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E-Book

Moral in Zeiten der Krise

AutorHorst-Eberhard Richter
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783518733752
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Keine Schurkenstaaten, wir allein sind schuld an der fortdauernden Finanzkrise und der Klimabedrohung. Einer ratlosen Politik fehlen die moralischen Kräfte, die für soziale Gerechtigkeit und für Zukunftsvorsorge unentbehrlich sind. Barack Obama stiftet Hoffnung. Aber die kann er nicht als Erlöser, die können wir nur selbst durch Wiedererweckung der Werte erfüllen, die uns abhanden zu kommen drohen. Horst-Eberhard Richter, vom ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau als Analytiker und Therapeut des ganzen Landes bezeichnet, behandelt die großen Fragen, vor denen wir heute stehen. Die Lehre des Vaters der deutschen Friedensbewegung aus seiner reichen therapeutischen Erfahrung und Begegnungen mit Brandt, Gorbatschow, Sir Ustinov und vielen anderen lautet schlicht: Kein anderer Weg kann uns aus den Krisen herausführen als das Erstarken eines neuen moralischen Verantwortungsbewusstseins.

<p>Horst-Eberhard Richter, geboren 1923 in Berlin, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, erhielt er zahlreiche Ehrungen, darunter den Theodor Heuss Preis 1980, die Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main 2002 und die Paracelsus-Medaille der deutschen &Auml;rzteschaft 2008. Er verstarb 2011. </p>

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Leseprobe

»Wir können nicht Menschen bleiben, wenn ...«
Mit Michael Gorbatschow und Andrej Sacharow
für eine Welt ohne Kernwaffen


18 Jahre nach seinem Kanzlersturz stirbt 1992 Willy Brandt, der Politiker der »Compassion«, der Humanist der Gutmenschlichkeit. Viele treffe ich in diesen Tagen, die Tränen vergießen, manche zur eigenen Verwunderung. Haben sie doch gar nicht mehr von dem gewusst, was jetzt in ihnen hochkommt. Mir überträgt die Partei die einführende Rede auf ihrer Berliner Gedenkfeier. Ich sage etwas über die ungewöhnliche Empfindung von Nähe und Liebe zu einem Politiker. Wer auch immer das Wort nimmt, Ignaz Bubis, Felipe Gonzales, Daniel Goeudevert, Günter Grass, Lev Kopelev, jeder möchte etwas von dem zurückgeben, was er bekommen hat. Nur einen möchte ich zitieren, den Botschafter der Gegenseite im Kalten Krieg, Valentin Falin:

»Ich kann aus tiefer Kenntnis der Materie, aus unzähligen Stunden, die ich mit Willy Brandt geschenkt bekommen habe, hier sagen: Ohne Willy Brandt wäre das heutige Europa nicht möglich gewesen. Ohne Willy Brandt wäre es unmöglich gewesen, die Mauer fallen zu lassen. Ohne Willy Brandt wäre der Gedanke an Versöhnung kaum Realität geworden. Ein Gedanke, der uns trotz aller Schwierigkeiten in West und Ost, in Nord und Süd doch Hoffnung gibt. Bevor die Mauern fallen, die auf der Erde stehen, muss man die Mauern in unseren Köpfen, in unserer Seele überwinden. Die Mauern aus Hass, die Mauern aus Voreingenommenheiten, die Mauern aus Misstrauen.

(...)

Ohne Willy Brandt gäbe es keinen Moskauer Vertrag, ohne Willy Brandt gäbe es keinen Warschauer Vertrag. Ohne Willy Brandt gäbe es keine Schlussakte von Helsinki, ohne ihn gäbe es keine Vereinigung Deutschlands.«

Das alles sagt der Ex-Botschafter, der von der Gegenseite aus so genau wie kein anderer die Krisen und Erfolge der russisch-deutschen Beziehungen beobachten konnte. Durch zahlreiche Begegnungen und gemeinsame Interviews sind Falin und ich Freunde geworden. Falin hat die überragende Bedeutung Brandts für die Aussöhnung unserer beiden Völker besser verstanden als die hiesige Öffentlichkeit und mancher heimische Politiker. In seiner Rede hat Falin noch einmal anklingen lassen, was ein Staatsmann vermag, der in den Seelen der Menschen jene Verbundenheit fühlbar macht, aus der heraus eine Versöhnungspolitik geradezu unausweichlich ist.

Mit der bewegenden Gedenkfeier für Willy Brandt bin ich dramatischen Jahren vorausgeeilt, in denen die Krankheit Friedlosigkeit uns mehrfach an den Rand einer tödlichen Katastrophe bringt. Der Exkommandeur der US-Nuklearstreitkräfte General Lee Butler wird später sagen, es war wohl eher eine himmlische Gnade als menschliche Besonnenheit, die uns ein atomares Inferno erspart hat. Ich selbst rede als Vertreter der Internationalen Friedensärzte in Bonn, Washington und Moskau über den atomaren Wahn. Auch der UN-Generalsekretär benutzt diesen Ausdruck. Warum empfinden wir den Nazi-Wahn als barbarisch, finden aber nichts dabei, dass der Hiroshima-Bomber christlich eingesegnet wird, der 200 000 Menschen umbringt? Warum lassen wir diejenigen sich auf Gott berufen, die mit dem Risiko spielen, die Schöpfung zu vernichten?

