Die Anzahl verkaufter Tonträger hat sich in der Musikbranche als das Kriterium zur Messung des Erfolgs einer Band bzw. eines Interpreten durchgesetzt. Zahlreiche Hitparaden und Auszeichnungen basieren auf Verkaufszahlen der Tonträger; Tonträgerverkäufe stellen zudem das größte Einnahmepotential für Bands und Plattenfirmen dar.
Kennt eine Band wie Fools Garden die Struktur und die Vorlieben ihrer potentiellen Tonträgerkunden, kann sie ihre Songs eher auf diese abstimmen und so im Endeffekt einen größeren Erfolg erzielen. Eine Betrachtung der Konsumenten hilft der Band, Vermarktungs- und Informationsstrategien deutlicher auf den Kunden auszurichten.
Ziel des zweiten Kapitels ist es daher zu vergegenwärtigen, welche grundsätzlichen Publikumsgruppen eine Popband erreichen kann und welche Publikumsbedürfnisse dabei zum Tragen kommen. Dazu werde ich vornehmlich soziologische Untersuchungen betrachten, die sich mit den Rezipienten von Popmusik befassen. Die unterschiedlichen Ansätze fußen im Wesentlichen auf den Denkansätzen der kritischen Theorie und der Cultural Studies. Es wird deutlich werden, dass beide Richtungen besonders den Grad der Aktivität des Hörers unterschiedlich einstufen.
Negus gibt einen Überblick über die Geschichte der wissenschaftlichen Annäherungen im Hinblick auf die Betrachtung des Publikums populärer Musik. Er beginnt bei Adorno, einem Vertreter der kritischen Theorie, der von vielen Autoren als Wegbereiter der wissenschaftlichen Herangehensweise an populäre Musik betrachtet wird.[25]
2.1 Die passive Masse
Adorno zeichnet ein sehr negatives Bild vom Popmusikhörer. Er spricht ihm einen tief greifenden Zugang zur Sache ab: „Musik ist ihm [dem Hörer – Anm. d. Autors] nicht Sinnzusammenhang, sondern Reizquelle.“[26] Nicht Sinn, sondern Ablenkung bzw. Zerstreuung sind für Adorno das zentrale Bedürfnis der Hörer nach Popmusik. Das mühelose, zur Entspannung bestimmte Hören wirke als Norm auf die populäre Musik zurück. Die Hörer lehnten dabei alles ab, was nicht bekannt klinge und nicht das Potential habe kindliche Erinnerungen wecken zu können. Hörer verfolgten die Musik nicht genau und achteten nicht auf ihre Details, sondern begnügten sich mit den einfachsten, klarsten Fragmenten der Melodie.[27]
Popmusik sei eine standardisierte Freizeit-Ware, die eine Flucht vor der Arbeit verspreche. Die Freizeit diene aber lediglich dazu, die Produktivitätskapazitäten des Arbeiters wieder aufzuladen.[28] Die Freizeit und damit auch die Popmusik sei nach den Strukturen und Eigenschaften der übermächtigen Arbeitswelt geformt. „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanischen Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den ››Freizeitler‹‹ und dessen Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen.“[29]
Der Produktionsprozess spiegelt sich nach Adorno in der Unterhaltungsmusik durch die „Wiederholung des Immergleichen“ wieder. Der Hörer fühle sich glücklich, wenn er nach den ersten Takten eines Songs seine Fortsetzung raten könne und diese so eintreffe.[30] Adorno sieht Unterhaltungsmusik als eine gesellschaftlich akzeptierte Droge an. Wie Alkohol und Rauchen diene sie einem Süchtigen dazu, sich mit der Situation des sozialen Drucks oder der Einsamkeit abzufinden und für kurze Zeit in eine Scheinwelt zu flüchten, in der er glaubt, er selbst sein zu können.[31]
Der Aspekt der Identifikation mit der Musik bzw. den Musikern ist Adorno deshalb wichtig. Er folgert aus der Tatsache der leichten Nachsingbarkeit von Schlagern, dass der Hörer sich „mit den ursprünglichen Trägern der Melodie, gehobenen Persönlichkeiten, oder mit dem kriegerischen Kollektiv, das die Lieder anstimmt“[32], identifiziert. Darüber vergesse der Hörer seine „Vereinzelung“ und empfange die Illusion „entweder vom Kollektiv umfangen oder eine gehobene Persönlichkeit zu sein“.[33]
