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E-Book

'Arschtritt'

Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben

AutorHolger Senzel
VerlagSüdwest
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641045975
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wie Holger Senzel sein Leben in den Griff bekam
'Sie sind auch liebenswert, wenn Sie schwach sind!' hörte der Journalist Holger Senzel immer wieder von seinen Therapeuten. Aber sie halfen ihm nicht stark zu werden. Fünfmal begab der Autor sich auf die Reise ins eigene Ich - und bekam sein Leben trotzdem nicht in den Griff. Auch wenn er seine Fehler erkannte und lernte, was schief lief, und wie er es besser machen könnte. Aber was nützt alle Erkenntnis, wenn die Kraft zur Veränderung fehlt. Irgendwann gab er die Seelenbeschau auf und trat sich einfach mal für vier Wochen selbst in den Hintern. Sport, Theater, Museen, Bücher, Aufräumen, Kochen, Steuererklärung machen, nicht trinken, nicht fernsehen... Große Lebensfragen ignorieren und sich nur ums Machbare kümmern. 28 Tage so vollpacken, dass zum Grübeln keine Zeit bleibt; ein konkreter Plan statt guter Vorsätze. Irgendetwas tun, statt immer nur um sich selbst zu kreisen. Weil es im Leben nicht nur darum geht, wie Dinge sich anfühlen - sondern dass sie eben gemacht werden müssen. Einfach mal vier Wochen sich selbst besiegen und stark sein. Vier Wochen, die das Leben des Autors nachhaltiger veränderten als zehn Jahre Therapie.

Holger Senzel, Jahrgang 1959, hat als Radioreporter die Kriegs- und Krisengebiete der Welt bereist. Berichtete fünf Jahre lang als Korrespondent aus London. Privat lief es lange weniger gut: Gescheiterte Beziehungen, Depression, Therapie, Zusammenbruch, psychosomatische Klinik. Heute ist er überzeugt, dass man sein Herz nicht öffnen kann durch Graben in der eigenen Seele, sondern durch offene Augen und Interesse an Anderen. Senzel ist verheiratet und lebt in Hamburg.

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Leseprobe

Meine Therapie-Karriere


Arbeit an mir selbst?


Meine erste Therapie habe ich mit 32 gemacht. Ich hatte heftigen Liebeskummer, sah keinen Sinn mehr im Leben, und ein Freund schlug vor: »Vielleicht solltest du mal ’ne Therapie machen!« Eine Menge Leute aus meinem Bekanntenkreis machten eine Therapie. Es galt als mutig: Nicht mehr weglaufen, sondern sich den eigenen Schwächen stellen. Leute, die eine Therapie machten, fühlten sich den anderen überlegen, weil sie hinter die Dinge schauten. Mal ein bisschen genauer hinsahen bei sich selbst. Und so sprachen wir über meinen Liebeskummer in der ersten Therapiestunde. Ich glaubte, daran zu zerbrechen. Meine große Liebe hatte mich verlassen, nachdem ich sie nach Strich und Faden belogen und betrogen hatte. Ich begriff, dass dies alles sehr viel mehr mit mir als mit der Frau meines Herzens zu tun hatte.

Dennoch hinderte mich meine Erkenntnis nicht, solche kräftezehrenden Liebesdramen nebst therapeutischer Aufarbeitung im Laufe der kommenden zehn Jahre noch mehrfach zu inszenieren – mit gesteigerter Intensität, versteht sich. Und es wundert mich heute schon sehr, dass nicht eine oder einer meiner Therapeuten mal gesagt hat: »Finden Sie nicht, dass es langsam mal Zeit wäre, erwachsen zu werden?« Stattdessen haben wir nach den Ursachen meines selbstzerstörerischen Verhaltens geforscht. Haben in meiner Kindheit und frühen Jugend und in meinem Elternhaus gesucht – und sind fündig geworden. Ich lüge und betrüge, weil ich Liebe und Anerkennung suche – sehr verkürzt gesagt. Aber wir hatten ja damals auch 25 Therapiestunden Zeit.

 

Meine Freunde dagegen sagten es mir in aller Deutlichkeit: Dass ich unreif und rücksichtslos auf den Gefühlen anderer herumtrampelte und mich nicht wundern müsse, dafür die Quittung zu bekommen. Aber das wollte ich nicht hören. Ich war schon zu süchtig nach meinem wöchentlichen Seelenbad. Und so sehr es mich deprimierte, dass der einzige Mensch, der mich noch ernst nahm und mir zuhörte, dafür bezahlt wurde, so hatte ich gleichzeitig regelrechte Panik vor dem Moment, in dem meine Krankenversicherung keine weiteren Stunden mehr bezahlen würde.

