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E-Book

Rasende Ruinen

Wie Detroit sich neu erfindet

AutorKatja Kullmann
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl90 Seiten
ISBN9783518780909
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

»Detroit, das sind die USA in nackt und ohne Make-up. Reich und Arm stecken ihre Lebensräume neu ab, und im Augenblick ist ziemlich unklar, wer gerade wen von wo genau vertreibt. Eine strauchelnde Gesellschaft ringt um einen Ort, der keine Mitte mehr hat - ganz wie sie selbst.«

Leere, Armut, Gewalt: Detroit gilt als die gefährlichste und traurigste Großstadt der USA. Nirgends hat die Krise so brutal zugeschlagen wie hier. Hunderttausende sind geflüchtet, geblieben sind allein die Verlierer. Doch nun ziehen junge, kreative Leute mit wenig Geld, aber vielen Ideen ins Zentrum der Asphaltwüste, eröffnen Ateliers und Cafés. Investoren und Stadtplaner schwärmen bereits: »Detroit wird das Berlin der USA.« Katja Kullmann hat Detroit im Herbst 2011 besucht. Mit obdachlosen Jazz-Musikern, superreichen Shopping-Mall-Investoren und Techno-Aktivisten sprach sie über ihr Detroit - und über die brutalen Realitäten einer Gesellschaft, die verzweifelt um ihre Mitte ringt.



<p>Katja Kullmann, geboren 1970, ist Essayistin und Sachbuchautorin. 2011 erschien ihr vieldiskutiertes Buch <em>Echtleben</em><em>. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben</em>.</p>

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Leseprobe

»Wenn Du nach Detroit fährst, besorg Dir ein Hoody.«


Auf dem glänzenden Holzboden meiner mitteleuropäischen Mittelklasse-Wohnung liegt ein blauer Rollkoffer, aufgeklappt und leer. Der Kofferdeckel lehnt am Fuß meines Komfort-Betts. Oben auf dem Bett, auf den weißen Flauschdecken, die vertrauenerweckend nach Frühling duften, sind Kleidungsstücke ausgebreitet, auf wirre Art. Da wären: drei namenlose Jeanshosen, zwei reizlose BHs, sechs fade Langarm-Shirts, ein Karohemd in Größe L, fünf T-Shirts in Größe S und ein Parka unbestimmter Herkunft (eine Deutschlandfahne ist jedenfalls nicht draufgenäht); zwölf Knäuel Wollsocken, zwölf Damenslips, einmal Rei in der Tube; außerdem eine Gürteltasche für Geld, Kreditkarten und Papiere, die 17,99 Euro gekostet hat, das Preisschild hängt noch dran. Sie ist fleischfarben, aus wasserabweisendem Material gefertigt, mit Geheimfach-Garantie und Super-Safety-Reißverschlüssen, made in Germany. Schusssicher ist sie nicht. Schusssichere Gürteltaschen gibt es nicht, habe ich mir sagen lassen.

Vor dem Bett steht ein Paar Turnschuhe, weiß, mit dünnen roten Streifen und noch dünneren Sohlen. College-Look. Preppy Style. Golfschuh-Tradition. Streichelzartes First-Class-Leder, fein gelocht. Ich spiele kein Golf. Ich habe die Schuhe extra mal gekauft, zum Spaß. Jetzt stelle ich fest: Es sind die einzigen Turnschuhe, die ich besitze, und zufällig sind es komplett lächerliche Vollidioten-Sneakers. Sie sehen harmlos und teuer aus, das macht sie lebensgefährlich. Ich gebe ihnen einen Kick, und sie fliegen ein paar Meter durch mein young-urban-professional-home, dessen Miete deutlich über dem Hamburger Durchschnitt liegt.

Ich wohne in einer der begehrtesten Ecken der zweitgrößten Stadt Deutschlands, in einem aufreizend verwinkelten Viertel, das als eines der kreativsten der Stadt gilt. Hier herrscht der Charme der kurzen Wege. Dutzende Bars und Cafés gibt es, einen Radiosender, einen Comic-Verlag, zwei Magazin-Redaktionen und ein Kino, Bäckereien, Blumenläden, einen Wochenmarkt, eine Bonbon-Manufaktur, Supermärkte in drei verschiedenen Preisklassen, zwei kleine Theater, drei Yoga-Studios, etliche Friseursalons und Kindertagesstätten, Asia-, Orient-, Fisch- und Schwaben-Restaurants, einen Plattenladen, drei Buchhandlungen, eine Handvoll Resterampen, vier Handy-Shops, das eine oder andere Designer-Lädchen, jede Menge Street Art und ein paar echt urige Änderungsschneidereien. »Es liegt so herrlich zentral, aber wenn man nicht will, muss man das Viertel gar nicht verlassen, man findet hier alles, was man braucht, in maximal zehn Minuten Fußweg«, sagen die Leute und loben das Flair. Jeder, wirklich jeder, der es, aus welchem Grund auch immer, nicht nach Berlin geschafft hat, will hier wohnen. Und auch überhaupt und ganz generell wollen heute alle und überall so wohnen: mitten in der Stadt, aber gemütlich.

