Die Umkehr
Das Etagenbett stand mitten im Zimmer. Eine hohe Absturzsicherung aus weiß lackierten Metallstäben sorgte dafür, dass vom oberen Bett niemand herunterfallen konnte. Die Decken und Kissen waren mit bunter Bettwäsche bezogen. Neben der Tür standen ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Kleiderschrank, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Kommode. Ein Fenster gab den Blick auf einen Rasen und einen Wohnblock aus rötlichem Backstein frei, der ganz genauso aussah wie alle anderen Häuser hier. Das Sims war so niedrig, dass man einfach durchs Fenster steigen und sich draußen ins Gras fallen lassen konnte. An den Möbeln klebten Zettel mit zierlichen Schriftzeichen, die mit Bleistift vorgeschrieben und mit blauem Filzstift nachgezogen worden waren: Bett. Fenster. Stuhl. Tisch. Schrank. Tür. Die Tapete über der Kommode war übersät mit solchen Zetteln. Groß, klein, hoch, niedrig, warm, kalt, arm, reich. Die arabischen Wörter waren kunstvoll aufgemalt, offensichtlich von einem Anfänger der Sprache, denn hier und da waren Buchstaben verwechselt. Die Übersetzung ins Norwegische war jeweils richtig geschrieben, aber nur dünn mit Bleistift danebengekritzelt.
Aufgehängt hatte die Zettel die jüngere Schwester, die im Etagenbett oben schlief. Sie zierten nicht nur das Mädchenzimmer, sondern waren überall in der Wohnung verteilt: Lampe. Sofa. Vorhang. Regal. Der Arabischkurs begann mit weltlichen Dingen, zielte jedoch auf etwas Geistliches ab – die Lektüre des Korans, wie er dem Propheten Mohammed offenbart worden war.
Ich. Er. Wir. Ich bin. Er ist. Wir sind. Allahu akbar. Gott ist groß. Gott ist größer. Führe uns auf den rechten Weg!
An diesem Oktobermorgen war Leila früher als sonst die Leiter des Etagenbetts hinuntergestiegen. Sie zog sich ein bodenlanges Kleid an und ging zu ihrer Mutter in die Küche, die sich gleich im Nebenzimmer befand. Sara wachte morgens immer als Erste auf. Dann kroch sie leise aus dem Ehebett und schlich sich vorsichtig aus dem Schlafzimmer, um Sadiq nicht zu wecken. Erst wenn er ihre Wärme nicht mehr spürte, wenn es im Bett kälter geworden war und er zu frösteln begann, wachte auch er auf.
Sara stand gedankenversunken am Frühstückstisch. Überrascht blickte sie zu ihrer Tochter auf, die in der vergangenen Woche sechzehn geworden war. Leila hatte die Statur ihres Vaters: schlank, hochgewachsen, langgliedrig.
»Soll ich dir helfen, die Jungs fertig zu machen?«, bot sie an.
»Hast du heute keine Schule?«, fragte die Mutter.
»Doch, doch. Ich dachte nur, du könntest vielleicht etwas Hilfe brauchen …«
»Das schaffe ich schon allein, mach du dich ruhig selbst fertig.«
Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester, die im Haushalt regelmäßig mit anpackte, war Leila normalerweise nicht gerade die Hilfsbereiteste. »Königin der Faulpelze« nannte ihr Vater sie immer.
Sara ging an ihrer Tochter vorbei in das Zimmer der kleinen Brüder Isaq und Jibril, die sechs und elf Jahre alt waren. Sie weckte die beiden behutsam, half ihrem Jüngsten beim Anziehen und kam anschließend mit ihnen in die Küche.
Dort stand Sadiq mittlerweile am Herd.
Die braunen Bohnen hatte er schon am Vorabend eingeweicht. Nun dünstete er in heißem Öl eine fein gewürfelte Zwiebel, gab ein paar Knoblauchzehen, noch etwas Öl, eine in Streifen geschnittene rote Paprika und Gewürze hinzu und wartete, bis das Ganze etwas Farbe angenommen hatte. Dann mischte er die Bohnen darunter, ließ die Masse eine Weile auf mittlerer Hitze köcheln und pürierte sie schließlich mit dem Stabmixer. Den fertigen Brei schöpfte er auf einen großen Teller und gab zum Schluss noch ein paar goldgelbe Spiralen Olivenöl darüber.
Isaq und Jibril waren noch nicht ganz wach und setzten sich schwerfällig an den Küchentisch. Häppchenweise tunkten sie Brot in das Bohnengericht und schoben sich die Stücke in den Mund, wobei Isaq wie immer kleckerte. Bei Jibril ging so gut wie nichts daneben.
Leila schlich um den Tisch, auf dem auch eine Kanne Schwarztee mit Kardamomsamen stand.
»Willst du dich nicht setzen?«, fragte der Vater.
»Nein, ich faste«, antwortete die Sechzehnjährige.
Sadiq fragte nicht weiter nach. Leila und ihre große Schwester Ayan, die gerade ins Bad gegangen war, hielten sich streng an die Fastenzeiten. Für Frauen waren religiöse Rituale während ihrer »unreinen« Tage tabu, doch die Mädchen holten die verlorene Zeit so schnell wie möglich nach. Am liebsten montags und donnerstags, denn an diesen Tagen hatte der Prophet Mohammed ebenfalls gefastet. Heute war Donnerstag.
