»Alles fing mit einem Lehrer an«
Mohamed Rhounan
Fing wirklich alles mit einem Lehrer an? Oder nicht eher mit den Schülern? Mohamed aus Ratingen bei Düsseldorf wollte schon als Schüler Lehrer werden, und zwar Spanischlehrer. Heute studiert er Spanisch und Englisch im zweiten Semester und hat gerade sein erstes vierwöchiges Schulpraktikum hinter sich. Schon seine Mitschüler sagten: »Ey Mohamed, du musst Lehrer werden, du kannst echt mitreißen!« Was bringt einen großen, sportlich schlanken jungen Mann dazu, sich, kaum ist er der Schule entronnen, wieder der Schule zu widmen? »Ich möchte das, was ich bekommen habe, weitergeben«, sagt er, ohne länger zu grübeln. Was war denn so begeisternd an der Schule?
»Ich hatte einige Lehrer, die an mich glaubten, die mein Talent erkannt und mich von der Hauptschule über die Realschule bis ins Gymnasium gefördert haben.« Bei denen scheint der junge Deutsche mit dem braunen gewellten Haar und dem leicht gebräunten Teint zum Glück an die Richtigen geraten zu sein. Er lächelt fast versonnen, wenn er von ihnen erzählt, während er stolz mit mir durch sein Ratingen schlendert. »Das kenne ich wie meine Westentasche«, sagt er, als wir zum Schreibwarenladen seiner Kindheit kommen, der noch genauso aussieht wie in den 90er Jahren, mit Schulmappen und Buntstiften, Tuschkästen vor der Tür, der 50er-Jahre- Schrift auf dem Schaufenster. »Mein Vater hat in mir die Begeisterung für diese kleine Stadt mit der schönen Altstadt geweckt.« Sie wohnen am Rande der Altstadt.
Mohamed, dessen Eltern aus Marokko stammen – Vater Bergarbeiter und Baggerfahrer, Mutter Hausfrau und Reinigungshilfe –, hat schon früh die Gabe entwickelt, seine Umwelt genau zu beobachten und von ihr zu lernen. Seine Eltern können wenig Deutsch, er aber ist im evangelischen Kindergarten von den Sprösslingen des Vororts Hösel, in dem sie damals wohnten, sprachlich sehr bald kaum zu unterscheiden.
Die Mutter ist von Anfang an in der Familie die Innen- und Bildungsministerin. Sie hat nie Deutschunterricht erhalten, da sie in Deutschland nicht berufstätig war, außer als Putzhilfe im Kindergarten, in den Mohamed vor der Schulzeit ging, als zweites von zwei Ausländerkindern in den 90er Jahren. Die Mütter dieser beiden Kinder, eine Türkin und Latifa, Mohameds Mutter, wurden von der damaligen Erzieherin Frau Weinszieher angesprochen, ob sie nicht aushelfen könnten beim Kita-Reinigen.
Latifa (übersetzt: die Sanftmütige) hatte in Marokko das Abitur bestanden und zwei Jahre als Erzieherin gearbeitet. Nun kam sie endlich aus ihrer häuslichen Isolation heraus und nahm den Job mit Freude an. So konnte sie ein nahes Verhältnis zu der neuen Bezugsperson ihres Sohnes aufbauen, was ihr gelegen kam. Denn Mohameds Mutter war eine sehr behütende Mutter. Zuerst wollte sie dem Kleinen verbieten, an größeren Ausflügen teilzunehmen. Erst als die Erzieherin ihr erklärte, wie wichtig das für Entwicklung und Integration der Kinder in die Gruppe sei, gab sie nach. »Aber nur, wenn Sie besonders auf ihn aufpassen!« »Und seitdem habe ich eben eine besondere Beziehung zu Sohn und Mutter aufgebaut«, sagt die Erzieherin. »Er ist auch ein bisschen mein Sohn geworden.« »Und sie ist wie eine Schwester für mich«, sagt Latifa lachend, die fünfzigjährige resolute und herzliche Marokkanerin mit der Hornbrille, dem langen hochgebundenen Haar und dem jung gebliebenen Gesicht.
Ihr Mann ist zwanzig Jahre älter. Mohamed hat aber damit keinen alten Vater gehabt, sondern er spielte mit ihm Handball, wanderte mit ihm durch die Wälder und pflanzte Gemüse an im Schrebergarten in Hösel. Das tut Herr Rhounan noch heute, und Mohamed hilft ihm dabei, wenn er Semesterferien hat, oder er zielt mit dem Handball ins dort aufgestellte Tor.
Der Vater war der Außenminister, er verdiente das Geld für die Familie. Als es keine Arbeit in der Zeche mehr gab für den hochgewachsenen, stattlichen Mann, arbeitete er in Essen als Baggerführer und Fahrer. Der Garten, »bloß keine Schreberkolonie«, sondern frei am Stadtrand liegend, ist sein Ausgleich. Auch jetzt als Rentner nutzt er ihn, um sich zu erholen und zur Bereicherung der Küche – so gern, wie er isst und gelegentlich kocht. Couscous mit Hühnchen, Hirse und Gemüse, das Nationalgericht, wird auch mit mir geteilt und von einer großen Platte gemeinsam gelöffelt, die Hähnchenteile nimmt man in die Hand.
Latifa ist es, die trotz mangelnder Deutschkenntnisse Mohameds Haltung zur Schule prägt – das meiste Deutsch hat sie in den drei Monaten, die sie während der Schwangerschaft im Krankenhaus liegen musste, gelernt. Lernen macht Spaß, und die Schulsachen müssen immer in Ordnung sein, damit man loslegen kann und schnell mitkommt, ist ihre Devise. Und erst macht man die Schulaufgaben, dann wird gespielt. Mit wem ihr Sohn spielt, das will sie genau wissen, um schlechten Einfluss von ihm abzuhalten.