Ein merkwürdiges Knurren rollt aus meiner Kehle, das hatte ich nicht vor. Ich stehe vor dem großen Spiegel in meinem Schlafzimmer und versuche, so fertig, verloren und gefährlich auszusehen, wie es mir aus dem Stand möglich ist. Wie macht man das noch mal: den Blick verfinstern?

Einen Kapuzenpulli habe ich übergezogen, schon mal zur Probe. Meinen Unterkiefer schiebe ich vor, auf motzige Art, meine Schultern lasse ich schwer hängen. »Wenn Du nach Detroit fährst, besorg Dir ein Hoody«, schreiben sie im Internet.8 Es gibt eine Reihe von Portalen, auf denen herumreisende US-Bürger sich von ihren Erlebnissen an verschiedenen Orten der Welt erzählen, besonders gern von Erlebnissen in unterschiedlichen amerikanischen Städten. Amerikaner lieben bekanntlich Rankings aller Art, sie haben ja eine Charts-Kultur da drüben, eine Top-Twenty-Mentalität. Beim Ortsvergleichsportal virtualtourist.com las ich Folgendes: »Wenn Du weiß bist, egal ob privilegiert oder nicht, oder wenn Du eine Frau bist, bist Du in Detroit automatisch eine Zielscheibe. Wenn Du alleine ein Stück zu Fuß gehen musst, dann geh zügig und tu so, als seist Du tough. Wenn Du Dich von jemandem bedroht fühlst, spring auf die Straße und benimm Dich wie ein Irrer, laufe auf die Autos zu, rede mit Dir selbst, laut und verrückt, tu so, als seist Du völlig durchgeknallt.« Ein anderer User rät: »Vermeide es, in bestimmten Stadtteilen bestimmte Gang-Farben zu tragen.« Der Kapuzenpulli ist schwarz, auf seine Vorderseite aufgeflockt sind ein orangefarbener Basketball und die Aufschrift »Arroyo«. Das Hoody gehört mir nicht, es ist viel zu groß, jemand hat es mal in meiner Wohnung vergessen. Jetzt googele ich »Arroyo AND Basketball« und finde heraus, dass Carlos Alberto Arroyo Bermudez ein puerto-ricanischer Basketball-Star ist, der derzeit bei den Boston Celtics unter Vertrag steht. Boston ist East Coast. Boston ist Preppy Style. Und so schreibe ich »1-2 Hoodies, NEUTRAL / H&M? C&A? + Turnschuhe!!!« auf meinen Einkaufszettel.

*

Motor City, Shrinking City, Problem City. Wenn man von der East Coast anreist, bildet Detroit das Eingangstor zum Mittleren Westen. Einst war die Stadt ein magnetischer Punkt auf der Karte des unternehmungslustigsten Landes der Erde, des Landes, in dem die Siedler und Pioniere von Generation zu Generation ihre Geschichten weitererzählen, und immer geht es in den Geschichten darum, etwas Neues zu erschließen – in the pursuit of happiness.

Hunderttausende zogen Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Süden der USA in den Norden, wo Stahl zum wichtigsten Konsum- und Kulturgut jener Tage verarbeitet wurde: dem Automobil. Es war die Ära, in der die Fließbänder bei Ford, Chrysler und General Motors heiß liefen, eine Zeit, in der ein fleißiger Mann seine Familie mit ganz unironischer Arbeit halbwegs sorglos durchbringen konnte. Der landwirtschaftlich geprägte Süden schien damals auf dem letzten Loch zu pfeifen. Viele waren auf der Flucht vor Rassismus und Verelendung. Nirgends waren die Fabriken größer als in Detroit. Als Schlüsselmoment des örtlichen Aufschwungs gilt der 5. Januar 1914, das Datum, an dem Henry Ford den Fünf-Dollar-pro-Tag-Standard in seinen Werken einführte. Kein Arbeiter sollte ab sofort weniger verdienen. Fünf Dollar am Tag, das war fast doppelt so viel, wie normalerweise in der Industrie gezahlt wurde. Auf heutige Kaufkraft-Verhältnisse umgerechnet, entspricht das 120 Dollar am Tag oder einem Jahreseinkommen von rund 40 000 Dollar – was annähernd dem derzeitigen Median der Haushaltseinkommen in den USA entspricht.9 Es war eine kleine Lohnrevolution, die sich damals in Detroit zutrug. Wirtschaftshistoriker sprechen vom Startschuss des Fordismus und vom Beginn des amerikanischen Wohlfahrtskapitalismus.

