|21|Kapitel 3
Symptomatik, Komorbidität und Verlauf
3.1 Symptomatik
Abergläubisches Verhalten, magisches Denken und ausgeprägte Rituale sind besonders bei Kindern in der Entwicklung häufig zu beobachten. Dabei beziehen sich die kindlichen Rituale sehr stark auf Alltagssituationen, wie z. B. das Zubettgehen, das Essen oder das Anziehen. Ritualisiertes Verhalten im Kindesalter hat seinen Altersgipfel um das zweite Lebensjahr und nimmt mit zunehmendem Alter deutlich ab.
Mit den störungsspezifischen Zwangsritualen haben die kindlichen Rituale die Hartnäckigkeit, mit der auf die exakte Durchführung geachtet wird, gemeinsam und auch die Situationen des täglichen Lebens, in denen sie auftreten. Zwangsrituale als Krankheitssymptome entstehen häufiger erst um das 6. bis 8. Lebensjahr herum. Sie werden also zu einem Zeitpunkt manifest, zu dem die kindlichen Rituale deutlich rückläufig sind. Zwangsrituale werden in diesem Alter oft schon als ich-dyston, belastend und quälend erlebt. Kindliche Rituale sind hingegen entwicklungsbezogene Verhaltensweisen, die positiv von den Kindern erlebt werden und durchaus zu einer normalen emotionalen und sozialen Entwicklung gehören. Bisher konnte auch in der Literatur kein Kontinuum von kindlichen Ritualen zu Zwangsritualen belegt werden. So zeigte sich in einer Studie von Leonard et al. (1990), dass Kinder mit einer Zwangserkrankung und deren Eltern nicht häufiger als Kontrollprobanden kindliche Rituale und abergläubisches Verhalten angaben.
Die Symptomatik einer Zwangsstörung ist oft vielschichtig, komplex und individuell sehr unterschiedlich. Meist treten bei einem Betroffenen mehrere Zwangshandlungen und Zwangsgedanken kombiniert auf (Nissen et al., 2017) und sind funktional miteinander verbunden. Die unsinnigen Befürchtungen können abergläubischen oder magischen Inhalt haben. Manche – meist differenziertere – Betroffene, entwickeln ein für Außenstehende geradezu groteskes Gebäude von miteinander verwobenen, bizarren Zwangsphänomenen. Ein früher Erkrankungsbeginn ist assoziiert mit höheren Vorkommen von „Unvollständigkeitserleben“ (Summerfeldt, 2004) und dem Vorkommen von sogenanntem „Not-just-right“-Erleben (Ghisi et al., 2010).
Zwangsgedanken
Bei den Zwangsgedanken handelt es sich um Gedanken, Bilder, Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich dem Erkrankten gegen seinen Willen aufdrängen und ihn immer wieder beschäftigen und Ängste auslösen. Meist sind es zwanghafte Befürchtungen, die sich inhaltlich auf Verschmutzung, Bakterien, Infektionen, Symmetrie, Genauigkeit oder das Sammeln von Gegenständen beziehen. Auch können sich Vorstellungen und Bilder aggressiver, sexueller oder religiöser Natur dem Bewusstsein aufdrängen (Rasche-Räuchle et al., 1995). Im Unterschied zur psychotischen Symptomatik werden Zwangsgedanken als eigene und nicht als von außen kommende oder durch andere eingegebene Gedanken erlebt. Bei Kindern und Jugendlichen sind die Vorbehalte gegen Schmutz, infektiöse Keime und Umweltgifte häufiger als Sorgen im Hinblick auf Unfälle, Tod oder Krankheit (Swedo et al., 1989; Kalra & Swedo, 2009).
Nicht jeder Gedanke, der im Rahmen einer Zwangsstörung auftaucht, ist ein Zwangsgedanke. Es kann auch eine „kognitive Zwangshandlung“ sein. Entscheidend für die Einordnung des Gedankens ist die Funktionalität: Löst der Gedanke Angst aus, ist er ein Zwangsgedanke, reduziert er aber die Angst, dient der Gedanke der Neutralisierung und ist somit als eine Zwangshandlung einzuordnen.
|22|Merke
Kinder und Jugendliche erleben Zwangsgedanken wie folgt:
Die Gedanken beschäftigen sich oft mit der Sorge, sich selbst oder jemand anderen einen Schaden zu zufügen.
Der Inhalt der Zwangsgedanken ist oft sehr belastend und wirkt angesichts dessen, was im normalen Leben passiert, überzogen und übertrieben.
Die häufig auftretenden Gedanken lösen Anspannung, Sorge, Angst, Unbehagen oder manchmal auch Ekel aus.
Die Gedanken kommen immer wieder und lassen sich nicht verdrängen oder unterdrücken.
Sie spiegeln nicht die eigene Meinung oder Haltung wieder, sondern werden als fremd, abscheulich oder peinlich erlebt.
Tabelle 1 zeigt das prozentuale Vorkommen der Inhalte von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Aufgrund des schon erwähnten Schamgefühls ist davon auszugehen, dass gerade Zwangsgedanken, bei denen es um aggressive und sexuelle Inhalte geht, wahrscheinlich zu selten erhoben werden, da die Kinder und Jugendlichen sie häufig nicht angeben. Sehr viel seltener sieht man gerade bei Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen isolierte Zwangsgedanken (Wewetzer, 2004).
Am häufigsten finden sich Zwangsgedanken, die das Thema Verschmutzung/Kontamination sowie aggressive Gedanken zum Inhalt haben. Bei den Zwangshandlungen stehen Wasch-/Reinigungshandlungen sowie Kontrollhandlungen im Vordergrund (Agarwal et al., 2017). Eine genaue Auflistung möglicher Zwangsgedanken und Zwangshandlungen findet sich in Tabelle 1.
Tabelle 1: Inhalte von Zwangsgedanken und Formen von Zwangshandlungen bei Kindern und Jugendlichen (n = 55, Mehrfachnennung möglich, nach Jans et al., 2007; n = 64, nach Mancebo et al., 2008)
Inhalte von Zwangsgedanken | Verschmutzung | 42 % | 62 % |
Aggressive oder sexuelle Gedanken | 26 % | 24 % |
Symmetrie oder Ordnung | 20 % | 62 % |
Dass etwas Schlimmes passiert | 20 % | 52 % |
Ekel vor Ausscheidungen | 13 % | |
Furcht, andere zu verletzen | 13 % | |
Sonstige Zwangsgedanken | 26 % | |
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