1 Die Wohnungsfrage
Deutschland ist Mieterland. In München und Köln leben jeweils fast 75 Prozent aller Haushalte zur Miete, in Hamburg sind es 78 Prozent und in Berlin sogar 85 Prozent. Allein in den vier Millionenstädten Deutschlands leben 5,7 Millionen Einwohner in Mietwohnungen. Zumindest in den großen Städten ist die Mietwohnung der Standard der Wohnungsversorgung.
Kein Wunder, denn das Wohnen in einer Mietwohnung hat eigentlich enorme Vorteile. Was eine Mietwohnung so attraktiv macht? Die Gründe sind schnell aufgezählt: Im Vergleich zum Kauf eines Hauses oder einer Eigentumswohnung sind die Kosten überschaubar, und eine Mietwohnung kann man schnell wechseln, wenn sich die eigene Bedarfssituation ändert. Vor allem aber müssen sich Mieterinnen und Mieter nicht um die Verwaltung, Instandsetzung und Bewirtschaftung des Hauses kümmern. Wer zur Miete wohnt, ist von den Fesseln des Hausbesitzes befreit und kann seine Aufmerksamkeit und Zeit den wichtigen Dingen des Lebens widmen. Beste Bedingungen eigentlich für das sorgenfreie Wohnen.
Doch ist das Leben als Mieter tatsächlich einfach und sorgenfrei? Ist es ausreichend geregelt? Oder ist es ein einziger Wahnsinn?
Die Realität für viele Miethaushalte spricht eine eindeutige Sprache: Mieterhöhungen von über einhundert Prozent. Dubiose Immobilienfirmen drohen, bis der Mieter zögerlich die Wohnung freigibt. Energetische Sanierungen werden angekündigt, die keine Einsparungen bringen – jedenfalls nicht für den Mieter. Die Rede ist von fingierten Modernisierungsankündigungen, um einen Auszug zu provozieren. Wohnungseigentümer pochen auf ihren Eigenbedarf und versuchen, solvente Mieter nach Jahrzehnten aus ihren Wohnungen zu klagen. Man hört davon, dass Eigentümer, trotz erfolgter Nachzahlung eines umstrittenen Mietbetrages, eine Räumungsklage durchsetzen. Und nicht zuletzt gehören zum Mieteralltag Schimmel an den Wänden, Ratten im Treppenhaus, undichte Dächer und monatelang defekte Aufzüge in Hochhäusern.
In Zeitungsartikeln und Fernsehreportagen sind sie uns alltäglich vor Augen, diese Berichte über skrupellose Investoren, Miethaie, über unfähige Hausverwaltungen und zögerliche Stadtpolitiker. Das war nicht immer so, aber seit etwa fünf Jahren finden sich auch große Artikel und Reportagen zur Mietproblematik regelmäßig in den überregionalen Zeitungen.
Steigende Mietpreise, Verdrängung der ärmeren Haushalte an die Stadtränder und drohende Wohnungsnot in einzelnen Städten. Der Mietenwahnsinn hat inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass er den Weg sogar in den Wahlkampf gefunden hat. Die Politik hat das Thema für sich entdeckt. Vor den Wahlen um den Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus 2011 setzten alle Parteien gleichermaßen die Frage der steigenden Mieten ins Zentrum ihrer Kampagne. Die Plakate von Linkspartei bis CDU waren in ihrer Empörung über die drastisch gestiegenen Mieten kaum voneinander zu unterscheiden. In Nordrhein-Westfalen wurden in überparteilicher Einigkeit von einer Enquetekommission die negativen Folgen des Wohnungskaufs durch Finanzinvestoren kritisiert. Und im Vorfeld der letzten Bundestagswahl versprachen erst die SPD und später selbst die Kanzlerin eine »Mietenbremse«. Die Wohnungsfrage ist zurück auf der politischen Agenda.
Die Wohnungsfrage? Ist das nicht ein eigentlich längst abgeschlossenes Thema des letzten und vorletzten Jahrhunderts? Richtig. Die ersten wohnungspolitischen Diskussionen gehen zurück in die Zeit des schnellen Städtewachstums im Zuge der Industrialisierung. Damals begannen im 19. Jahrhundert bürgerliche Philanthropen und die Vertreter der gerade entstehenden Arbeiterbewegung Ideen für eine gerechtere und soziale Wohnungsversorgung zu entwickeln. Eine Reihe von bis heute bekannten Instrumenten wurden damals entwickelt: Genossenschaften und später staatliche Förderprogramme kurbelten den Wohnungsbau von preiswerten Arbeiterwohnungen an, das Mietrecht schützte erstmals die Familien vor dem willkürlichen Rauswurf aus der Wohnung, und immer strengere Bauauflagen setzten bessere Wohnverhältnisse durch.
Zu Beginn des 20. Jahrhundert schlug dann in vielen Städten die Stunde des öffentlichen Wohnungsbaus. Die Städte und Kommunen selbst gründeten Wohnungsbaugesellschaften, um gute und gesicherte Wohnverhältnisse für alle zu schaffen. Auch in der Nachkriegszeit war das so. Zudem konnten zumindest bei den Neubauten die meist unerträglichen Wohnverhältnisse der Mietskaserne überwunden werden, und die Utopie von »Licht, Luft und Sonne« wurde zum Standard für viele.