Detroit galt nicht nur als attraktiver Hochlohnstandort, sondern auch als Herd der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, und für jeden, der ordentlich mitschaffte, gab es bald ein eigenes Auto und die Aussicht auf ein kleines Häuschen, a family home auf eigenem Grund und Boden. Vom exzessiven Straßenbau profitierten beide, sowohl die Konzerne als auch die entstehende blue collar middle class. Für die einen bedeuteten die Straßen eine indirekte staatliche Subvention ihrer Produkte, den anderen erleichterten sie den Zugang zu einem American-Beauty-Leben mit aufgeräumten Blumenbeeten und einem Sternenbanner im sauber parzellierten Vorgarten. Für eine ganze Weile funktionierte Detroit so als der Maschinenraum des amerikanischen Traums. Bloß dass beides hier ins Megalomane ausartete: das Ausmaß der Asphalttrassen, der Highways, Freeways, Interstates – und die damit einhergehende Zersiedelung in Hunderttausende, oft mickrig kleine, kreditfinanzierte Eigenheimparadiese. »Sprawl« nennen Soziologen diesen Prozess: Eine Stadt entkernt sich selbst und zerfleddert auf einer immer größeren Fläche in einzelne Nachbarschaften, villages und suburbs von unterschiedlichem Ruf. – Heute zählt die Stadt zum »Rust Belt«, zum »Rostgürtel« der USA. So nennt man inzwischen die von Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen geschlagene Industrieregion im Norden. Neben Detroit hat es auch Cleveland im Nachbarstaat Ohio getroffen, Pittsburgh in Pennsylvania, Baltimore in Maryland, St. Louis in Missouri und zahlreiche andere Heimatorte der alten Metallerei. Mehr als 320 000 Jobs sind in der Region allein in den nuller Jahren verloren gegangen. Die Arbeitslosenquote in jenem Landesteil liegt bei gut elf Prozent, also etwa drei Prozent über dem US-Mittel und etwa doppelt so hoch wie der deutsche Durchschnitt, vergleichbar den Raten in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern, nur dass das Gebiet des Rust Belt ungleich größer ist als das der neuen Länder.10

Am Geburtsort des Fordismus schlägt der Post-Fordismus mit besonderer Härte zu: Im großen »D« betrug die Arbeitslosenquote im vergangenen Jahrzehnt zwischen 15 und 30 Prozent. Heute liegt sie in einigen Vierteln vermutlich bei 50, in manchen Blocks vielleicht auch bei 78 Prozent. Detroit ist eindeutig die größte und traurigste der Rostgürtel-Städte. Manche (vor allem Leute, die nicht in Detroit wohnen) empfinden einen lustvollen Grusel beim Anblick der zerfallenden Gebäude. Etliche Fotobände, schwere, dicke Kunstbücher, die in ausgewählten Art-Editionen erscheinen, zeigen die Ruinen von allen Seiten, von innen und außen, bei Regen und bei Sonne, in ästhetisierter Variante, auf teurem Papier.11 Der Boom der Detroit-Ruinen-Foto-Alben begann in den nuller Jahren, dem Jahrzehnt, in dem die sogenannte »Krise« in die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch/Inhalt3
Impressum5
Inhalt6
Vorwort: »Bloß kein Ruinen-Porno mehr!«8
»Wenn Du nach Detroit fährst, besorg Dir ein Hoody.«12
»Detroit hat immer einen Song auf Lager.«22
»Ich würde die Stadt einfach mit 100 000 Künstlern fluten.«30
»Wir brauchen neue Schock-Truppen.«44
»Es ist ein Ort voll weiblicher Kraft.«58
»Wir sind autonom. Und wir werden mehr.«68
Nachwort: »Solidarity is the new sexy.«86
Dank90
Anmerkungen92

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