Einleitung: Das afghanische Spiegelkabinett
Nicht jeder Blick in den Spiegel enthüllt die Wahrheit oder offenbart das ganze Bild. Im Falle des Afghanistaneinsatzes ist der Spiegel sogar voller blinder Flecken; in ihm zeichnen sich die Phänomene oft nur schemenhaft ab, Leerstellen verdecken ganze Partien, Unschärfen verwischen die Konturen. Was tun, wenn man sich darin nicht oder nur mit Schwierigkeiten erkennt: den Spiegel zerschlagen – oder nur jene Ausschnitte zur Kenntnis nehmen, die unseren Erwartungen entsprechen?
Vor dieser peinlichen Wahl standen beispielsweise die Verfasser der seit Dezember 2010 vorgelegten »Fortschrittsberichte« der Bundesregierung.1 Die unter Beteiligung von gut hundert Mitarbeitern erarbeiteten Darstellungen sollen über die durch den deutschen Beitrag beförderten Entwicklungen differenziert und solide Auskunft geben. Doch die Autoren stehen vor dem Dilemma eines zwiespältigen Auftrags: gemäß dem suggestiven Titel der Berichte »Fortschritte« zu dokumentieren, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, es laufe alles glatt und unproblematisch, denn schließlich soll kundgetan werden, dass die Unzulänglichkeiten zu einem große Teil dem afghanischen Partner geschuldet sind. Übertreibt man jedoch auch nur einen Aspekt, gerät der Zweck der ganzen Veranstaltung in Gefahr. Denn die für 2014 beschlossene »Übergabe in Verantwortung« wird dann unglaubwürdig und zweifelhaft. Sie soll aber das Ende der ISAF-Mission besiegeln und die wesentlich reduziertere International Training Advisory and Assistance Mission (ITAAM) einleiten. Noch irritierender als dieser Eiertanz zwischen Auslassungen über die deutschen Aktivitäten, die afghanischen Schwächen und geschmeidigen Bewertungen von Ergebnissen, für die es keinerlei Ausgangs- und Vergleichsparameter gibt,2 ist, was in den Berichten gar nicht erst thematisiert wird. Analysen und Befunde, denen sich entnehmen ließe, dass auch die deutsche »vernetzte« Sicherheitsapparatur nicht reibungslos funktioniert, was sich auf den Verlauf des Einsatzes nachteilig ausgewirkt hat, sucht man vergebens. Die Autoren bemühen sich vielmehr, den Anschein zu erwecken, als gebe es ein konsistentes politisches Narrativ für diesen langwierigen Einsatz. Doch dem, so wird hier deutlich werden, ist nicht so.
Ob die deutsche Politik anfangs darauf gedrängt hatte, an der Mission teilzunehmen, oder nicht – die institutionelle Ausstattung der Missionsführung, der Sicherheits- und der Militärpolitik blieb unzulänglich. Ad hoc und en détail wurde zwar nachgebessert, aber nicht ausreichend, um selbsttragende und dauerhafte Strukturen zu erschaffen, die über den Anlass hinausweisen und Zeichen für die künftige Sicherheitspolitik hätten setzen können. Kein Wunder, dass sich unter Beobachtern die Sorge breitgemacht hat, der abnehmende Handlungsdruck in Afghanistan könne zugleich weitere Wartungsarbeiten an der Sicherheitsmaschinerie überflüssig erscheinen lassen. Kurzum, was an institutioneller Selbstreflexion aus dem Afghanistaneinsatz folgt, ist unklar. Gewiss, die Bundeswehrreform ist einmal mehr in eine neue Phase (»Neuausrichtung«) getreten, die einschlägigen Ministerien haben sich inzwischen zu »ressortgemeinsamen Leitlinien« über den Umgang mit fragilen Staaten zusammengerauft – aber eine Bestandsaufnahme der hier erprobten »erweiterten« und »vernetzten« Politik globaler Sicherheitsvorsorge, ihrer Innenausstattung, des strategischen Geschäfts, der politisch-militärischen Einsatzführung und der zivilen Mission fehlt bisher, und sie ist auch nicht angekündigt. Hier bleibt der Spiegel blind.3
Dabei böte der Afghanistaneinsatz für die deutsche Sicherheitspolitik eine einmalige Chance, die eigenen Bestände und Instrumente, Normen und Verfahren zu überprüfen. Wenn man nur wollte, ließe sich anhand dieser langwierigen und umstrittenen Mission sehr genau beobachten, ob und wie die Staats- und Militärmaschinerie unter Belastungsbedingungen funktioniert. Immerhin dauert der Einsatz länger als der Zweite Weltkrieg, 53 gefallene Soldaten sind zu beklagen, und mit geschätzten 17 Milliarden Euro waren die bisherigen Kosten (Stand 2010) beträchtlich. Deutschland übernahm Verantwortung für eine ganze Region Afghanistans und hinterließ dort seine Spuren, ob in der Sicherung der Region, in der Polizeiausbildung oder bei Aufbauhilfen. Zugleich beteiligte sich die Bundesrepublik damit an der globalen Sicherheitsvorsorge, und wie immer man