Auch die letzten größeren Auseinandersetzungen um die Wohnungsfrage liegen schon ein paar Jahrzehnte zurück. In den 1970er und 1980er Jahren mussten sich die Städte einer zentralen stadtpolitischen Herausforderung stellen: der zunehmend verfallenen Bausubstanz in den Innenstädten. Mit der Parole »Rettet unsere Städte jetzt!« forderte der Deutsche Städtetag Strategien und vor allem eine ausreichende Finanzausstattung für die Kommunen. Eine Veränderung der Förderrichtlinien ermöglichte fast flächendeckend umfangreiche Bauaktivitäten in den Innenstädten und die umfangreiche Sanierung der Altbaubestände. Der steigende Wohnflächenverbrauch, also der Anspruch der Mieter, eine immer größere Wohnung beziehen zu können, und ein wachsender Komfort stehen für die ständige Verbesserung der Wohnungsversorgung in dieser Zeit und gelten gemeinhin als Zeichen für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt und Wohlstand. Am Ende des letzten Jahrhunderts schien so etwas wie Überbelegung, Substandard und Eigentümerwillkür als Artefakte der Vergangenheit überwunden. Selbst der Sanierungsbedarf Hunderttausender Gründerzeitwohnungen in Ostberlin, Leipzig oder Görlitz wurde nach der Wende weitgehend bewältigt, und die Wohnungsfrage galt als beantwortet. Wenn in Medien und Öffentlichkeit Probleme des Wohnens aufgegriffen wurden, dann ging es meist um Leerstand und Rückbaupläne, wie die Abrissvorhaben im Sprachgebrauch der Behörden genannt werden.
Die ewige Wiederkehr
Doch wie in einer Zeitschleife werden wir heute erneut mit Themen konfrontiert, die viele für längst überwunden hielten: Steigende Mieten und Wohnungsnot in den Metropolen werden ebenso diskutiert wie die unhaltbaren Wohnbedingungen in einigen Großsiedlungen oder Phänomene der Überbelegung in den dicht bebauten Innenstadtvierteln.
Wer kennt sie nicht, die Geschichten über enorme Mietsteigerungen? Viele haben es am eigenen Leib erlebt, dass die von der Politik gesetzten Grenzen ausgereizt werden – der Vermieter im Gegenzug aber keinerlei Instandhaltungsmaßnahmen anstrengt. Egal, wo man hinschaut, ob auf neue Mietspiegel oder Wohnungsmarktberichte, auf inserierte Wohnungsangebote oder Statistiken über Bestandsmieten, ob Sozialmiete oder Entgelt fürs Luxusloft: Die Mietpreisentwicklung kennt nur eine Richtung – nach oben. Bundesweit – so zeigen es die Zahlen der Bulwiengesa AG – sind die Mieten seit Anfang der 1990er Jahre um fast 62 Prozent gestiegen: von 4,48 auf 7,25 Euro pro Quadratmeter. Gern wird argumentiert, der allgemeine Trend liege ja noch unterhalb der Inflationsrate. Doch die Inflationsrate ist nur für den Eigentümer das relevante Maß, wenn er den Realwert seiner Einkünfte vergleichen will. Was für die Mieter zählt, ist die Einkommensentwicklung, denn von dem Einkommen muss die Miete schließlich bezahlt werden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben sich die durchschnittlichen Haushaltseinkommen – unter Berücksichtigung veränderter Haushaltsgrößen – im selben Zeitraum um etwa 46 Prozent erhöht. Für die Mieter bedeutet dies: Aus 46 Prozent mehr Einkommen müssen 62 Prozent mehr Miete gezahlt werden. Im Durchschnitt!
Doch wie so oft verdeckt auch hier die Argumentation mit Durchschnittszahlen, welche Dramen sich daraus in der Realität ergeben. Insbesondere in den prosperierenden Städten wie München, Hamburg oder Stuttgart müssen sich die Bewohner seit langem auf steigende Preise einstellen – ob der private Geldbeutel da mitmacht oder nicht, wird nicht gefragt.
Mit Durchschnittsmieten im Bestand von 8 bis 11 Euro pro Quadratmeter müssen die Mieter in Köln, Hamburg, Frankfurt und München erhebliche Anteile ihres Einkommens für die Nettokaltmiete aufbringen. Hinzu kommen die steigenden Belastungen für Betriebskosten, Strom, Heizung und Wasser. Die Angebotsmieten liegen mit Preisen bis zu 16 Euro pro Quadratmeter in einigen Stadtteilen Münchens noch deutlich darüber.
Eine Wohnkostenkarte des Immobilien Verbandes Deutschland (IVD) zeigt, dass die Mietbelastung der Haushalte unabhängig von den Mietpreisen zwischen 18 und 24 Prozent des Nettoeinkommens liegt. Die Zahlen werden in der Regel benutzt, um die Gerechtigkeit der Mietwohnungsmärkte zu belegen: Die Mieten sind eben dort besonders teuer, wo die Menschen auch höhere Einkommen erzielen. Doch die Zahlen lassen sich auch anders interpretieren: Wo Mieten teuer sind, wohnen fast nur noch Haushalte mit hohen Einkommen. Die Mieten sind bezahlbar, denn ich kann sie ja bezahlen. Auch im Viersternehotel haben die Gäste in der Regel höhere Einkommen als die im...