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E-Book

Das digitale Debakel

Warum das Internet gescheitert ist - und wie wir es retten können

AutorAndrew Keen
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641137434
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Das Internet bringt den Menschen mehr Demokratie, wirtschaftlichen Wohlstand und kulturelle Vielfalt. Es ist ein Raum der Transparenz, Offenheit und Gleichberechtigung. Ein Erfolg auf der ganzen Linie. Wer das glaubt, sagt Silicon-Valley-Insider Andrew Keen, liegt völlig falsch. Nicht die Gesellschaft profitiert von einer 'hypervernetzten' Welt, sondern eine elitäre Gruppe junger weißer Männer. Was ihnen immer mehr Reichtum beschert, macht uns in vielerlei Hinsicht ärmer.

Das Internet vernichtet Arbeitsplätze, unterbindet den Wettbewerb und befördert Intoleranz und Voyeurismus. Es ist kein Ort der Freiheit, sondern ein Überwachungsapparat, dem wir kosten- und bedenkenlos zuarbeiten. Kurzum: Das Internet ist ein wirtschaftliches, kulturelles und gesellschaftliches Debakel. Andrew Keen liefert eine scharfe, pointierte Analyse unserer vernetzten Welt und zeigt, was sich ändern muss, um ein endgültiges Scheitern des Internets zu verhindern.

Andrew Keen, 1960 in Hampstead geboren, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in London, Sarajevo und an der University of California. Er lehrte an mehreren US-amerikanischen Universitäten und gründete 1995 ein erfolgreiches Internetunternehmen im Silicon Valley. Der britisch-amerikanische Autor, Redner und Unternehmer zählt weltweit zu den einflussreichsten Kritikern des Internets. Andrew Keen lebt mit seiner Familie in Berkeley, er veröffentlicht einen stark frequentierten Weblog.

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Leseprobe

1
DAS NETZWERK

Die Wand war gesprenkelt mit blinkenden Lämpchen, die durch ein Gewirr blauer, rosa- und lilafarbener Linien miteinander verbunden waren. Das Bild hätte eine Aufnahme des Universums mit seinem Kaleidoskop leuchtender Sterne in wirbelnden Galaxien sein können. Tatsächlich war es eine Art von Universum. Nur dass es sich nicht um das Firmament handelte, sondern um eine grafische Darstellung unserer vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts.

Ich war in Stockholm, dem Hauptquartier von Ericsson, dem weltgrößten Anbieter von Mobilnetzwerken für Internetprovider und Telefongesellschaften wie AT&T, Telekom und Telefonica. Gegründet wurde das Unternehmen 1876 in Stockholm von Lars Magnus Ericsson als Telegrafenreparaturfirma. Ende 2013 beschäftigte Ericsson 114340 Mitarbeiter in 180 Ländern und machte einen Umsatz von rund 25 Milliarden Euro. Ich traf mich mit Patrik Cerwall, einem Ericsson-Manager, der mit einer unternehmensinternen Forschungsgruppe Trends in der vernetzten Gesellschaft beobachtet. Sein Team hatte gerade den »Mobility Report« für das Jahr 2013 veröffentlicht, der eine Bestandsaufnahme der weltweiten Mobilbranche bietet.

Während ich in der Lobby des Ericsson-Gebäudes auf ihn wartete, bewunderte ich fasziniert dieses Chaos von Knoten und Verknüpfungen an der Wand.

Diese Karte, geschaffen vom schwedischen Künstler Jonas Lindqvist, zeigt Ericssons regionale Netzwerke und Büros in aller Welt. Lindqvist hatte die Städte über wirbelnde Linien miteinander verbunden, um das Gefühl der konstanten Bewegung auszudrücken, wie er sagte. »Kommunikation ist nicht linear«, erklärte er mir. »Sie ist zufällig und chaotisch.« Jeder Ort schien mit allen anderen vernetzt zu sein, egal wie nah oder wie weit entfernt er war. Mit Ausnahme von Stockholm, das sich symbolisch im Mittelpunkt befand, bestand die Karte nur aus Peripherie. Sie hatte kein Zentrum, kein Organisationsprinzip, keine Hierarchie. Städte in geografisch weit auseinanderliegenden Ländern wie Panama, Guinea-Bissau, Peru, Serbien, Sambia, Estland, Kolumbien, Costa Rica, Bahrain, Bulgarien und Ghana waren auf einer Karte miteinander verbunden, die weder Zeit noch Raum kannte. Der Künstler hatte die Welt als dezentrales Netzwerk wiedererfunden.