das deutsche Auftreten auf dieser Bühne bewerten mag, es war ein beträchtlicher politischer Rollenwandel damit verbunden. Innenpolitisch war die wohl markanteste Zäsur erreicht, als sich die Politik nach langem Zögern entschloss, von einem »Krieg« beziehungsweise von einem »bewaffneten innerstaatlichen Konflikt« zu sprechen. Das ging nicht ohne Brüche, Enttäuschungen und Rückschläge, nicht ohne Nachkorrekturen und Anpassungen ab. Doch dem Zeitungsleser blieb nicht verborgen, wie spät und wie schwerfällig die Einsatzpolitik und die Missionsführung auf die Lageveränderungen am Hindukusch reagierten. Gleichsam zwischen den Zeilen ließ sich besichtigen, was geschieht, wenn ein Großprojekt vom Range dieses Dauereinsatzes in das Räderwerk politisch-militärischer Kleinarbeit gerät. Dabei ging es um die defensive oder offensive Ausrichtung der militärischen Operationen, um die Details der zivil-militärischen Zusammenarbeit von den Ministerien bis hinunter ins Einsatzgebiet, um Zeitrahmen, Truppenstärken und Zielkonzepte, aber auch um bürokratische Banalitäten wie jene, ob die Inlandsgebote der Mülltrennung oder der Verkehrsordnung auch im Operationsgebiet gelten. Das ist keinesfalls despektierlich gemeint; vielmehr bot die Alltagsroutine des Staatshandelns den besten Einblick in dessen innere Funktionsweise.
Kurzum, die Laborsituation des Einsatzes fordert zur Durchführung eines Leistungstestes geradezu auf. Doch das stößt angesichts der Unpopularität des Afghanistanunternehmens auf wenig Begeisterung. Zwar wurde und wird einer jeden Neumandatierung pflichtschuldig Reverenz erwiesen, um der Truppe zu signalisieren, »die Politik« stehe hinter ihr, und um der Welt zu beweisen, dass »wir Afghanistan nicht alleinlassen«. Aber diese Zuwendung reicht nicht aus, um zu Hause Remedur zu schaffen, Evaluierungen vorzunehmen und die künftige Sicherheits- und Militärpolitik nach dieser Maßgabe auch institutionell »neu auszurichten«. Stattdessen beschränkt man sich auf die ganz großen Worte und die ganz kleinen Schritte. Das eine besorgen die Hochglanzbroschüren der Berichte, das andere findet sich in den elementaren Lessons Learned. Hier wird der Schwarze Peter dann weitergereicht. Unwillkürlich landet nämlich der unleugbare Veränderungsdruck irgendwann bei den unteren und sogenannten Arbeitsebenen, obwohl sich kaum jemand darüber täuschen kann, dass der Teufel nicht (nur) im Detail steckt, sondern im großen Ganzen.
Die Selbsttäuschungen des »Post-Interventionismus«
Die inzwischen anhebende Post-Afghanistan-Diskussion, die bereits die Dimension einer »post-interventionistischen« Fachdebatte angenommen hat, ist nicht durchweg geeignet, mit dem Trend zu brechen.4 Während sich in Politik und Publikum eine »Nie wieder«-Stimmung breitmacht, die eine weitere Beschäftigung mit der Materie ohnehin überflüssig erscheinen lässt, arbeiten Planer und Expertenkreise an Anleitungen für künftige »schlanke« Operationen eines Interventionismus »light« oder malen eine »Ära der Special Forces« an die Wand. Die öffentliche Enttäuschung, die Delegitimation des Einsatzes, der Druck auf den Staatshaushalt sowie das amerikanische Disengagement tun ein Übriges, um »Afghanistan« von der Tagesordnung abzusetzen.
Wenn aber unterschwellig suggeriert wird, mit dem Abschied vom »Interventionismus« habe sich eine detaillierte Auseinandersetzung damit, wie die Afghanistanintervention geplant und geführt worden ist, erübrigt, dann ist dies eine Selbsttäuschung. Denn immer wieder wird sich mit Blick auf Räume schwacher Staatlichkeit und instabiler Ordnungen – Syrien und Mali sind nur die Vorboten – die Frage stellen, ob und wie der Westen, die supranationalen Organisationen und Bündnisse und damit auch die einzelnen staatlichen Akteure handeln wollen. Der neueste Vorsatz lautet nun, »weniger, aber besser« zu operieren. Doch diese Versicherung trägt nur, wenn zuerst eine Verständigung über das »Weniger« und das »Besser« stattgefunden hat: Wie viel weniger ist wie viel besser? Und wie viel besser ist gut genug? Mit anderen Worten: Die Politik wird nicht aus dem entlassen werden, was Wilfried von Bredow das »Interventionsdilemma« genannt hat.5 Es bleiben die Entscheidungs- und Verantwortungsprobleme angesichts von Krisen- und Konfliktherden, es bleiben die normativen Spannungen zwischen Wertvorstellungen und Interessenkalkülen. Auch künftig wird man sich bei einer jeglichen Option dem politischen Kerngeschäft des...