Schon in der Hauptschule wird Mohameds Talent entdeckt, ihm fallen alle Fächer leicht, aber besonders fällt auf, dass er sich gut im Mündlichen ausdrücken kann, interessierte Fragen stellt und seine Hefte immer in Ordnung sind. Dabei sitzt er nicht auf seinem Wissen, sondern lässt auch Schüler abschreiben. Lieber, sagt er heute, habe er aber mit ihnen zusammengearbeitet.
»Herr Schelhaas, mein Hauptschullehrer, hat uns nicht nur viel Wissen, sondern auch Arbeitsorganisation beigebracht. Der hat mir früh geraten, alles zu machen, worauf ich Lust habe, Sport, Musik, Wandern und Lesen, mit Leuten über das Leben reden. Er hat mich wohl bei den Gruppenarbeiten beobachtet und gesehen, dass ich andere mitreißen und anregen kann.«
Die siebte Klasse, in die Mohamed ging, war sehr »vielfältig«, wie der junge Student das ausdrückt.
»Wir hatten auch vor Herrn Schelhaas, der dann zu uns kam, eine sehr gute junge Lehrerin, aber die kam mit der Stimmung dort nicht so zurecht.«
Der neue Klassenlehrer schaffte es mit unkonventioneller und direkter Art, die Aufmerksamkeit der Klasse zu bekommen. »Der hatte wirklich eine gute Performance, manchmal zum Totlachen, wenn er zum Beispiel Dehnübungen bei Klausuren machte, die Füße dabei von seinem Pult aus auf meinem Tisch abdrückte. Er spielte richtig gut Basketball mit uns, und er konnte unsere Sprache!«
Ich frage skeptisch: Ist das nicht etwas peinlich?
»Nein, das empfanden wir als cool. Es kommt immer darauf an, wer das wie macht. Es muss authentisch sein, und das war es bei Herrn Schelhaas, der machte das so lässig.«
Heute hat sich Mohamed zur Lehrerrolle natürlich weitere Gedanken gemacht. Er findet es grundsätzlich positiv, wenn Erwachsene sich an die Jugendlichen anpassen können, ohne sich selbst zu verraten. Man müsse es schaffen, sich in ihr Bewusstsein einzufädeln, um zu dem vorzudringen, was man berühren will. Was man an Bildung und an Eigenmotivation in ihnen verankern kann fürs Leben.
»Der Lehrer ist ja Motivator, Freund und Autorität, also ein großes Vorbild – der kann sehr viele Akzente setzen, was Integration betrifft, indem er es vorlebt. Indem er selbstverständlich als ›Ausländer‹ unterrichtet und indem er mehr die Gemeinsamkeiten hervorhebt als die Unterschiede. Es geht darum, das zu betonen, was uns verbindet, und nicht das, was uns unterscheidet, ist meine Meinung. Konflikte entstehen immer aus dem Betonen der Unterschiede.«
Hier klingt eine gewisse Harmonie-Sehnsucht heraus, die, unter Umgehung von Konflikten, manche der zukünftigen Akademiker mit Migrationshintergrund auszeichnet, besonders dann, wenn sie keine diskriminierenden Erfahrungen in Deutschland oder ihren Herkunftsländern gemacht haben. Das klingt ganz anders bei jungen Menschen mit Rassismus-Erfahrungen, die sich einsetzen wollen gegen Ausgrenzung, Gewalt und Überheblichkeit und dabei auch die Thematisierung und Bearbeitung der Vorurteile fordern.
Mittlerweile gibt es in mehreren Bundesländern Vereinigungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund. Sie wollen ihr Potential nutzen, ihre Muttersprache, ihre Nähe zu Kindern mit ähnlichem Hintergrund, ihre Möglichkeit, zu schlichten und zu motivieren. Es gibt besondere Stipendien für Lehramtsstudenten mit diesen Ressourcen (Horizonte Stipendium), und es werden immer mehr dieser Studierenden auch wirklich Pädagogen.
Mohamed hat ein Stipendium von der Heinrich-Böll-Stiftung, und er ist von der Vereinigung ›Lehrer mit Migrationshintergrund in NRW‹ schon häufiger zu Veranstaltungen eingeladen worden, auch aufs Podium. Trotzdem sagt er: »Ich war jetzt zum Beispiel an einer Schule, wo kaum ausländische Schüler waren, als unterrichtender Praktikant. Und die waren von meiner Unterrichtsart begeistert, egal, ob ich Marokkaner bin oder Deutscher. Und ich bin ja auch Deutscher und fühle mich so. Ich versuche immer die Menschen zu sehen, nicht die Nationalität. Mein Ehrgeiz ist, auch die deutschen Schüler wieder mehr zu motivieren, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Man sollte es mit der Betonung von ›migrantischen‹ Lehrern nicht übertreiben, ich stehe nicht auf dieses Separieren. Man lebt ja nicht in einer marginalen Gesellschaft, sondern ist Teil einer großen gemischten Gesellschaft und sollte da kommunizieren.«
Mohamed ist seit kurzem in der ›Agentur Neues Handeln‹ als freier Mitarbeiter, neben dem Studium, beschäftigt. Die Agentur richtet unter anderem Seminare für START-Stipendiaten aus. So kann er sein Wissen aus der eigenen Förderzeit und aus dem jetzigen Studium kombinieren und an die Schüler weitergeben, die wie er aus...