Mein Gespräch mit Patrik Cerwall bestätigte diese erstaunliche Allgegenwart des mobilen Internets von heute. Jedes Jahr veröffentlicht sein Ericsson-Team eine umfassende Bestandsaufnahme der mobilen Netzwerke. Im Jahr 2013 habe es 1,7 Milliarden Breitbandverträge gegeben, und 50 Prozent der in diesem Jahr verkauften Mobiltelefone seien internetfähige Smartphones gewesen. Nach den Prognosen des Berichts soll die Zahl der mobilen Breitbandanschlüsse bis zum Jahr 2018 auf 4,5 Milliarden ansteigen, wobei die meisten der neuen Nutzer aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika kommen.27 Damit wären bis 2018 mehr als 60 Prozent der über 7 Milliarden Menschen weltweit online. Und angesichts der konstanten Verbilligung der Geräte, die für das Jahr 2018 einen Preis von weniger als 50 Dollar für qualitativ hochwertige Smartphones erwarten lässt,28 und angesichts der Tatsache, dass nach Erhebungen der Vereinten Nationen heute mehr Menschen Zugang zu einem Handy haben als zu einer Toilette (6 Milliarden gegenüber 4,5 Milliarden),29 kann man davon ausgehen, dass Mitte der 2020er Jahre die überwältigende Mehrheit aller Erwachsenen über einen leistungsstarken Taschencomputer mit Internetzugang verfügt.

Aber nicht nur jeder Mensch, sondern auch jedes Ding wird Zugang zum Internet haben. In einem White Paper geht Ericsson davon aus, dass bis zum Jahr 2020 rund 50 Milliarden intelligente Apparate ans Internet angeschlossen sein werden.30 Häuser, Autos, Straßen, Büros, Haushaltsgeräte, Kleidung, Gesundheitsapparate, Stromnetze und selbst die industriellen Schneidemaschinen, wie sie einst von Musto Steam Marble Mill hergestellt wurden, werden zu einem Netz zusammengeschlossen sein, das inzwischen als »Internet der Dinge« bezeichnet wird. Die Zahl der kommunizierenden Geräte wird sich zwischen 2014 und 2019 verdrei- oder vervierfachen. »Die physische Welt wird zu einer Art Informationssystem«, bestätigt ein Bericht von McKinsey.31

Die wirtschaftlichen Zahlen dieser vernetzten Gesellschaft sind schon heute atemberaubend. Ein weiterer McKinsey-Bericht über die dreizehn fortschrittlichsten Industrienationen stellte fest, dass der Internethandel inzwischen einen Jahresumsatz von 5,75 Milliarden Euro erzielt. Wenn man das Internet als eigenen Wirtschaftszweig betrachten würde, so dieser Bericht aus dem Jahr 2011, dann hätte es schon im Jahr 2009 rund 3,4 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts ausgemacht – mehr als Bildung (3 Prozent), Landwirtschaft (2,2 Prozent) oder öffentliche Versorgungsbetriebe (2,1 Prozent). In Jonas Lindqvists Heimatland Schweden ist dieser Anteil etwa doppelt so hoch, schon im Jahr 2009 machte das Internet 6,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.32

Wenn Lindqvist mit seiner Landkarte eine wörtliche Darstellung unserer vernetzten Gesellschaft hätte geben wollen, dann hätte er ein pointillistisches Gemälde geschaffen. Das Bild hätte aus so vielen Milliarden Punkten bestanden, dass sie für das menschliche Auge zu einem großen Ganzen verschmolzen wären. Alles, was sich vernetzen lässt, wird vernetzt, und die im Internet erzeugten Datenmengen sind kaum noch vorstellbar. Im Jahr 2014 verschickten beispielsweise 3 Milliarden Internetnutzer pro Minute 204 Millionen E-Mails, luden 72 Stunden neue YouTube-Videos hoch, gaben mehr als 4 Millionen Suchbegriffe bei Google ein, schrieben 2460000 Facebook-Einträge, luden 48000 Apps herunter, gaben 60000 Euro bei Amazon aus, verschickten 277000 Tweets und luden bei Instagram 216000 neue Fotos hoch.33 Früher sprach man von der »New Yorker Minute«, doch im Vergleich zur »Internetminute« in Marshall McLuhans globalem Dorf ist New York City ein verschlafenes Kaff, in dem nichts passiert.