Der Ramadan hatte sie dieses Jahr auf eine harte Probe gestellt, denn der Fastenmonat war auf den Juli gefallen, und da ging die Sonne erst nach zweiundzwanzig Uhr unter und nur wenige Stunden später wieder auf. Die Phasen ohne etwas zu essen oder zu trinken waren lang gewesen. Jetzt, im Oktober, im Dhū l-Hiddscha – dem Pilgermonat –, fasteten die Mädchen erneut und hatten ihren Gebetsrhythmus intensiviert. Es war die heiligste Zeit im islamischen Kalender, ideal für den Hadsch, die Wallfahrt nach Mekka. Gute Taten zählten jetzt mehr denn je.
Ismael, der sich in der Geschwisterreihe genau zwischen Ayan und Leila befand, erschien mit einem Handtuch um die Hüften in der Küche. Er war auf dem Weg ins Bad, wo Ayan soeben fertig geworden war. Wenn er so halb nackt durch die Wohnung stolzierte und dabei seinen Schwestern begegnete, rempelte er sie gern wie aus Versehen an. »Lass das!«, riefen sie dann. »Mama, er ärgert uns!«
Zwischen den drei Jugendlichen im Haus – der neunzehnjährigen Ayan, dem achtzehnjährigen Ismael und der sechzehnjährigen Leila – lagen mittlerweile Welten. Ismael habe nichts als Fitnesstraining, Ausgehen und Computerspiele im Kopf, meinten die Schwestern. Sie fanden es peinlich, dass er sich nie in der Moschee blicken ließ. Das falle schließlich auf. »Du bist überhaupt kein Muslim!«, hatte Ayan ihm an den Kopf geworfen und von ihrer Mutter verlangt, ihn vor die Tür zu setzen. Mit jemandem, der nicht bete, könne sie nicht unter einem Dach leben.
»Er ist nur ein bisschen verwirrt«, hatte die Mutter sie zu beruhigen versucht.
»Schmeiß ihn raus!«
»Im Sommer nehme ich ihn mit zu einem Scheich in Hargeysa«, erwiderte die Mutter. »Der soll mal mit ihm reden, ein paar Gebete für ihn lesen …«
Ayan hatte in den geschwisterlichen Auseinandersetzungen stets die führende Rolle übernommen. Leila schloss sich ihr in der Regel an, doch am Vorabend, als Ismael vom Training gekommen war und gerade seine Tasche im Flur abstellen wollte, war sie plötzlich auf ihn zugestürmt und hatte ihn überschwänglich umarmt.
»Ach, Ismael! Du hast mir so gefehlt!«
»Hä? Ich war doch nur ein paar Stunden weg …«
»Wo warst du denn?«
»Beim Training.«
»Und was hast du trainiert?«
»Äh … Oberkörper. Brust und Arme.«
Verstehe mal einer die Mädchen. Die ganze letzte Zeit hatte Leila die Krallen ausgefahren, und auf einmal war sie wieder so lieb und anhänglich.
Ismael zog sich ein Paar Jeans und ein Hemd an und ging zurück in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, an dem die Mädchen Aufkleber mit Weisheitssprüchen vom Islamic Cultural Centre Norway befestigt hatten, gleich neben einem Zettel mit der Aufschrift Thallādscha, dem arabischen Wort für Kühlschrank. Auf einem grünen Aufkleber, dessen Ränder schon etwas abstanden, als hätte ihn jemand abzuknibbeln versucht, stand: Allah sieht nicht deinen Wohlstand und Besitz, Er sieht dein Herz und deine Taten. Ein lilafarbener Aufkleber verkündete: Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinem Nachbarn kein Übel zufügen, er soll gastfreundlich sein und die Wahrheit sprechen, welche gut ist, und ansonsten schweigen (also nicht unsittlich oder schmutzig daherreden, lästern, lügen, Gerüchte verbreiten usw.).
Ismael schmierte sich im Stehen drei Scheiben Brot mit Makrele in Tomatensoße. Der Achtzehnjährige achtete darauf, stets ausreichend Proteine zu sich zu nehmen, und fand, dass seine Eltern zu viel Öl verwendeten und ihr Essen völlig zerkochten. Er legte Wert auf eine reine, gesunde und einfache Ernährung und hatte nichts für die somalischen Gewürzmischungen übrig.
Als er sich zu den anderen an den Tisch setzte, rempelte er seine kleinen Brüder spaßeshalber an. Isaq beantwortete die Attacke mit einem Clownsgesicht und schlug mit geballter Faust zurück, während Jibril sich nur abwandte und seinen großen Bruder bat, ihn in Ruhe zu lassen.
»Lass die Jungs in Frieden essen«, sagte Sara.
Langsam wurde es draußen heller, doch bis die Sonne über den Wohnblöcken im Osten aufging, dauerte es noch eine Weile.
Sadiq Juma war krankgemeldet. Er hatte Schmerzen in der Schulter, nachdem im Coca-Cola-Lager ein voller Getränkekasten auf ihn gestürzt war. In der kommenden Woche hatte er einen Termin bei einem Physiotherapeuten, an den ihn das norwegische Arbeits- und Sozialamt überwiesen hatte. Er hing seinen Gedanken nach. Seine Mutter zu Hause in Somaliland hatte sich schon länger nicht mehr gemeldet. Ob sie wohl krank war? Er würde sie später mal anrufen.
Im Zimmer der Mädchen fiel eine Schranktür zu, und etwas Schweres wurde verrückt. Ayan hatte im Frühjahr die weiterführende Schule beendet und half gerade in einem Büro aus, das älteren Menschen mit Bedarf an »praktischer Hilfe im Alltag« persönliche Assistenten vermittelte,...