Dünnes Eis
Auszug aus dem Pflegebericht
Um ca. 23.50 Uhr habe ich bemerkt, dass die Bewohnerin im Schwesternzimmer die Fenstertür geöffnet hat. Ich bin rausgegangen, um nachzusehen, ob jemand draußen ist. Da ich niemanden sah, habe ich die Station abgesucht und gemerkt, dass die Tür zum Zimmer der Bewohnerin offen stand, diese selbst aber nicht in ihrem Bett lag. Danach bin ich zu ihrem Lebensgefährten gegangen, wo sie aber auch nicht war. Dann habe ich die Polizei angerufen und die Situation geschildert. Um ca. 0:30 Uhr waren die Beamten vor Ort. Sie suchten das ganze Haus ab, während eine zweite Streife die Umgebung des Hauses absuchte. Schließlich fand man die Bewohnerin in der Höhe der Höfe Lohmann. Um ca. 1:20 Uhr war sie wieder im Heim.
Das sind keine guten Nachrichten. Ein Polizeihubschrauber mit Wärmebildkamera soll schon startbereit gewesen sein, als meine Mutter doch noch wieder auftauchte.
Die Bewohnerin konnte sich noch an ihren nächtlichen Ausflug erinnern. Sie hatte nicht vor, gezielt wegzulaufen. Sie meinte, dass sie einen Kurzschluss im Gehirn hatte und immer dem Licht nachgelaufen ist. Bewohnerin ist auch am Tag völlig orientierungslos.
Immerhin kann sie sich ihren Ausflug auch am nächsten Tag noch ins Gedächtnis rufen. Egons Herz hat die Aufregung vermutlich nicht allzu gut getan. Ich frage mich, was das war: Der Fluchtversuch einer erwachsenen Frau? Der nächtliche Spaziergang einer hilflosen Person? Was hat sie getrieben? Neugier, Panik? Meine Mutter will nicht darüber reden. Die »Angelegenheit« ist ihr etwas unangenehm. Und doch glaube ich bei ihr auch eine Prise Genugtuung über diesen Akt der souveränen Selbstbestimmung zu erkennen.
Die Demenz und der Umzug ins Heim sind ein Bruch in ihrem Leben. Es passt nicht. Noch nicht, hoffe ich. Egon ist eine Stütze, obwohl er selbst mit gesundheitlichen Problemen kämpft und mit seinem Schicksal hadert. Immer wieder erinnert er sich und uns an die schwierigen Umstände, die er im und nach dem Krieg bewältigen musste. Es klingt, als ob er seinen Umzug ins Heim mit einer Art Gefangenschaft vergleicht. Die beiden sind im Moment jeder für sich bestimmt nicht glücklich, aber sie sind ein Paar, das zusammenhält, das sich bemüht, den Alltag zu bewältigen, der neuen Situation etwas abzugewinnen. Sie motivieren sich gegenseitig zu kleinen Spaziergängen, erinnern sich an die Einnahme ihrer Medizin und bewahren gemeinsam Haltung. Dass die beiden rührend zusammenhalten, ist ein Trost und auch eine Entlastung. Ich wüsste nicht, wie es anders gehen sollte.
Oft liege ich in dieser Zeit nachts wach, denke an meine Mutter, an ihr Schicksal. Es sind traurige Gedanken. Ich möchte sie retten und beschützen und merke, dass meine Ressourcen langsam ausgereizt sind. Ich arbeite freiberuflich, bin immer wieder auf Reisen, auch meine Frau ist berufstätig. Wir sind froh, dass es gelingt, die Kinder gut großzuziehen. Für einen Pflegefall im Haushalt ist kein Platz, keine Zeit, keine Kraft. Bei meinem Bruder ist es genauso. Meine Mutter hatte nie die Erwartung geäußert, bei uns alt zu werden. Sie hätte sich aber wohl auch nicht dagegen gewehrt. Aber es geht nicht. Das heißt, ich will dieses Leben, wie ich es führe und liebe, nicht aufgeben. Punkt. Oder besser »Komma«, denn ein Unbehagen bleibt. Ich bemühe mich, sie so oft wie möglich zu besuchen, obwohl ich mich mit der Atmosphäre im Heim noch nicht wirklich anfreunden kann.
Anfangs musste ich häufig an das düstere Altenheim in Michels Lönneberga denken, dessen Bewohner eher dahinvegetieren denn leben, bis der kleine Held sie befreit. Das Altenheim meiner Mutter ist modern und hell. Und doch ist die Atmosphäre von einer Art Warten auf Godot-Stimmung beherrscht. Obwohl … Eigentlich ist es ein Warten auf den Tod.
Ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen. Es gelingt mir nicht. Ich suche Bilder für das, was passiert … Eine Existenz, auf Glas gemalt. Es zeigen sich erste Sprünge, anfangs sind es kleine Scherben, die herausfallen, dann große Scherben. Der Versuch zu flicken und zu kleben, das Bild irgendwie aufrechtzuerhalten. Einzelne Bruchstücke tauchen tatsächlich wieder auf, landen aber an der falschen Stelle. Der Spiegel wird zum Mosaik mit vielen Löchern und unsinnigen Überlappungen. Eine kubistische Existenz. Doch auch die Restscherben brechen in immer kleinere Stücke. Am Ende bleibt ein Haufen Glassand. Das komplette Vergessen. Für mich ein Albtraum. Und für meine Mutter?
Was in solchen Nächten wächst, ist das Bewusstsein für das dünne Eis, auf dem ich ein erfülltes Leben führe. Mir wird klar, wie sehr ich dieses Leben liebe, wie banal manche Alltagssorgen eigentlich sind. Und wie ich selbst diese Sorgen im Grunde schätze.
