DAS ERSTE MAL (1971)
Ich suche die Antwort auf eine Frage. Eine wichtige Frage und sie wird kommen – früher oder später. Wann war meine erste Reise ins Ausland? Und wohin? Wenn ich nur die Antwort wüsste. Sie liegt so nah und ist doch so fern …
Ich begebe mich zurück in die Vergangenheit, zum Anfang meines Lebens. Ich wälze Erinnerungen, sehe Bilder vor meinem inneren Auge, klar und deutlich, nur kann ich sie nicht zuordnen. Emotionen, Erlebnisse, Erinnerungsfetzen, tief in mir drin, verschmelzen miteinander. Ich bin auf der Suche nach meinem ersten Reiseland, der Nummer zwei aller mir bekannten Länder, dem Land, das folgt auf die Nummer eins, die Heimat – Deutschland.
Nur eines ist gewiss: Das erste fremde Land habe ich natürlich nicht auf eigene Faust, besser: auf eigenes Fäustchen, bereist. Ich war noch viel zu klein. Ich lebte in meiner Welt, der Welt eines von Mama und Oma gut behüteten Kindes, denn mein Papa war weg, umgezogen in eine andere Stadt, und hatte kein Interesse an mir. Ich sah ihn selten und weiß bis heute nicht, wie es wirklich ist, einen Vater zu haben.
Ich muss es jetzt wissen. Und zwar sofort. Das wissbegierige Kind in mir, längst groß und erwachsen, gibt keine Ruhe. Nur Eine kann die richtige Antwort wissen. Gedacht, getan. Ich zögere keine Sekunde länger, springe vom Schreibtisch auf, gehe in den Flur und hänge auch schon an der Strippe, denn eine solche hat das alte Siemens-Telefon. Seit über zwanzig Jahren steht es auf dem weißen Schuhschrank in meinem Flur und tut seinen Dienst. Ich brauche kein neues. Darüber hängt eine riesige Weltkarte, auch die nicht mehr taufrisch. Auf ihr sind Länder wie Montenegro, Eritrea, Südsudan, Osttimor noch nicht verzeichnet. Die Politik hat längst neue Grenzen gezogen. Die Karte hätte ich gern erneuert, aber den Verlag gibt es nicht mehr. Also behalte ich mein altes Exemplar. Von dem mag ich mich nicht trennen. Ich tippe eine Nummer, es tutet.
Wie aus einer Quelle sprudelt es aus mir heraus: »Hallo, Mama. Ich bin’s. Ich habe eine ganz wichtige Frage an dich. Welches war das Land, das ich gemeinsam mit dir zuerst besucht habe?«
Am anderen Ende der Leitung, nur ein paar Straßen weiter, ist es kurz still. Dann ein tiefer Seufzer.
Viel zu schnell, ohne zu überlegen, gibt sie mir die Antwort: »Schätzchen, daran kann ich mich nicht erinnern.«
Ich rolle mit den Augen. Am liebsten hätte ich laut gestöhnt.
»Bleib jetzt ganz ruhig«, sage ich flehend zu ihr wie auch zu mir. »Wo warst du mit mir zuerst? War es Österreich oder war es die DDR? Es muss eines der beiden Länder gewesen sein. Das weiß ich genau. Mama! Das kann doch nicht so schwer sein! Ich war viel zu klein, ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber du musst es doch wissen! Du warst alt genug!«, beende ich meinen atemlosen Wortschwall vorwurfsvoll.
Es bleibt still für eine Weile.
Jetzt überlegt sie tatsächlich, denke ich grinsend. Plötzlich ruft sie mir ins Ohr. Es kommt wie aus der Pistole geschossen, als beantworte sie die Eine-Million-Euro-Preisfrage.
