Gucklöcher in die Zukunft
»The best way to predict the future is to design it.«
(R. Buckminster Fuller 1973)
Ein Team von Wissenschaftlern, Zukunftsforschern, Designern, Künstlern, Schauspielern, Drehbuchautoren und Schriftstellern wird für ein Experiment an einem abgelegenen Ort einquartiert. Dort wurde für alles Nötige gesorgt: Es gibt wissenschaftliche Literatur, Natur, Ruhe, ein unterstützendes Team von Fachleuten und Personal, das es an nichts mangeln lässt. Die Kreativen haben nur eine Aufgabe: sich um nichts anderes zu kümmern als in kreativen Séancen in die Zukunft zu reisen. Sie sollen sich tief hineinbohren in die noch verborgenen Möglichkeiten des Zukünftigen. Anders als in der herkömmlichen Szenarioforschung soll es diesmal nicht um die Beschreibung wahrscheinlicher Zukunftspfade gehen, sondern um die Möglichkeiten einer ganz anderen Zukunft, um die Utopie. – So weit die Rahmenhandlung dieses Buches.
Lassen Sie sich auf das Gedankenspiel ein, so werden diese Reisenden für die Dauer der Lektüre unsere »Futurnauten« in das Universum der Zukunft sein. Zukunfts-Scouts, die für uns in eine fiktive Welt reisen und dort in der Tradition der optimistischen Utopie-Entwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts die Geographie einer besser als heute gelingenden, zukunftsfähigen Kultur und Gesellschaft vorfinden. Inmitten einer Kultur, die das Erzählen kaum anders als zur Beschreibung individueller und gesellschaftlicher Brüche verwendet, mag diese Erzählstrategie naiv erscheinen, unrealistisch und unzulässig zweckoptimistisch. Wer Visionen hat, möge bitte zum Arzt gehen, heißt es noch immer. Das war jedoch schon zu Zeiten von Helmut Schmidt, der dieses Verdikt in die Welt setzte, nur grandios gepoltert. Ist nicht im Gegenteil gerade in unseren Tagen die verrückteste, der Behandlung bedürftigste Vision von allen die Vorstellung, genau so weitermachen zu können wie bislang? Man wird sich außerdem vielleicht nicht ganz der Auffassung verschließen können, dass der Schilderung der »Eutopie« – des Guten Ortes der Antiapokalypse – in unserer weltuntergangsgesättigten Zeit eine besondere motivierende und ermächtigende Kraft innewohnen könnte. Heute braucht es womöglich weniger einen Wettbewerb der besten Krisenanalysen und Untergangsszenarien als der besten Geschichten einer gelingenden Zukunft.
Ob wir es uns eingestehen oder nicht, wir sind immer die Erzähler unserer Zukunft. Und mit der Art unserer Erzählungen tragen wir dazu bei, diese Zukunft zu erschaffen. Wir gestalten bereits, indem wir erzählen. Die Apokalypse ist das Leitmotiv unserer heutigen kollektiven Erzählung. Von der Literatur bis zu den Blockbustern Hollywoods dominieren die Geschichten einer düsteren Zukunft, wenn nicht sogar das Armaggedon des globalen Untergangs droht. Unabhängig davon, wie man die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Zukunftsentwürfe beurteilt, bieten Storys dieser Art ein immenses dramaturgisches und kommerzielles Potential für spannende und ergreifende, packende und fesselnde – und letztlich doch nur scheinbar wachrüttelnde Erzählungen. Ob Vulkanausbrüche, Eiszeiten, Virenepidemien, Superstürme oder Blackouts, fast wohlige Angstschauer überkommen uns auf dem warmen Sofa, während liebende Eltern in irgendeiner ökologischen Apokalypse ihr Leben für ihre Kinder hergeben. Bildwelten sind mächtig, und für einen kurzen Augenblick nehmen wir uns womöglich vor, am nächsten Tag unser Leben zu ändern. Irgendetwas nur – weniger Auto zu fahren, den Müll sorgfältiger zu trennen oder für den Erhalt des Regenwaldes und für die Menschenaffen im Urwald zu spenden. Meist schon am kommenden Morgen hat uns der Alltag mit seinen kleinen und großen Problemen wieder, und wir gehen den vor langer Zeit eingeschlagenen Weg immer weiter. Und wahrscheinlich werden wir mit jedem Schritt noch phantasieloser, bequemer und abhängiger. Im Netz unserer Gewohnheiten gefangen, verlieren wir die Perspektive und wissen nicht mehr, welchen anderen Weg wir einschlagen, wie wir die gewohnten Pfade verlassen könnten.
