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Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen

AutorJürgen Grzesik
VerlagWaxmann Lehrbuch
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl397 Seiten
ISBN9783830965138
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,90 EUR
Schrifttexte sind als endlos fortsetzbare Kombinationen aus Buchstaben nur winzige Teile unserer sichtbaren Welt. Wenn wir die Schrift nicht nur mit unseren Augen sehen, sondern auch erkennen, daß sie Stellvertreter für etwas anderes ist, öffnet sich uns die Tür zu allen Welten, die durch Kombinationen von Schriftzeichen dargestellt werden können. Nicht nur der äußere und unser innerer Kosmos werden uns zugänglich, sondern auch der von den Menschen selbst geschaffene virtuelle, soweit sie von jemand beschrieben worden sind. Das ist der unermeßlich große Raum, zu dem jeder, der lesen kann, Zutritt hat.

Aber alles, was von einem Text dargestellt wird, muß vom Leser aus dem, was er schon weiß und kann, konstruiert werden. Dafür muß er schon Weltwissen erworben haben und psychische Operationen für das Textverstehen vollziehen können. Jede Verstehensoperation muß er erstmalig vollziehen, z.B. die Erschließung einer unbekannten Wortbedeutung aus einem Satzsinn ebenso wie die Unterscheidung zwischen einem metaphorischen und einem ironischen Textsinn. Sie steht ihm aber erst dann so sicher und schnell zur Verfügung wie ein Reflex, wenn er sie mit einer gewissen Häufigkeit wiederholt vollzogen hat und wenn dies auch bei unterschiedlichen Texten in unterschiedlichen Situationen und Handlungen geschehen ist. Dann kann der Leser für alle Ziele seines Handelns unbekannte Texte auch in schwierigen Situationen verstehen.

Das Versprechen dieses Buches ist ein staunender Blick in die Werkstatt unseres Geistes beim Verstehen von Texten. Dieser Blick ist erst durch die Erkenntnisse einer Vielzahl von einzelnen wissenschaftlichen Untersuchungen möglich geworden.

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Leseprobe
Erster Teil Neuropsychologie des Erwerbs der Kompetenzen, Texte verstehen zu können (S. 31-32)

Wenn man sich ein Bild von der Kompetenz des Textverstehens machen will, dann muß man auch auf Ergebnisse der Gehirnforschung zurückgreifen.11 Die Befunde und Annahmen der Anatomie des Gehirns (Neuroanatomie) geben Antworten auf die Fragen, an welchen Stellen im Zentralen Nervensystem (ZNS) Teilkompetenzen der Sprachkompetenz auftreten und wie sie miteinander verbunden sind. Daraus resultiert ein Bild von der räumlichen Struktur der gesamten Sprachkompetenz. Textverstehen ist eine Teilkompetenz der Sprachkompetenz (I. Kapitel).

Sobald man sich neurologisch mit der Sprachkompetenz befaßt, kommen auch alle anderen Kompetenzen im ZNS in den Blick, mit denen die Sprachkompetenz in Verbindung steht: Am nächsten stehen der Sprache die anderen Medien: die Gestik, die Mimik, die Körperhaltung und -bewegung sowie die Musik. Einerseits unterscheidet sich die Sprache deutlich von ihnen. Andererseits steht sie mit ihnen in einem regen Wechselspiel, wenn sie gleichzeitig mit ihnen auftritt oder die jeweilige Information von der Sprache in ein anderes Medium transponiert wird oder umgekehrt von einem anderen Medium in sie. – Daraus resultiert ein Bild der Position des Sprachmediums gegenüber den anderen Medien des Menschen (II. Kapitel).

Die Sprachkompetenz steht aber auch in Beziehung zu allen anderen nichtmedialen Hauptfunktionen des Menschen. Einerseits kommt sie selbst nur durch das Zusammenspiel von Teilsystemen der Sensorik, der Motorik, der Kognition, der Wertung und der Emotion zustande und wird sie vom attentionalen System (Wachheit und Aufmerksamkeit) und vom Handlungssystem gesteuert. Andererseits übt sie ihrerseits ihre mediale Funktion für alle diese Systeme aus. – Das ergibt ein Bild von der Position der Sprache im gesamten neuronalen System des Menschen (III. Kapitel).

