik und bei Bombardements aus der Luft. Eine hinzukommende Schwierigkeit ist natürlich die Position der Russen, die Assad weiterhin öffentlich stützen und darin so weit gehen, dass sie die Opposition gegen den Diktator bombardieren – auch wenn es sich dabei um Verbündete im Kampf gegen den IS handelt. Es gibt Rivalitäten zwischen dem Iran und Saudi-Arabien um die Führungsmacht in der Region: Die einen verstehen sich als Wegbereiter für die Schiiten, die anderen als Bollwerk für die Sunniten. Die Türkei, ein Nachbarland sowohl des Iraks als auch Syriens, befindet sich schließlich in einer besonderen Situation. Das Land ist Mitglied der NATO, steht jedoch seit dem Amtsantritt Erdoğans als Präsident der Türkei (und vor allem nach dem Putschversuch im Sommer 2016) im Konflikt zu einer ganzen Reihe von europäischen Staaten und den USA. Außerdem würde es das Land nicht gern sehen, wenn, wo auch immer, ein autonomes Kurdengebiet entstünde, denn das würde den Kurden und der Separatistenbewegung der PKK zusätzliche Motivation verschaffen und ihnen weiteren Zündstoff liefern. Deshalb sabotieren die Türken die Schlagkraft der kurdischen Kämpfer gegen den IS. Doch selbst in dieser...