 

Ich wäre eher aufgewacht, wenn Therapeuten mir klare Grenzen gezeigt hätten, mir nicht alles hätten durchgehen lassen. Wenn mal eine oder einer von ihnen gesagt hätte: »Es reicht, Herr Senzel!« So wie der englische Psychologe, der seine Patientin rauswarf, weil sie sich nicht scheiden ließ. In dieser Zuspitzung machte diese Geschichte Schlagzeilen in der Boulevardpresse. Dabei hat er im Grunde sehr verantwortlich gehandelt, als er sagte: »Sie wissen seit 20 Therapiestunden, dass Ihre kaputte Ehe Sie unglücklich macht. Wenn Sie keine Konsequenzen ziehen, kann ich Ihnen auch nicht helfen.« Immerhin hat er sich so selbst eine sichere Einkommensquelle verschlossen. Das hat mir imponiert.

Zeitweise war die Sitzung beim Therapeuten der Höhepunkt meiner Woche. Sie brachte ein Stück Licht in das dunkle Chaos meines Lebens und vermittelte mir das Gefühl, doch eigentlich ganz in Ordnung zu sein, so, wie ich war. Dabei war ich ein Kind – ein fast 40-jähriges. Mogelte mich durchs Leben, entzog mich jeder Verantwortung und betrachtete die Welt als meinen Spielplatz. Manchmal machte ich ein Spielzeug kaputt – und dann heulte ich und tat mir leid. »Warum sind Sie eigentlich immer so gnadenlos zu sich selbst?!«, fragte eine meiner Therapeutinnen des Öfteren. Die Therapie trug mich auf dieser warmen Woge des Verstehens und Verstandenwerdens. Ich freute mich schon Tage vorher auf die Bühne, die sie mir bot, überlegte, was mir wichtig war, was ich unbedingt loswerden wollte – und wie ich es am geschicktesten in diese exakt 60 Minuten hineinpacken könnte. Und jedes Mal endete die Stunde mit dem Versprechen meines Therapeuten: »Ja – ich denke, das sollten wir nächstes Mal vertiefen …«

Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wühlen in alten Wunden viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum großen Lebensthema – statt einfach mal die Zähne zusammenzubeißen und es wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören.

»Sie sind auch liebenswert, wenn Sie schwach sind«, sagten meine Therapeuten immer. Das mag sein. Aber es wäre mir lieber gewesen, sie hätten mir einen Weg gezeigt, wie man stark wird. Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wuehlen in alten Wunden und vergangenen Niederlagen viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum großen Lebensthema – statt einfach mal die Zähne zusammenzubeißen und es wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören.

Immer tiefer in die Depression


Ich habe nie verstanden, was damals geschehen ist, als ich immer tiefer in die Depression gerutscht und irgendwann zusammengebrochen bin. Als habe jemand mein Hirn neu verschaltet. Plötzlich fand ich nicht mehr vom Funkhaus nach Hause. Irrte stundenlang mit wachsender Verzweiflung durch die Stadt, obwohl ich die Strecke seit Jahren jeden Tag fuhr. An der Supermarktkasse überfiel mich aus dem Nichts die große Panik, ich musste fliehen. Ich vergoss Tränen der Verzweiflung über einen kaputten Wasserkocher, mein Hirn fraß sich fest an dem Tee, den ich unbedingt kochen musste. Hörte nicht mehr auf zu Schluchzen, aber kam nicht auf die Idee, dass man Wasser auch in einem Topf auf dem Herd erhitzen kann. Essen war viel zu anstrengend, wo Bier doch auch sättigte. Am Ende wog ich noch 65 Kilo bei 1,88 Metern Körpergröße. Trotzdem funktionierte ich noch irgendwie. Quälte mich morgens aus dem Bett und zog mich mit unendlicher Mühe an, um einen weiteren trostlosen, rabenschwarzen Tag hinter mich zu bringen. Und danach eine end- und schlaflose Nacht …