Womöglich fehlen uns in solchen Momenten einfach die Alternativen. Es mangelt am attraktiven Bild einer zukunftsfähigen Kultur, und es fehlt die Landkarte des Weges, der zu ihr führt. Gestützt wird das Bemühen um solche positiven Zukunftsbilder von einer gehirnphysiologischen Studie, deren Ergebnisse in der Zeitschrift Nature Neuroscience im Jahr 2011 veröffentlicht wurden. Demnach verändern achtzig Prozent aller Menschen ihre eigene Erwartung der Zukunft – und mit ihr ihre zukunftsbezogenen Handlungsweisen – nur dann, wenn die neuen Informationen zu einem optimistischen Zukunftsbild führen (Sharot et al. 2011). Das menschliche Gehirn scheint darauf programmiert, einem positiven Zukunftsbild zu folgen. Womöglich erklärt dies die Grundannahme der utopischen Tradition, dass der Verlockung des Besseren eine weit größere Motivationskraft innewohnt als der paralysierenden Bedrohung. In diesem »eutopischen« Sinne leitbildhafte und motivierende Bilder und Erzählungen können entgegen dem dystopischen Mainstream den »Möglichkeitssinn« – so der schöne Begriff Robert Musils (1994: 16) – entstehen lassen, den wir brauchen, um uns mit der Kraft und dem Pragmatismus unseres »Wirklichkeitssinns« (ebd.) auf große Veränderungen unseres Lebensstils einzulassen, sie im bestmöglichen Fall aktiv voranzutreiben. Der humanistische Visionär R. Buckminster Fuller war der Meinung, die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, sei, sie selbst zu erschaffen. Der erste Schritt dahin ist, sie anders zu erzählen.
Deswegen ist dieses Buch nach einer Einleitung zur Geschichte und einem wissenschaftlichen Kapitel zu den wahrscheinlichen Entwicklungstrends der Mobilität weitgehend im Stil narrativer Szenarien gehalten. Es bietet auf der Grundlage wissenschaftlicher Faktensammlung und Analyse kleine und große Beispiele der zukunftsfähigen Gestaltung unserer Gesellschaft. Längere Storys und Miniszenarien über neue Technologien, über kluge soziale Strategien, innovative ökonomische Konzepte und eine veränderte politische Kultur verbinden sich zu dem Versuch einer überwiegend »eutopischen« Gesamtbetrachtung, die – man muss es der Ehrlichkeit halber sagen – angesichts der tatsächlichen Entwicklungen nicht immer leichtfällt und leicht als naiv abgetan werden kann. Andererseits gibt es schon heute so viele Beispiele für konstruktive und phantasievolle Lösungen, dass auch das Einstimmen in einen apokalyptischen Abgesang zu kurz gedacht ist. Deswegen handelt dieses Buch von den vielfältigen Möglichkeiten des Zukünftigen, wie sie in der Gegenwart bereits angelegt sind.
Visionäre Szenarien sind Gucklöcher in die Zukunft und in diesem Sinne gedankliche soziale Erfahrungsräume und Leitbilder zugleich. Natürlich sind Szenarien einer zukunftsfähigen Kultur weniger greifbar als ein konkret nutzbares Produkt oder die von uns täglich vorgefundenen und bekannten Verhältnisse und Infrastrukturen. Andererseits sind sie immer noch sehr viel konkreter als abstrakte Zahlenkolonnen, politische Programme oder ideologische Parolen. Im Wechselspiel von Vision und Gegenwärtigkeit ist es ihr Ziel, eine Art Vertrautheit, eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Zukünftigen zu erzeugen und im besten Falle die Bereitschaft anzuregen, selbst in dieses Wechselspiel einzutreten, mögliche Veränderungen gedanklich auszuprobieren und schließlich in eine experimentierfreudige Grundhaltung stetiger Zukunftsoffenheit einzutreten. Die hier versammelten Szenenbilder der Zukunft sind Ausdruck dieses Experimentierwillens, der schlicht davon ausgeht, dass die Veränderung der Welt zunächst im Kopf beginnt. Dann nämlich, wenn wir gedanklich so tun, als wäre sie schon längst eingetreten: als vorübergehende Phase der Transformation, deren Herausforderungen unsere kreativen Potentiale fokussiert und uns in unserem Alltag zu schrittweisen Veränderungen inspiriert. Anders gesagt: Die Veränderung zum Besseren, im Großen der Gesellschaft wie im Kleinen des privaten Alltags, ist kein irres Zerrbild, kein Wunschtraum überambitionierter Weltenretter. Sie ist eine sehr reale Chance unserer Gegenwart, die wir – als tatsächliche Realisten – nur ergreifen müssen.
Ein Bereich, der für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Kultur von besonderer Bedeutung sein wird, ist die Mobilität. Ohne Mobilität, ohne Austausch und Kommunikation kein gesellschaftliches Leben. In ihrer nach wie vor fossilen und produktintensiven Ausprägung, den damit verbundenen geopolitischen und ökologischen Stressfaktoren nationalistischer Ressourcensicherungsstrategien, in ihrer fundamentalen Bedeutung für die arbeitsteilige globale Wachstumsökonomie wie für entfernungs- und beschleunigungsintensive private Lebens- und Konsumstile gleichermaßen und schließlich in ihrer extremen Technologieaffinität überschneiden sich so vielfältige Herausforderungen in so komplexer Weise, dass die Mobilität als ein beispielhaftes Anwendungs- und Gestaltungsfeld der gesamtkulturellen Transformation gelten kann. Wie in einem Brennglas bündeln sich an ihrem Beispiel zentrale Zukunftsfragen. Zugleich ist die Mobilität jedoch der Bereich, in dem, eben aufgrund ihrer essentiellen Bedeutung für die moderne Zivilisation, auch eine der stärksten Innovationsdynamiken überhaupt beobachtbar ist. Sie entwickelt sich immer stärker von der...