Aber der Westen phantasiert sich durch eine Märtyrerfigur im östlichen Feindesland als unantastbar. Es ist Andrej Sacharow, Erfinder der russischen Wasserstoffbombe, als Menschenrechtler und Systemkritiker in der UdSSR geächtet und verbannt. Als Kronzeuge des kommunistischen Bösen wird er zur Trumpfkarte für die psychologische Kriegsführung des Westens. Wie durch eine wunderbare Fügung gelange ich in die Nähe dieses Mannes, einer weiteren Schlüsselfigur unserer Epoche.

Aber eins nach dem anderen. Meine kritischen Analysen der Atomrüstungs-Mentalität verschaffen mir verschiedene internationale Vortragseinladungen. Veranstalter sind in der Regel Sektionen unserer ärztlichen Friedensbewegung. Ein heimlicher Wunsch geht in Erfüllung: in Moskau für den Frieden sprechen zu können, nachdem ich als Achtzehn-, Neunzehnjähriger auf Russen geschossen hatte und nachdem später meine Eltern von russischen Besatzungssoldaten getötet worden waren. Bald nach meinem Moskauer Auftritt werden Bergrun und ich zu Gorbatschows großem Friedensforum eingeladen, das am 16. Februar 1987 im Kreml stattfindet. Es kommen Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Kirchenleute, auch Industrielle und Banker, Frauen und Männer aus allen Kontinenten.

Gorbatschow begeistert mit einer großen Rede zum Thema »Für eine atomwaffenfreie Welt, für das Überleben der Menschheit«:

»Uns alle vereint die Gefahr eines nuklearen Todes, einer ökologischen Katastrophe und eines globalen Ausbruchs der Widersprüche zwischen Armut und Reichtum in den verschiedenen Teilen der Welt. (...) Deshalb müssen wir trotz aller zwischen uns bestehender Gegensätze lernen, uns als eine große Familie zu begreifen und entsprechend zu handeln.«

Dies ist das Konzept eines neuen Denkens, das an die Position Willy Brandts anschließt. Die Bewältigung der Probleme dürften wir nicht allein den Politikern überlassen. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssten dazu gehört werden. Die Abrüstung der Atomwaffen müsse vornan stehen. – Er spricht ruhig, aber mit großer Bestimmtheit und Überzeugungskraft.

Es ist eine anspruchsvolle, zu Herzen gehende Rede. Sie will ermutigen und erreicht dieses Ziel. Viele stehen danach an den Ausgängen des Kreml-Saals zusammen, als wollten sie sich ihrer Solidarität gleich hier versichern. Zusammen mit dem Atomphysiker Hans-Peter Dürr sammle ich ein paar Leute. Wollen wir uns nicht zusammentun, auch noch andere gewinnen, um daran weiterzuarbeiten, was Gorbatschow fordert?

Bald sind wir acht, darunter Evgenii Velikov, Vizepräsident der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Ihm gefällt unser Plan. Er erzählt später Gorbatschow, was wir vorhaben. Anderntags begrüßt Gorbatschow unsere Idee im Plenum. Andere schließen sich uns an. Es ist die Geburtsstunde einer Initiative, die sich später »International Foundation for the Survival and the Development of Humanity« nennen wird. Am Ende werden wir 30 Leute sein, darunter Susan Eisenhower, Robert McNamara, US-Ex-Verteidigungsminister, später Präsident der Weltbank, John Sculley, Chief Executive Officer von Apple Computers, David McTaggart, Chairman von Greenpeace International – und Andrej Sacharow, den die Welt immer noch in quälender Verbannung wähnt.

Wir treffen uns in Triest, Stockholm, Washington und mehrmals in Moskau, wo Gorbatschow uns jedes Mal empfängt, uns zuhört und mit uns redet wie in einer vertrauten Runde. Gorbatschow fragt jeden von uns, was den Einzelnen oder die Einzelne bewegt und was wir erwarten. Zu einer denkwürdigen Szene wird eine in großer Offenheit geführte Auseinandersetzung zwischen Sacharow und Gorbatschow. Hier der aus der stalinistischen Verbannung in Gorki befreite standhafte Menschenrechtler, dem die Stalinisten die Entgegennahme des Friedensnobelpreises verboten hatten, dort der Führer der kommunistischen atomaren Weltmacht. Beide im Kampf um die Menschlichkeit in einem apokalyptischen Drama.

Ungeniert kritisiert Sacharow die immer noch unbefriedigende Menschenrechtslage in der UdSSR: Funktionärswillkür, unwürdiger Strafvollzug usw. Gorbatschow hört ruhig zu, gesteht Missstände ein, zeigt Verständnis für Sacharows Ungeduld. Er wünsche selbst die Humanisierung zu beschleunigen, aber die Hindernisse aus langer Tradition ließen sich nur schrittweise überwinden. In keinem Augenblick kehrt Gorbatschow den Machthaber heraus, während Sacharow der Respekt vor Gorbatschows Glaubwürdigkeit anzumerken ist. Es sind zwei, die auf gleicher Augenhöhe das Ziel einer versöhnten Welt vor sich haben.