Bis zu diesem einen Morgen als verantwortlicher Redakteur für die Frühsendung. Der wichtigsten Sendung des ganzen Tages fürs Radio. Mir war schlecht vor Panik und mir stand der Schweiß auf der Stirn. Wie im Matheunterricht, wenn ich an der Tafel stand und keine Ahnung hatte, was der Lehrer von mir wollte. Dieses Mal hatte ich keine Ahnung, welche Nachricht wichtig und wie sie zu platzieren war, weil ich seit Wochen schon weder Zeitungen las noch Nachrichten hörte. Ich hatte nächtelang kein Auge zugetan und sah die Welt wie durch einen Nebel. All die irritierten, fragenden, erwartungsvollen Blicke. Und niemand sprach mich auf meinen Zustand an. Die Kollegen haben mich einfach ignoriert für den Rest der Schicht und die Sendung ohne mich gemacht. Ich hätte in den Boden versinken können vor Scham. Mit tränenden Augen bin ich aus dem Funkhaus geflohen. Ich würde nicht fähig sein, je wieder einen Fuß hineinzusetzen, davon war ich überzeugt. Ich fühlte mich auf ganzer Linie geschlagen. Trostlos im Wortsinne. Denn da war niemand, dem ich mich anvertraut hätte. Die Scham war zu groß. Ich fühlte mich schuldig, als Versager. Zwei Wochen zuvor hatte mich meine Freundin verlassen – die ganz große Liebe, dachte ich. Ich marterte mich mit Selbstvorwürfen, weil ich in meinem Tunnel nicht gesehen habe, wie weit wir auseinanderdrifteten. Nach der fürchterlichen Konferenz wollte ich in ein Bordell fahren. Dabei war der Gedanke an Lust völlig abwegig. Keine Ahnung, was mich trieb und was ich suchte – in der kruden Logik, die damals Besitz von mir ergriff, mochte das alles schlüssig sein. Und ebenso folgerichtig wertete ich mein »Kneifen« als weiteren Beleg des absoluten Losertums. Nicht mal das traute ich mich … Ich habe mir dann ein Prepaid-Handy gekauft und mein Diensthandy ausgeschaltet – damit der NDR mich nicht orten kann. Mir war das bitterernst! Ich fühlte mich hilflos gefangen in einem riesigen, klebrigen Netz und wartete auf die Spinne.

Ich war ziemlich neben der Spur. Irgendwann mischt ja auch der Körper in der Psyche mit und bildet keine stimmungsaufhellenden Hormone mehr. Und du kannst gar nicht anders, als alles nur noch grau und schwarz zu sehen. Aber bis dahin ist es ja ein langer Weg. Und vielleicht hätte irgendein noch so kleines Erfolgserlebnis in diesem Konglomerat aus Niederlagen, Scheitern und Versagensängsten die Abwärtsspirale stoppen können. Bevor ich regungslos unter dem Gerüst lag und ängstlich zuschaute, wie eine Strebe nach der anderen einknickte. Was war Ursache und was Wirkung? Waren berufliche Krise und Trennung Auslöser der psychischen Erkrankung oder Folge?

 

Als ich mir an diesem sonnigen Mai-Nachmittag den Lauf meines Jagdgewehres in den Mund steckte, fühlte ich mich erstmals seit Monaten wieder heiter und gelöst. Das erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit war vorbei: Mit einem sanften Druck des großen Zehs auf den Abzug konnte ich das Elend beenden.

Was ist Ursache, was Wirkung? Waren berufliche und private Krisen Auslöser oder Folge meiner Depression?

Ich habe mich nicht erschossen. Ich habe eine Psychologin angerufen, bei der ich früher einmal in Therapie gewesen war. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Nachmittag überlebt hätte, wäre mein Hilferuf ins Leere gegangen. Oder ob ich nicht irgendwann doch den Zeh gekrümmt hätte in meiner Verzweiflung und meiner Angst vor dem nächsten Tag. Ich wollte nicht sterben, da bin ich ganz sicher. Ich hatte den Lauf im Mund und fragte mich, ob ich den Knall noch hören würde. Ob ich Schmerz spüren würde, wenn das Geschoss mein Gehirn zerfetzt. Wer mich wohl finden und was ich ihm mit meinem Anblick antun würde. Und dass mein Sohn sein Leben lang erzählen würde, dass sein Vater sich erschossen hat, als er fünf Jahre alt war. Ich wollte nicht sterben – aber ich wusste nicht...

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