»Wir können nicht Menschen bleiben, wenn ...«
Mit Michael Gorbatschow und Andrej Sacharow
für eine Welt ohne Kernwaffen
18 Jahre nach seinem Kanzlersturz stirbt 1992 Willy Brandt, der Politiker der »Compassion«, der Humanist der Gutmenschlichkeit. Viele treffe ich in diesen Tagen, die Tränen vergießen, manche zur eigenen Verwunderung. Haben sie doch gar nicht mehr von dem gewusst, was jetzt in ihnen hochkommt. Mir überträgt die Partei die einführende Rede auf ihrer Berliner Gedenkfeier. Ich sage etwas über die ungewöhnliche Empfindung von Nähe und Liebe zu einem Politiker. Wer auch immer das Wort nimmt, Ignaz Bubis, Felipe Gonzales, Daniel Goeudevert, Günter Grass, Lev Kopelev, jeder möchte etwas von dem zurückgeben, was er bekommen hat. Nur einen möchte ich zitieren, den Botschafter der Gegenseite im Kalten Krieg, Valentin Falin:
»Ich kann aus tiefer Kenntnis der Materie, aus unzähligen Stunden, die ich mit Willy Brandt geschenkt bekommen habe, hier sagen: Ohne Willy Brandt wäre das heutige Europa nicht möglich gewesen. Ohne Willy Brandt wäre es unmöglich gewesen, die Mauer fallen zu lassen. Ohne Willy Brandt wäre der Gedanke an Versöhnung kaum Realität geworden. Ein Gedanke, der uns trotz aller Schwierigkeiten in West und Ost, in Nord und Süd doch Hoffnung gibt. Bevor die Mauern fallen, die auf der Erde stehen, muss man die Mauern in unseren Köpfen, in unserer Seele überwinden. Die Mauern aus Hass, die Mauern aus Voreingenommenheiten, die Mauern aus Misstrauen.
(...)
Ohne Willy Brandt gäbe es keinen Moskauer Vertrag, ohne Willy Brandt gäbe es keinen Warschauer Vertrag. Ohne Willy Brandt gäbe es keine Schlussakte von Helsinki, ohne ihn gäbe es keine Vereinigung Deutschlands.«
Das alles sagt der Ex-Botschafter, der von der Gegenseite aus so genau wie kein anderer die Krisen und Erfolge der russisch-deutschen Beziehungen beobachten konnte. Durch zahlreiche Begegnungen und gemeinsame Interviews sind Falin und ich Freunde geworden. Falin hat die überragende Bedeutung Brandts für die Aussöhnung unserer beiden Völker besser verstanden als die hiesige Öffentlichkeit und mancher heimische Politiker. In seiner Rede hat Falin noch einmal anklingen lassen, was ein Staatsmann vermag, der in den Seelen der Menschen jene Verbundenheit fühlbar macht, aus der heraus eine Versöhnungspolitik geradezu unausweichlich ist.
Mit der bewegenden Gedenkfeier für Willy Brandt bin ich dramatischen Jahren vorausgeeilt, in denen die Krankheit Friedlosigkeit uns mehrfach an den Rand einer tödlichen Katastrophe bringt. Der Exkommandeur der US-Nuklearstreitkräfte General Lee Butler wird später sagen, es war wohl eher eine himmlische Gnade als menschliche Besonnenheit, die uns ein atomares Inferno erspart hat. Ich selbst rede als Vertreter der Internationalen Friedensärzte in Bonn, Washington und Moskau über den atomaren Wahn. Auch der UN-Generalsekretär benutzt diesen Ausdruck. Warum empfinden wir den Nazi-Wahn als barbarisch, finden aber nichts dabei, dass der Hiroshima-Bomber christlich eingesegnet wird, der 200 000 Menschen umbringt? Warum lassen wir diejenigen sich auf Gott berufen, die mit dem Risiko spielen, die Schöpfung zu vernichten?
Aber der Westen phantasiert sich durch eine Märtyrerfigur im östlichen Feindesland als unantastbar. Es ist Andrej Sacharow, Erfinder der russischen Wasserstoffbombe, als Menschenrechtler und Systemkritiker in der UdSSR geächtet und verbannt. Als Kronzeuge des kommunistischen Bösen wird er zur Trumpfkarte für die psychologische Kriegsführung des Westens. Wie durch eine wunderbare Fügung gelange ich in die Nähe dieses Mannes, einer weiteren Schlüsselfigur unserer Epoche.
Aber eins nach dem anderen. Meine kritischen Analysen der Atomrüstungs-Mentalität verschaffen mir verschiedene internationale Vortragseinladungen. Veranstalter sind in der Regel Sektionen unserer ärztlichen Friedensbewegung. Ein heimlicher Wunsch geht in Erfüllung: in Moskau für den Frieden sprechen zu können, nachdem ich als Achtzehn-, Neunzehnjähriger auf Russen geschossen hatte und nachdem später meine Eltern von russischen Besatzungssoldaten getötet worden waren. Bald nach meinem Moskauer Auftritt werden Bergrun und ich zu Gorbatschows großem Friedensforum eingeladen, das am 16. Februar 1987 im Kreml stattfindet. Es kommen Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Kirchenleute, auch Industrielle und Banker, Frauen und Männer aus allen Kontinenten.