Negus entdeckt in Adornos Ausführungen zwei Gruppen von Hörern:
Die „alone in the bedroom“-Gruppe besteht aus schüchternen, gehemmten Menschen, die sich durch die Illusion von Intimität, die ihnen Musik vermittelt, eigene Sphären der Sicherheit schaffen, die ihnen im Kontakt zu anderen Menschen fehlen.[34] Musik dient ihnen als Trost für ihre soziale Abgeschiedenheit. Adorno spricht vom Hörer „der Zeit totschlägt und Einsamkeit paralysiert durch ein Hören, das ihm die Illusion des bei was auch immer Dabeiseins vermittelt.“[35]
Menschen, die Popmusik im Gegensatz dazu in Gesellschaft mit anderen beim Tanz konsumieren, bezeichnet Negus als „lost in the crowd“.[36] Adorno kritisiert, dass beim Tanz zur Popmusik Individuen ihre Eigenständigkeit verlieren und zu Teilen einer Masse werden. Ihre zwanghaften, ruckartigen Bewegungen erinnern ihn an herumschwirrende Insekten, an den in einem Kessel mit siedendem Öl schmorenden St. Vitus oder an die letzten Reflexe von gerade getöteten Tieren.[37]
Popmusikhörer werden von Adorno als passive hilflose Masse, der es an kritischem Urteilsvermögen fehlt und die der Kulturindustrie vollkommen ausgeliefert sind, dargestellt. Sie sind demnach in ihrer Welt des Alltags und der Arbeit gefangen. Popmusik fungiert dabei als ein Fenster, das Blicke aus der Welt des Alltags in eine Welt des Glücks gewährt.
Das Bedürfnis nach Popmusik wird von Adorno durch Zerstreuung, dem Ablegen von Ich-Grenzen, Flucht aus dem Alltag und dem Streben nach Glück beschrieben. Hiermit greift Adorno eine schon von Freud in seinem Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ diagnostizierte, scheinbar typische Eigenschaft des Menschen auf.[38]
Freud zeigt, dass der Mensch ständig von Gefahren umgeben ist: „Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnsignal nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen.“[39] Er beobachtet weiter, dass das Leiden, das aus den Beziehungen zu anderen Menschen entsteht, schmerzlicher als jedes andere Leiden empfunden wird.[40]
Durch Ablenkungen, Ersatzbefriedigungen oder Rauschstoffe ließen sich diese Leiden lindern. Die Popmusik gehört nach Adorno zu diesen Linderungsmitteln. Die „Fluchtfunktion“, die er der populären Musik zuschreibt, lässt sich auf dem Hintergrund Freuds somit kulturpsychologisch begründen.[41]
Popsongs kommen demnach im Streben der Menschen nach Glück zum Einsatz. In der Entwicklung der menschlichen Kultur, die Freud als Summe der Leistungen und Einrichtungen definiert, die Menschen vor der Natur schützen und die Beziehungen untereinander regeln, habe der Mensch seine individuelle Freiheit dem Wohl der Gemeinschaft unterordnen müssen.[42] Menschliche Triebe wie der Aggressions- und der Sexualtrieb wurden dabei unterdrückt. Die menschliche Psyche kämpfe gegen diesen kulturell geforderten Triebverzicht an und flüchte sich in Bereiche, die Ersatzbefriedigungen verheißen und Glück versprechen. Freud stellt fest, dass das Verhalten der Menschen stets darauf gerichtet ist, solches Glück zu erlangen. Die „Abwesenheit von Schmerz und Unlust“[43] und das „Erleben starker Lustgefühle“[44] sei gemäß dem Lustprinzip ein ständig verfolgtes Ziel von Menschen.
Glück könne aber nicht als dauerhafter Zustand, sondern nur als Kontrast genossen werden.[45] Kontraste haben in der Popmusik selbst wichtige Funktionen, wie ich in Kapitel 4 noch herausstellen werde. In diesem Sinn kann Popmusik als vergänglicher Glücksbringer verstanden werden, als kurzer Kontrast im tristen Alltag.
Die Richtung, die der Mensch bei seiner Suche nach Glück einschlägt, ist für Freud eine rückwärts gerichtete.
Im ersten Kapitel des Werks „Das Unbehagen in der Kultur“ beschäftigt sich Freud mit dem „Gefühl des Ozeanischen“.[46] Darin sieht er die Quelle aller Religiosität....