»Es war Österreich! Wir waren in Berwang zum Skifahren.«
Hurra, jetzt hat sie’s, freue ich mich. Aber ich habe noch Zweifel und hake erneut nach: »Bist du dir ganz sicher? Waren wir nicht zuerst in deiner Heimat? In Thüringen?«
»Nein! Nein! Dort waren wir erst Jahre später. Jetzt weiß ich es wieder ganz genau«, entgegnet sie erleichtert. Ich bin es auch und drücke sie in Gedanken.
Wie schön, die Antwort gefunden zu haben. Endlich weiß ich: In Österreich war ich zum ersten Mal in einem fremden Land. Dort nahm alles seinen Anfang, dort liegt der Ursprung der für mich wunderbarsten Sammelleidenschaft der Welt.
Das zweite fremde Land, das ich bereiste, ist die Deutsche Demokratische Republik, die ehemalige Heimat meiner Mutter. Viele meiner »Zeitgenossen« aus dem Westen haben dieses fremde Land, das zu unserer und meiner Geschichte gehört, nie kennengelernt. Ich bin als Kind und Jugendliche öfter »drüben« gewesen, in Thüringen und in Berlin. Diese Besuche brachten mich zum Nachdenken und erweiterten mein Bewusstsein. Tief in mir sind Eindrücke und Erlebnisse, die mich prägten. Die DDR hat mich stärker beeinflusst als die meisten Länder, die ich danach bereiste.
Ich erinnere mich an Mutters Freundin Erna, an deren Familie und ihren Pudel, an ihr riesiges Haus. Sie empfingen uns so herzlich, als gehörten wir dazu. Jedes Mal, wenn wir aus dem Westen zu Besuch kamen und ihnen Sachen mitbrachten, freuten sie sich. Im Dorf gab es kaum Autos, sodass ich mitten auf der Straße spielen konnte und viel draußen war.
Nur eins will ich schon damals nicht begreifen: Es gibt Menschen, die nicht dahin fahren dürfen, woher wir kommen. Die nicht reisen können, wohin sie wollen. So wie Mutter und ich. Wir müssen an der Grenze grimmig dreinblickende Zöllner über uns ergehen lassen. Und dann gibt es den merkwürdigen Zwangsumtausch von Deutscher Mark in wertloses Geld, für das man fast nichts kaufen kann.
Nun erinnere ich mich auch wieder an meinen Aufenthalt in Berwang, in Österreich. Ich bin ein Großstadtkind und der Flecken unterscheidet sich gewaltig von meiner Heimatstadt Frankfurt. Die Häuser des beschaulichen Dorfs hätte sogar ich zählen können. Als wir ankommen, liegt der Ort im tiefen Schnee. Das sieht lecker aus. Wie Zuckerwatte. Die esse ich für mein Leben gern.
Die Eiseskälte lässt mich kalt. Ich ziehe mich warm an und die Sonne scheint jeden Tag am blauen Himmel. Das Dorf ist so fremd nicht. Nur ein wenig. Wir sprechen dieselbe Sprache. Alle sind freundlich. Mir gefällt es, in Berwang zu sein, weit weg von zu Hause. Ich bin erst vier Jahre alt. Mit meiner Mama logiere ich in einer günstigen Pension. Hier begegnet mir jeden Tag Mozart. Er ist etwas älter als ich. Bevor er seiner Wege geht, darf ich mit ihm schmusen. Sichtlich genießt er meine Streicheleinheiten. Er hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Seinen Namen behalte ich für immer in Erinnerung: Mozart. Ein schlanker, gut durchtrainierter Kater. Fellfarbe Pechschwarz. Erst Jahre später, beim Klavierspielen, bekommt dieser Name eine ganz andere Bedeutung für mich.
Die Namen und das Aussehen der anderen Gäste, Jungen und Erwachsene aus den Niederlanden, habe ich längst vergessen. Ich lerne sie im Aufenthaltsraum der Pension kennen. Sie spielen nach dem Skifahren immer Tischtennis und zählen die Punkte. Ich finde den Klang der fremden Sprache lustig, plappere die Zahlen nach wie ein Papagei.