Ein zentraler Punkt macht beide zu Verbündeten. Es ist das Verlangen, die Nuklearwaffen bis zum Jahre 2000 aus der Welt zu schaffen. Bis heute geht mir nach, mit welcher Verzweiflung Sacharow uns bedrängt, den Kampf gegen die Atomwaffen über alles zu stellen. »Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir diese Waffen behalten wollen!« Wir sollten alle begreifen, erstes Menschenrecht müsse es sein, nicht unter dem Damoklesschwert dieser Bedrohung leben zu müssen. Die eigene Mitschuld an der Erzeugung dieser Gefahr zerreißt Sacharow innerlich. Und wohl alle in der Runde denken daran, dass seine schwere Herzkrankheit auch Ausdruck seines inneren Konfliktes sein dürfte. Am besten versteht ihn aus unserem Kreis Robert McNamara, den seine Vietnam-Schuld ähnlich quält. Die beiden Männer wachsen in unserer Runde zu Freunden zusammen. McNamara wird seine große Vietnam-Autobiographie 1995 mit den Worten abschließen: »Andrej Sacharow sagte: ›Die Verminderung des Risikos, dass die Menschheit in einem Atomkrieg ausgelöscht wird, hat absoluten Vorrang vor allen sonstigen Überlegungen!‹ Er hatte recht.«

»Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir die Atomwaffen behalten wollen!« Diese Worte Sacharows gehen mir nie wieder aus dem Kopf, ebenso wenig wie die Verzweiflung, mit der er das sagte. Und das verbindet sich in mir unmittelbar mit dem eigenen und dem Schicksal meiner Familie. Undenkbar, was Hitler angerichtet hätte, wäre er schon im Besitz der Atomwaffe gewesen!

Zusammen mit einigen anderen Stiftungsmitgliedern kann ich Sacharow 1988 zu Reden in die USA begleiten. Viele Amerikaner erwarten einen traumatisierten Ankläger Moskaus, der ihre eigene Hassprojektion verstärkt – und erleben einen Verbündeten...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch/Inhalt2
Impressum4
Motto7
Inhaltsverzeichnis9
Vorwort und Danksagung13
Teil I – Die Innenwelt des Politischen15
Einführung17
Begleiter, Analytiker und Chronist der Nachkriegsjugend21
Anpassung ist keine Option: Paul Parin27
Aufklärung gegen Hörigkeit und Verdrängung: Alexander Mitscherlich31
Politik der »Compassion«: Willy Brandt33
Macht und Staatsräson: Helmut Schmidt36
Mehr Weiblichkeit ist mehr Menschlichkeit41
»Wir können nicht Menschen bleiben, wenn …« Mit Michael Gorbatschow und Andrej Sacharow für eine Welt ohne Kernwaffen45
Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind53
Warum zerstören sich diese hochintelligenten Wesen selbst? Eine Schauergeschichte57
Das Unmögliche ist möglich: Nelson Mandela64
Politik ist so, wie die Menschen sind, die sie machen67
Teil II – Politik und psychische Krankheit73
Friedlosigkeit ist eine seelische Krankheit: Carl Friedrich von Weizsäcker75
Allmachtswahn als Schutz vor Ohnmachtsangst? Der Gotteskomplex und seine Konsequenzen77
Götter in Weiß81
Ärzte in politischer Mitverantwortung – Ein Kongress und die Folgen83
Medizin und Gewissen heute88
Der psychoanalytische Zugang zu den Impulsen der Vernichtungsmedizin – Eine Fallstudie93
Teil III – Von Ost nach West99
Vom Kalten Krieg in den unkontrollierten Kapitalismus101
Der Verlust des Wertebewusstseins104
Zwei Grenzgänger und ihre Fragen nach der Bedeutung der Religion in der Gegenwart107
Wege zur Humanisierung der Gesellschaft: Zehn Jahre Ost-West-Symposium »Politische Selbstbesinnung«118
Teil IV – Sich selbst in den anderen wiedererkennen127
Eine Gefälligkeit für Peter Ustinov129
Von der Gläubigkeit zur Ratlosigkeit132
Gebundenheit und Mitverantwortung136
Technik und Naturwissenschaft als Weltreligion? Meine Freundschaft mit Joseph Weizenbaum139
Ein Zeitalter der Empathie durch technische Vernetzung?154
Psychische Korruption, das Klimaproblem und die Verdrängung der Zukunft157
Zukunft, das sind die Kinder162
Die Angst vor dem Islam169
Flexibilität, ein zwielichtiges Machtwort des Zeitgeistes174
Ist die Welt reif für Obamas Ideen?178
Psychische Korruption und Missbrauch in der Kirche182
Zeit für einen moralischen Aufbruch185
Literaturverzeichnis188

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