Gorbatschow begeistert mit einer großen Rede zum Thema »Für eine atomwaffenfreie Welt, für das Überleben der Menschheit«:
»Uns alle vereint die Gefahr eines nuklearen Todes, einer ökologischen Katastrophe und eines globalen Ausbruchs der Widersprüche zwischen Armut und Reichtum in den verschiedenen Teilen der Welt. (...) Deshalb müssen wir trotz aller zwischen uns bestehender Gegensätze lernen, uns als eine große Familie zu begreifen und entsprechend zu handeln.«
Dies ist das Konzept eines neuen Denkens, das an die Position Willy Brandts anschließt. Die Bewältigung der Probleme dürften wir nicht allein den Politikern überlassen. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssten dazu gehört werden. Die Abrüstung der Atomwaffen müsse vornan stehen. – Er spricht ruhig, aber mit großer Bestimmtheit und Überzeugungskraft.
Es ist eine anspruchsvolle, zu Herzen gehende Rede. Sie will ermutigen und erreicht dieses Ziel. Viele stehen danach an den Ausgängen des Kreml-Saals zusammen, als wollten sie sich ihrer Solidarität gleich hier versichern. Zusammen mit dem Atomphysiker Hans-Peter Dürr sammle ich ein paar Leute. Wollen wir uns nicht zusammentun, auch noch andere gewinnen, um daran weiterzuarbeiten, was Gorbatschow fordert?
Bald sind wir acht, darunter Evgenii Velikov, Vizepräsident der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Ihm gefällt unser Plan. Er erzählt später Gorbatschow, was wir vorhaben. Anderntags begrüßt Gorbatschow unsere Idee im Plenum. Andere schließen sich uns an. Es ist die Geburtsstunde einer Initiative, die sich später »International Foundation for the Survival and the Development of Humanity« nennen wird. Am Ende werden wir 30 Leute sein, darunter Susan Eisenhower, Robert McNamara, US-Ex-Verteidigungsminister, später Präsident der Weltbank, John Sculley, Chief Executive Officer von Apple Computers, David McTaggart, Chairman von Greenpeace International – und Andrej Sacharow, den die Welt immer noch in quälender Verbannung wähnt.
Wir treffen uns in Triest, Stockholm, Washington und mehrmals in Moskau, wo Gorbatschow uns jedes Mal empfängt, uns zuhört und mit uns redet wie in einer vertrauten Runde. Gorbatschow fragt jeden von uns, was den Einzelnen oder die Einzelne bewegt und was wir erwarten. Zu einer denkwürdigen Szene wird eine in großer Offenheit geführte Auseinandersetzung zwischen Sacharow und Gorbatschow. Hier der aus der stalinistischen Verbannung in Gorki befreite standhafte Menschenrechtler, dem die Stalinisten die Entgegennahme des Friedensnobelpreises verboten hatten, dort der Führer der kommunistischen atomaren Weltmacht. Beide im Kampf um die Menschlichkeit in einem apokalyptischen Drama.
Ungeniert kritisiert Sacharow die immer noch unbefriedigende Menschenrechtslage in der UdSSR: Funktionärswillkür, unwürdiger Strafvollzug usw. Gorbatschow hört ruhig zu, gesteht Missstände ein, zeigt Verständnis für Sacharows Ungeduld. Er wünsche selbst die Humanisierung zu beschleunigen, aber die Hindernisse aus langer Tradition ließen sich nur schrittweise überwinden. In keinem Augenblick kehrt Gorbatschow den Machthaber heraus, während Sacharow der Respekt vor Gorbatschows Glaubwürdigkeit anzumerken ist. Es sind zwei, die auf gleicher Augenhöhe das Ziel einer versöhnten Welt vor sich haben.
Ein zentraler Punkt macht beide zu Verbündeten. Es ist das Verlangen, die Nuklearwaffen bis zum Jahre 2000 aus der Welt zu schaffen. Bis heute geht mir nach, mit welcher Verzweiflung Sacharow uns bedrängt, den Kampf gegen die Atomwaffen über alles zu stellen. »Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir diese Waffen behalten wollen!« Wir sollten alle begreifen, erstes Menschenrecht müsse es sein, nicht unter dem Damoklesschwert dieser Bedrohung leben zu müssen. Die eigene Mitschuld an der Erzeugung dieser Gefahr zerreißt Sacharow innerlich. Und wohl alle in der Runde denken daran, dass seine schwere Herzkrankheit auch Ausdruck seines inneren Konfliktes sein dürfte. Am besten versteht ihn aus unserem Kreis Robert McNamara, den seine Vietnam-Schuld ähnlich quält. Die beiden Männer wachsen in unserer Runde zu Freunden zusammen. McNamara wird seine große Vietnam-Autobiographie 1995 mit den Worten abschließen: »Andrej Sacharow sagte: ›Die Verminderung des Risikos, dass die Menschheit in einem Atomkrieg ausgelöscht wird, hat absoluten Vorrang vor allen sonstigen Überlegungen!‹ Er hatte recht.«
»Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir die Atomwaffen behalten wollen!« Diese Worte Sacharows gehen mir nie wieder aus dem Kopf, ebenso wenig wie die Verzweiflung, mit der er das sagte. Und das verbindet sich in mir unmittelbar mit dem eigenen und dem Schicksal meiner Familie. Undenkbar, was Hitler angerichtet hätte, wäre er schon im Besitz der Atomwaffe gewesen!
Zusammen mit einigen anderen Stiftungsmitgliedern kann ich Sacharow 1988 zu Reden in die USA begleiten. Viele Amerikaner erwarten einen traumatisierten Ankläger Moskaus, der ihre eigene Hassprojektion verstärkt – und erleben einen Verbündeten...