Die Befunde und Annahmen der Neurophysiologie geben Antworten darauf, welche Prozesse in den einzelnen Nervenverbänden und zwischen ihnen möglich sind. Von diesen Prozessen interessieren uns die Prozesse des Lernens von textverstehenden Kompetenzen. Sie bestehen aus Prozessen des Erwerbs einer Teilfunktion der Sprache (z.B. des Buchstabierens oder der Erschließung von metaphorischem Sinn) (Akquisition), der Verbesserung der Aktivierbarkeit der neu erworbenen Teilfunktion (Behalten) und aus ihrer Aktivierung in unterschiedlichen Handlungen (Reaktivierung). – Daraus resultiert ein Bild von der Prozeßstruktur des Erwerbs der Kompetenzen, Texte zu verstehen (IV. Kapitel).

Die Befunde der Anatomie und der Physiologie des ZNS sind nur deshalb von Interesse für den Erwerb der textverstehenden Kompetenzen, weil sie mit psychischen Prozessen und deren Funktionen korrelieren. Neuronale und psychische Prozesse sind nachweislich voneinander abhängig, weil nur dann psychische Prozesse mit ihren Funktionen auftreten, wenn es gleichzeitig neuronale Prozesse gibt, und weil es nur dann neuronale Prozesse gibt, wenn es gleichzeitig psychische Prozesse gibt. Entsprechendes gilt für den negativen Fall, wenn neuronale Prozesse durch Störungen oder Verletzungen im Gehirn ausfallen oder wenn psychische Prozesse aus verschiedenen Gründen nicht zustande kommen. Diese Korrelation von neuronalen Prozessen mit psychischen Prozessen und Funktionen wird von der Neuropsychologie untersucht, die neurologische Versuchsanordnungen mit psychologischen verbindet.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Worum es in diesem Buch geht10
Erster Teil: I. Die Kompetenz des Textverstehens besteht aus Teilkompetenzen, die im Zentralen Nervensystem räumlich verteilt und miteinander verbunden sind37
Erster Teil: II. Das Sprachmedium steht in Beziehungen zum Bildmedium und auch zu allen anderen Medien50
Erster Teil: III. Das Sprachmedium ist ein Hauptfunktionskreis des neuropsychischen Systems und steht in Beziehungen zu allen anderen Hauptfunktionskreisen54
Erster Teil: IV. Die Neuropsychologie des Erwerbs, des Behaltens und der Reaktivierung von Kompetenzen des Textverstehens102
Zweiter Teil: I. Kompetenzen, Texte verstehen zu können, entstehen durch das Lernen von textverstehenden Operationen in Textverstehenshandlungen131
Zweiter Teil: II. Schriftzeichen werden durch sensomotorische und kognitive Operationen dekodiert166
Zweiter Teil: III. Den Wortzeichen und den grammatischen Morphemen werden kategoriale Informationen als sprachliche Bedeutungen zugewiesen184
Zweiter Teil: IV. Zu den sprachlichen Bedeutungen werden mentale Modelle von der dargestellten Welt konstruiert220
Zweiter Teil: V. Die dargestellte Welt und die Darstellungsform von Texten können gewertet werden und emotionale Reaktionen hervorrufen298
Zweiter Teil: VI. Ästhetische Textinformation wird durch die Synthese von Merkmalen der sprachlichen Darstellung mit Merkmalen der dargestellten Welt gewonnen316
Zweiter Teil: VII. Die Herstellung von Beziehungen zwischen dem Text und außertextlichen Informationen ergibt zusätzliche Informationen für das Verstehen des Textes selbst und für Zusammenhänge, in denen der Text steht336
Zweiter Teil: VIII. Die Kritik von Texten wird durch eine besondere Gruppierung von Operationen geleistet348
Zweiter Teil: IX. Textverstehende Operationen können zu Lese- und Leselernstrategien kombiniert werden356
Wozu eine operative Theorie des Erwerbs von Kompetenzen des Textverstehens gut ist373
Literatur385

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