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Wandernde Schatten

Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne

AutorAlfred Bodenheimer
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783835320383
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Legendengestalt des Ewigen Juden Ahasver, der als zur Ruhelosigkeit verdammter, unsterblicher Wanderer die Welt durchstreifte, bis weit in die intellektuellen Eliten hinein als Personifikation des jüdischen Volkes verstanden. Dieses Bild prägte auch das Selbstverständnis des westlichen Judentums. Doch mußte aus jüdischer Sicht die Selbstidentifikation mit dem negativen Fremdbild zu einer Verstörung führen, die Theodor Lessing als »jüdischen Selbsthass' umschrieb. Alfred Bodenheimer zeigt, daß etliche jüdische Autoren in der biblischen Gestalt des Moses eine positive Gegenfigur zu Ahasver fanden. Auch Moses war ein Wanderer, der das angestrebte Ziel, das Gelobte Land, nie erreichte. Zugleich aber konnte er als Befreier und als Übermittler des Gesetzes verstanden werden, das dem Judentum in den Jahrhunderten des Exils seine religiöse Eigenständigkeit verliehen hatte. Anhand von Autoren wie Heinrich Heine, Theodor Herzl, Jakob Wassermann, Sigmund Freud, Nelly Sachs oder Stefan Heym wird gezeigt, wie aus der Synthese der Wanderer Ahasver und Moses in der säkularen jüdischen Moderne ein neues Selbstbild entstand. Ahasver/Moses wurde, in ganz verschiedenen literarischen Ausformungen und unter unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Verhältnissen, zu jener Figur, die allein noch imstande zu sein schien, den Weg aus einem verkrusteten staatlichen Territorialdenken zu weisen. Wo Gott (wie Friedrich Nietzsche analysierte) getötet und durch den Staat ersetzt worden war, bot der Wandernde Jude ein Gegenbild. Nicht darin, daß sie Gott für das Abendland »gerettet' hätten, wohl aber darin, daß das Judentum in seinem ewigen Wandern an die Abwesenheit Gottes noch erinnern sollte, gestalteten diese säkularen jüdischen Autoren eine neue Authentizität der jüdischen Moderne.

Alfred Bodenheimer, geb. 1965 in Basel, ist, nach Tätigkeiten an der Hebrew University Jerusalem, der BarIlan University bei Tel Aviv und der Universität Luzern, seit 2003 Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und leitet deren Zentrum für Jüdische Studien. 2005-2008 war er daneben Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, 2010-2012 war er in Basel der europaweit erste jüdische Dekan einer Theologischen Fakultät.

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Leseprobe
8. Die Entmaterialisierung Gottes und das Verhängnis der uneingestandenen Schuld. Sigmund Freud (S. 151-152)

Hätte unsere Zeit noch Sinn für Formen, sie hätte für Freud jenen Titel erneuern müssen, den die geistigen Häupter der aus Palästina vertriebenen Juden um die Talmudzeit in Babylon trugen: Resch Galuthah, Fürst des Exils.
Arnold Zweig

In den vergangenen Jahren hat sich ein zunehmendes Forschungsinteresse auf Sigmund Freuds Spätwerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu richten begonnen. Es wurde unter den verschiedensten Aspekten neu gelesen, die letztlich eines gemeinsam hatten: Im Mittelpunkt stand für gewöhnlich weniger Freuds historische Moses-Konstruktion als die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Judentum in den Dreißiger Jahren und dem Ort, den er sich – als Forscher, als Religionskritiker, als Deuter von Tradition, als vom Exil Bedrohtem und schließlich Exiliertem – darin zumaß.

Es scheint aber, daß dieser Text etwas stärker vermittelt und in seinen Erklärungsversuchen zum Schicksal des jüdischen Volkes intensiver gelesen werden muß. Überdies ist es im Zusammenhang mit dieser Studie wichtig, daß Freud in der Zeit, da Der Mann Moses sich im fortgeschrittenen (vielleicht schon vollendeten) Stadium befand, in einem Brief vom 12. Mai 1938 seinem Sohn Ernst im Zusammenhang mit den Vorbereitungen der Tochter Anna für die Emigration aus dem besetzten Wien schreibt: »Ich vergleiche mich manchmal mit dem alten Jakob, den seine Kinder auch im hohen Alter nach Ägypten mitgenommen haben, wie uns Th. Mann im nächsten Roman schildern wird. Hoffentlich folgt nicht darauf wie dereinst ein Auszug aus Ägypten. Es ist Zeit, daß Ahasver irgendwo zur Ruhe kommt.«

Zur Zeit, als Freud sein Moses-Projekt wohl gedanklich bereits zu Ende gebracht hatte und nur aus politischen Rücksichten von der Niederschrift und Publikation des dritten, der Aussage nach entscheidenden Teils absehen mußte, war die Hoffnung auf das Ausbleiben eines Auszugs aus Ägypten persönlich sein tiefster Wunsch.

Ein Ahasver, der zur Ruhe kam (und zwar ausdrücklich »irgendwo« und nicht im Gelobten Land), also kein wandernder Jude mehr war, ließ auch die Moses-Komponente des Judentums, den finalen Exodus aus Ägypten, sich erübrigen. Dieser scheinbar dezidierte Rückzug aus dem Mythos des Judentums paßt sich in Wirklichkeit in jene Tarnungsstrategie ein, mit welcher Freud gegen Ende seines Lebens zum einen jeden parallelen jüdischen Anklang an die zeitgenössischen deutschen Mythisierungen der Vergangenheit, zum andern jede ›Re-Judaisierung‹ der ins Exil getriebenen Psychoanalyse selbst zu vermeiden trachtete, um zugleich unterschwellig die Harmonisierung zwischen jüdischem Erbe und Psychoanalyse erstmals radikal anzustreben.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
1. Der projizierte und der reflektierte Jude – eine Einleitung8
2. »Jene Volksmumie, die über die Erde wandert«. Heinrich Heines doppelte Inversion30
3. Gras und Pflastersteine – Theodor Herzls mosaische Phantasien46
4. Ahasveriaden. Fritz Mauthner, Ernst Toller und Jakob Wassermann66
5. »Seltsames Wandern zum Rhein vom Nil«. Karl Wolfskehls Dialektik der Verheißung90
6. »Kann denn ein Land Verheißung sein?« Das wandernde Volk und der sterbende Moses bei Else Lasker-Schüler, Hedwig Caspari und Rudolf Kayser110
7. Das Denken des Unvorstellbaren. Arnold Schönberg128
8. Die Entmaterialisierung Gottes und das Verhängnis der uneingestandenen Schuld. Sigmund Freud152
9. Krakelschrift, Sinaisand. Heteronomie und Repräsentation in Gertrud Kolmars ›später‹ und Nelly Sachs’ ›früher‹ Dichtung170
10. »Our face!« oder Authentisch antithetisch. Stefan Heyms Ahasver und Philip Roths Operation Shylock190
11. Schlußwort: Die verlorene Abwesenheit212
Anmerkungen220
Literaturverzeichnis266
Dank284

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