Man muss sich inzwischen schon daran erinnern (vor allem die sogenannten Digital Natives, die mit den Netzwerkzeugen des Internets groß geworden sind), dass die Welt nicht bereits immer ein Informationssystem war. Noch vor einem Dreivierteljahrhundert, im Mai 1941, als die deutschen Bomber das House of Commons in Schutt und Asche legten, war nichts und niemand vernetzt. Es gab keine digitalen Geräte, die miteinander kommunizierten, ganz zu schweigen von Echtzeitnachrichten auf Twitter oder Instagram, die uns im elektronischen Informationskreislauf auf dem Laufenden halten.

Wie kamen wir also von null auf Abermilliarden vernetzte Menschen und Dinge? Wo liegen die Anfänge des Internets?

Vorläufer

Die Anfänge liegen ausgerechnet bei jenen Bombern der Luftwaffe, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in einer Höhe von 10 000 Metern und mit einer Geschwindigkeit von bis zu 400 Kilometern pro Stunde über London hinwegdonnerten. Im Jahr 1940 arbeitete ein exzentrischer Mathematiker und MIT-Professor namens Norbert Wiener, den die New York Times als »ersten Computer-Freak« bezeichnete,34 an einem System, das die deutschen Flugzeuge über London verfolgen sollte. Der Sohn jüdischer Einwanderer aus dem polnischen Białystok war derart besessen von dem Gedanken, seine wissenschaftlichen Fähigkeiten in den Dienst des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zu stellen, dass er einen Psychoanalytiker aufsuchte, um seine Anti-Nazi-Fixierung in den Griff zu bekommen.35 Er war überzeugt, dass man mit der Technologie Gutes bewirken konnte. Vielleicht konnte man mit ihrer Hilfe auch Hitler besiegen.

Wiener war ein mathematisches Genie. Im Alter von 14 Jahren schloss er sein Studium an der Tufts University ab, mit 17 Jahren legte er an der Harvard University seine Doktorarbeit vor, danach ging er nach England, um an der Universität in Cambridge unter Bertrand Russell zu studieren. Am Massachusetts Institute of Technology arbeitete er mit einer Gruppe von Technologiepionieren, der auch der Elektroingenieur und Wissenschaftsguru Vannevar Bush und der Psychologe J. C. R. Licklider angehörten. Ohne zu wissen, was sie da taten, legten diese Männer einige der entscheidenden Grundlagen unserer vernetzten Gesellschaft. Diese Männer, allen voran Wiener, zeichneten sich durch einen mutigen intellektuellen Eklektizismus aus. Indem sie über die Grenzen der herkömmlichen akademischen Disziplinen hinweg dachten, waren sie in der Lage, sich die vernetzte Zukunft vorzustellen und sie vorzubereiten.

»Seit den 1920er Jahren lockte das MIT zunehmend die klügsten und besten Naturwissenschaftler und Ingenieure der Vereinigten Staaten an. Zur Jahrhundertmitte brodelte das Institut vor Ideen über Information, Rechenmaschinen, Kommunikation und Kontrolle«, erklärt der Internethistoriker John Naughton. »Auf der Suche nach den Ursprüngen des Internets stoßen wir immer wieder auf drei Namen: Vannevar Bush, Norbert Wiener und J. C. R. Licklider.«36

In den 1930er Jahren gehörte Wiener einem Team an, das an Vannevar Bushs »Differenzialanalysator« arbeitete, einer 100 Tonnen schweren, analogen Rechenmaschine, die aus Rollen, Achsen, Rädern und Zahnrädern zusammengeschraubt wurde und mit deren Hilfe sich Differenzialgleichungen lösen ließen. Im Jahr 1941 hatte Wiener den Prototypen eines digitalen Computers vorgeschlagen, mehr als fünf Jahre vor dem Bau des ersten Digitalrechners der Welt, des 200 Quadratmeter großen, 500000 Dollar teuren...

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