Vor meinem nächsten Besuch erzählt mir meine Schwägerin Mago, dass sich meine Mutter nach wie vor sehr für Modekataloge interessiere, dass sie zu ihrem Bedauern aber nichts wirkliches Passendes fände – mit Ausnahme eines attraktiven Bikinis. Bei der Begrüßung berichtet meine Mutter mir dann, dass sie am Vortag mit dem Skiklub unterwegs war und dass sie jetzt in einer anderen Leistungsgruppe fährt. Meist drehen sich die von mir angeregten Gespräche allerdings um ihre und auch meine Kindheit.
Die frühesten und stärksten Erinnerungen halten sich am längsten. »Last in, first out«, das Ribot’sche Gesetz, benannt nach dem 1881 geborenen Nervenarzt Thédule Ribot. Mir fällt auf, dass sich meine Mutter kaum noch nach meinem aktuellen Leben und dem meiner Familie erkundigt.
Eine Pflegerin kommt. Sie spricht freundlich, doch wohl auch für meine Mutter zu laut und bringt diese ungefragt wie ein Kleinkind zur Toilette.
Unsere Gesprächspausen werden mit der Zeit immer länger und wachsen sich zu einer Stille aus, gefüllt mit ihrer Angst und meiner Ratlosigkeit. Am schwersten ist jedes Mal der Abschied.
Vor dem Abendessen wird meine Mutter unruhig. Sie arbeitet an einem Problem.
– Wann geht noch mal der Zug?
Es gibt keine Reise, die für meine Mutter geplant sein könnte, und der nächste größere Bahnhof liegt im dreißig Kilometer entfernten Münster. Die Frage aber ist nicht neu. Immer wieder erkundigt sie sich in den letzten Wochen nach »ihrem Bus« oder »ihrem Zug«.
– Welcher Zug?
– Na, der Zug halt.
Sie schaut mir ins Gesicht. Ihr Blick ist vorwurfsvoll. Ich mag das nicht.
– Wo willst du denn hin?
– Nach Hause.
Die befürchtete Antwort. Sie hofft und glaubt an einen anderen und besseren Ort als diesen hier. Ich kann sie verstehen. Das ändert nichts. Meine Mutter hatte in über siebzig Jahren drei Zuhause: ihr Elternhaus, das längst verkaufte Haus, in dem sie mit meinem Vater, meinem Bruder und mir lebte, und das Haus am Grugapark, in dem sie die letzten zehn Jahre mit Egon verbracht hat und von dem aus sie zuletzt auch »nach Hause« wollte. Das ist mittlerweile allerdings ebenfalls verkauft. Selbst wenn sie völlig gesund wäre, gäbe es für sie kein Zurück in eines dieser »Zuhause«.
– Mama, das hier ist dein Zuhause.
Sie zuckt kurz. Der Vorwurf in ihrem Blick beginnt zu bröckeln. Sie tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen. Es geht darum, Verantwortung für die eigenen Eltern zu übernehmen. Und es geht um die Grenzen des Möglichen und um eine letzte nötige Abgrenzung. Ich bin Mitte vierzig, und doch fühlt sich das alles noch mal an wie die vielleicht letzte Stufe des Erwachsenwerdens. Auch wenn ich daran und dadurch sicher wachse, könnte ich auf das eine oder andere ganz gut verzichten.
– Wann geht noch mal der Zug?
– Mama, es gibt keinen Zug, das hier ist dein Zuhause!
– Das sagst du so.
Ja, das sage ich so. Was soll ich sonst sagen? »Alles wird gut«? Oder: »Schön, dann fahren wir mal«? Oder: »Komm zu uns nach Berlin, dann arbeite ich eben nicht mehr und leiste dir den ganzen Tag Gesellschaft«? Diese Hilflosigkeit macht mir ein schlechtes Gewissen, und über mein schlechtes Gewissen ärgere ich mich noch mehr. Das schlechte Gewissen war ein Teil meiner Erziehung. Keine Ohrfeigen, aber das klar vermittelte Gefühl, dass ich enttäuscht hatte, wenn ich eine Erwartung meiner Eltern nicht erfüllen konnte oder wollte. Spätestens seit meinem 13. Lebensjahr reagiere ich darauf allergisch, was aber auch bedeutet, dass ich gegen diese Methode nicht ganz immun bin.
Ich umarme also meine Mutter und gehe mit genau diesem schlechten Gewissen. Ich weiß – auch das von Nehen –, dass sich der Wunsch von Menschen mit Demenz nach ihrem »Zuhause« weniger auf einen konkreten, einstmals bewohnten Ort als vielmehr auf die diffuse Sehnsucht nach einer heilen Welt bezieht. Als man das in England einmal im größeren Stil untersuchte, stellte man fest, dass Menschen mit Demenz, die man in ihre früheren Wohnungen oder Häuser brachte, sich nicht besser fühlten und sich dort oft nicht einmal mehr zurechtfanden.
Mittlerweile mischt sich auch das Amtsgericht und damit der Staat in unsere Beziehung. Es geht um die offizielle Betreuung. Mein Bruder und ich sind uns sofort einig, die Verantwortung teilen zu wollen. Während ich von Berlin aus den Schreibkram mit Ämtern und Versicherungen erledige und einmal im Monat nach Warendorf fahre, ist mein Bruder mit seiner Frau häufiger und bei Bedarf auch kurzfristig vor Ort. Dass er jetzt insgesamt stärker in die Betreuung eingebunden ist, weil unsere Mutter eher aus Zufall in seiner Nähe lebt, ist eine etwas seltsame Wendung der...