II. Europas neue Koordinaten der Macht: Wie es zum deutschen Europa kommt
1. Das bedrohte Europa und die Krise des Politischen
Angesichts weltpolitischer Verwerfungen, die eingespielte Erwartungen ins Leere laufen und die vertrauten Instrumente der Theorie sowie der Politik versagen lassen, ist unter Intellektuellen heute oft eine Art Fluchtreflex zu beobachten. Dies gilt nicht zuletzt für die Sozialwissenschaften, die in ihren Theorien und empirischen Studien zumeist nach der Reproduktion der gesellschaftlichen und politischen Ordnung fragen, nicht aber nach ihrer Transformation.22 Selbstverständlich ist auch in diesen Ansätzen so etwas vorgesehen wie sozialer Wandel, allerdings wird dabei durch alle Umbrüche hindurch immer wieder gefragt, wie sich trotz aller Veränderungen die nationalstaatliche Ordnung der Gesellschaft und Politik reproduziert.23
Betrachtet man allerdings die einschneidenden Ereignisse und Trends der letzten Jahrzehnte – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Anschläge des 11. September, den Klimawandel, die Finanz- und Euro-Krise –, fällt auf, daß ihnen zwei Merkmale gemeinsam sind: Zum einen waren sie vor ihrem Eintritt unvorstellbar; zum anderen sind sie in ihrem Charakter und ihren Folgen global. Es handelt sich im wörtlichen Sinn um Weltereignisse, welche die immer engere Vernetzung der Handlungs- und Lebensräume erfahrbar machen und nicht länger mit den Instrumenten und Kategorien des nationalstaatlichen Denkens und Handelns erfaßt werden können. Im Kontext des Paradigmas der Reproduktion der nationalstaatlichen Ordnung waren sie nicht nur praktisch unvorstellbar, sondern sie fallen grundsätzlich aus diesem Bezugsrahmen heraus und stellen ihn somit in Frage. Demgegenüber setzt die Theorie der Risikogesellschaft bewußt bei den Selbstgefährdungen der Moderne an und stellt die Frage ins Zentrum, wie angesichts drohender Katastrophen die nationalstaatliche Ordnung brüchig wird und wie sich das Verständnis von Macht, von sozialer Ungleichheit und vom Politischen als solchem verändert. In bezug auf die Europa-Krise lassen sich in diesem Horizont drei Thesen formulieren:
Erstens: Wir erleben heute eine Inflation der drohenden Katastrophen und Zusammenbrüche. Allerdings muß an dieser Stelle klar unterschieden werden zwischen der Katastrophe und der Rhetorik der Katastrophe. Genau das meint der Risikobegriff in der Theorie der Risikogesellschaft: Die Rede von Risiken bezieht sich stets auf in der Zukunft drohende Katastrophen, die es in der Gegenwart zu antizipieren und zu verhindern gilt.24 Im Rahmen der Euro-Krise heißt das: Zwar gibt es schon jetzt dramatische persönliche und soziale Katastrophen (viele Griechen können sich keine Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte mehr leisten; etwa die Hälfte der spanischen Jugendlichen ist arbeitslos), doch was die Schlüsselinstitutionen des Euro und der Europäischen Union betrifft, befinden wir uns immer noch im Zustand des Risikos.25 Die eigentliche Katastrophe, die an die Wand gemalt wird, wäre der Zerfall der Währungsunion, die in einer Kettenreaktion möglicherweise die Europäische Union als Ganzes und die Weltwirtschaft in den Abgrund reißen könnte. An dieser Stelle begegnen wir also wieder dem katastrophischen Konjunktiv, der den Interpretationsrahmen dieses Essays bildet.
Viele verwechseln die Risikogesellschaft mit einer Katastrophengesellschaft. Letztere wäre so etwas wie die Titanic-Gesellschaft: In ihr regiert das »Zu spät«, der schicksalhafte Untergang, die Panik der Aussichtslosigkeit. In meinem Ansatz geht es – um im Bild zu bleiben – darum, daß die Klippe noch »umschifft« werden kann, wenn man umsteuert. Insofern gibt es hier eine Wahlverwandschaft zwischen der Theorie der Risikogesellschaft und dem Blochschen Prinzip Hoffnung.
Zweitens: Wie andere Großrisiken (man denke etwa an die Kernkraft oder den Klimawandel) ist auch das Europa-Risiko prinzipiell unkontrollierbar. Der Eintritt der Katastrophe läßt sich mit den verfügbaren Instrumenten der Vorhersage und der Vorsorge, des Unsicherheitsmanagements und der Versicherbarkeit weder kalkulieren noch beherrschen. Die historische Besonderheit liegt dabei darin, daß die Unkontrollierbarkeit in diesem Fall hausgemacht, ja politisch gewollt war: Man hat eine gemeinsame Währung eingeführt, ohne gleichzeitig Institutionen zu gründen, um die Wirtschafts- und Finanzpolitik der einzelnen Euroländer wirksam zu überwachen und zu koordinieren.