Es dauert nicht lange, bis mich einer der beiden Tischtennisspieler zu sich holt. Er bringt mir die Zahlen auf Niederländisch bei. Von eins bis zehn. Am nächsten Tag fragt er mich ab. Sie sind nicht schwer. Een, twee, drie … Fehlerfrei und sogar in der richtigen Reihenfolge sage ich sie auf wie ein Gedicht. Das kann ich bis heute. Ich freue mich wie eine Schneekönigin über die Reaktion des jungen Erwachsenen: Er lobt und ermuntert mich. So viel Spaß wie mit den freundlichen Niederländern habe ich beim Skifahren nicht. Ständig bleibe ich mit einem der Skier im Schnee stecken. Die sind genauso lang wie ich. Dann plumpse ich auf die Seite oder aufs Hinterteil. Bums. Dauernd rutsche ich aus dem Tellerlift. Manchmal kippe ich auch ohne Grund um, einfach so. Patsch. Tollpatsch. Wieder aufrappeln. Ich stehe auf wackeligen Brettern. Sie bedeuten nicht die Welt für mich. Fahre endlich ein paar Meter. Schwups … und schon liege ich wieder im Schnee. Nun mag ich nicht mehr, heule und will zu meiner Mama. Sie ist nicht da. Sie hat es gut gemeint und mich in die Skischule geschickt, damit ich gemeinsam mit den anderen Kindern Spaß habe im Schnee. Aber keines der Kinder stellt sich so ungeschickt an wie ich. Ich habe die Eleganz einer Leberwurst. Milchzähnchen zusammenbeißen und weiter. Frustriert möchte ich liegen bleiben und, wütend auf mich selbst, wie ein Käfer auf dem Rücken liegend mit den Beinen in die Luft treten. Sehr unpraktisch mit den Skiern. Aber ich will auf der schier unendlichen Weite der Skipiste nicht allein zurückbleiben. Eine Lehre fürs Leben: nach dem Hinfallen immer schnell wieder aufstehen.
Der letzte Tag des Skiurlaubs wird zu einem unvergesslichen Erlebnis. Es ist genau eine Woche vor meinem fünften Geburtstag. Zum ersten und letzten Mal im Leben nehme ich an einem Torlauf teil. Er wird von der Skischule Berwang organisiert. In der dritten Klasse gehe ich an den Start. Es gilt, einen Hang auf gerader Strecke hinunterzufahren und durchs Ziel zu kommen. Klingt ganz einfach, aber mir schlottern die Knie und ich habe mehr Angst davor als Lust dazu.
Ich trage eine rote Jacke, an der ist ein gelbes Tuch mit der schwarzen Startnummer zwei befestigt, darüber steht in merkwürdigen Buchstaben »Piz Buin«. Schwarze Skihosen. Rote Skier. Einen davon stelle ich hochkant. Ich falle nicht um. Die Skistöcke berühren leicht den Schnee. Sieht cool aus.
Ganz viele Zuschauer stehen am Ziel. Ich kann sie alle sehen. Ich bin aufgeregt. Mein kleines Herz pocht so laut, als wolle es aus der Brust hüpfen. Gleich bin ich an der Reihe, ich bringe mich in Startposition. Auf das Zeichen des Fahnenschwenkers hin rase ich los. Geradeaus sause ich den Hang hinunter, die Skier immer parallel nebeneinander. Ich werde schneller. Schneller. Immer schneller. Hui … ich bin kurz vor dem Ziel. Da ist so ein blöder Hubbel! Wie dumm! Zu spät! Ich fahre mit einem Ski drüber, balanciere und … verliere das Gleichgewicht. Ich kippe nach hinten und schlittere mit dem Hosenboden auf den Skiern durchs Ziel.
Die Zuschauer lächeln und klatschen in die Hände....