Drittens: Risiko enthält die Botschaft: Es ist höchste Zeit zu handeln! Risiko reißt die Menschen aus ihrem Trott, die Politiker aus den sogenannten Sachzwängen. Risiko ist nicht länger akzeptierte Alltagsunsicherheit und noch nicht eingetretene Katastrophe. Risiko öffnet die Augen, weckt zugleich die Hoffnung auf einen positiven Ausgang. Das ist die Paradoxie der Ermutigung durch globale Risiken. Risiko ist insofern immer auch eine politische Kategorie, schließlich befreit es die Politik von alten Regeln und institutionellen Fesseln.
Weil so viel auf dem Spiel steht, sind heute plötzlich Optionen auf der Tagesordnung, die bis vor kurzem noch als völlig abwegig galten und nur von Außenseitern verfochten wurden: »Finanztransaktionssteuer«, »Eurobonds«, »Bankenunion«, »Banklizenz« – hinter all diesen Kunstworten, die bei den einen Nicken, bei den anderen Kopfschütteln auslösen, verbergen sich kleine Revolutionen. So haben wir es bei der »Bankenunion« mit einer technokratischen Utopie zu tun, mit der das nationale Haushaltsrecht, ein von den Verfassungen geschütztes Heiligtum der Demokratie, durch Eingriffe aus Brüssel oder Frankfurt in Frage gestellt würde. Gleichzeitig faßt man eine »Haftungsgemeinschaft« ins Auge, die alles auf den Kopf stellt, was bislang als selbstverständlich galt, nämlich daß es ausgeschlossen ist, daß beispielsweise die Deutschen mit ihrem Geld für den – wie es dann oft heißt – »Leichtsinn der Südländer« geradestehen müssen, die »über ihre Verhältnisse gelebt« haben.
Einmal mehr sehen wir: Wo die Erwartung der Katastrophe das öffentliche Bewußtsein bestimmt, verändern sich die Grundlagen von Gesellschaft und Politik, die alten Institutionen passen nicht mehr wirklich zu den Problemen, die Regeln können, ja müssen geändert werden. Damit öffnen sich Spielräume für Aushandlungsprozesse, für kleine und größere Revolutionen, ja für das bislang Undenkbare. Auch wenn in vielen einschlägigen Theorien behauptet wird, die Politik sei am Ende,26 erleben wir gegenwärtig das genaue Gegenteil: eine Zeit, in der neue Formen des Politischen beginnen.
Welche Richtung die Transformation der nationalstaatlichen Ordnung von Gesellschaft und Politik letztendlich nehmen wird, ist prinzipiell offen. Denkbar sind zumindest zwei ganz unterschiedliche Szenarien, die ich als hegelianisches Szenario und als Carl-Schmitt-Szenario bezeichnen möchte.
Im ersten Fall geben die nationalen Egoismen solange die Antworten auf die Krise vor, bis der politische Karren namens Europa mit beiden Vorderrädern über der Klippe hängt. In dieser Situation könnte der Blick in den Abgrund dann heilsame Kräfte entfalten, wenn die Akteure in allerletzter Minute erkennen, daß weitere Alleingänge notwendigerweise in die Katastrophe führen müssen. Gleichsam »hinter dem Rücken« der nationalegoistisch Handelnden würde sich somit der kosmopolitische Imperativ des »Kooperiere oder gehe unter« durchsetzen. Insofern erhält Hegels »List der Vernunft« hier eine historische Chance.
Im Zentrum dieses Szenarios stehen zwei Fragen: Wie kann im Zeitalter der globalen Risiken die Handlungsfähigkeit der Politik wiedergewonnen werden? Und: Wie läßt sich die transnationale Kooperation auf demokratische Weise bewerkstelligen? Wie lassen sich etwa das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente und die Notwendigkeit, schnell und entschlossen auf neue Krisenereignisse zu reagieren, versöhnen? Wie können wir die Demokratie auf der europäischen Ebene stärken?
Das Carl-Schmitt-Szenario ist deutlich düsterer. Wie ich oben bereits dargelegt habe, bringt die Antizipation der Katastrophe die politische Landschaft in Bewegung, so daß sich ein machtstrategisches Spiel eröffnen lässt. Neue Optionen kommen auf den Tisch, Risiken können gezielt als Instrument der Ermächtigung eingesetzt werden. Hier begegnen sich die Theorie der Risikogesellschaft und Carl Schmitts Überlegungen zum Ausnahmezustand. »Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall«, heißt es bei Schmitt. »Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.«27 Im Ausnahmezustand, also im »Fall äußerster Not«, im Fall der »Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen«,28 ist es legitim, die bestehende Ordnung zu suspendieren, um das Gemeinwohl zu verteidigen. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«29 Wo bei Schmitt allerdings die Bedrohungslogik des Krieges im Zentrum steht, ist es im Rahmen der Theorie der Risikogesellschaft die Logik des Risikos.
Die Risikogesellschaft ist eine (latent) revolutionäre Gesellschaft, in der Normal- und Ausnahmezustand nicht länger säuberlich zu trennen sind. Im Umgang mit der Bedrohung, die den Bestand des Euro und der Europäischen Union in Frage stellt, wird implizit auch über einen Ausnahmenzustand verhandelt, der nicht mehr...