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E-Book

Es ist kompliziert

Das Leben der Teenager in sozialen Netzwerken

AutorDanah Boyd
VerlagRedline Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783864146671
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Für Jugendliche sind Onlineplattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube zu völlig normalen Bestandteilen ihres Alltags geworden. Doch welche Auswirkungen haben diese Netzwerke auf ihr Leben und wie beeinflussen sie ihr Handeln und Denken? Für ihr Buch hat Danah Boyd über mehrere Jahre hinweg unzählige Jugendliche mit unterschiedlichstem sozialem und ethnischem Background zu ihren Onlinetätigkeiten befragt und diese untersucht. Dabei deckt sie einige der typischen Vorurteile und Mythen über den Gebrauch sozialer Netzwerke bei jungen Leuten auf und macht deutlich, dass der Versuch von Eltern und Gesellschaft, Jugendliche vor den Gefahren des Internets schützen zu wollen, nicht immer sinnvoll ist. Ein spannendes, verständlich geschriebenes Buch, welches das Phänomen und die Faszination der Onlinenetzwerke auf Jugendliche erklärt.

Danah Boyd arbeitet als Forscherin für Microsoft Research, lehrt Medien-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften an der Universität von New York und ist Mitglied des Harvard's Berkman Center for Internet and Society. Ihre Untersuchungen befassen sich mit den Berührungspunkten zwischen neuen Technologien, Gesellschaft und Jugendkultur.

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Leseprobe

1. Identität – Warum wirken Jugendliche online so merkwürdig?


Im Jahr 2005 prüfte eine Eliteuniversität die Bewerbung eines jungen Schwarzen aus South Central Los Angeles. Der Bewerber hatte einen phänomenalen Aufsatz geschrieben, in dem er erklärte, dass er den Gangs aus seiner Gemeinde entkommen sei und das hoch angesehene Ausbildungsinstitut besuchen wolle. Die für die Zulassung zuständigen Sachbearbeiter waren beeindruckt: Ein junger Mensch, der eine solche Hürde überwindet, ist ein vorbildlicher Student. In dem Bemühen, mehr über ihn zu erfahren, gaben die Mitglieder des Zulassungsausschusses seinen Namen bei Google ein. Dabei stießen sie auf sein MySpace-Profil. Es war angefüllt mit Gangsta-Symbolen, vulgärer Sprache und Hinweisen auf Gang-Aktivitäten. Befremdet nahmen sie von seiner Bewerbung Abstand.

Ich hörte diese Story, als ein Repräsentant der Zulassungsstelle mit mir Kontakt aufnahm. Er eröffnete das Gespräch mit einer einfachen Frage: Warum sollte ein Student die Zulassungsstelle der Universität belügen, wenn diese die Wahrheit im Internet so leicht herausfinden kann? Ich erkundigte mich nach dem Hintergrund dieser Frage und erfuhr von diesem Kandidaten. Verblüfft über die Frage, war meine erste Reaktion ein nervöses Lachen. Ich hatte viel Zeit mit Jugendlichen aus South Central verbracht und einige interviewt, und ich war stets von den Herausforderungen beeindruckt, mit denen sie konfrontiert waren, wenn man die Gang-Dynamiken bedenkt, die ihre Wohnviertel beherrschen. Unbehaglich bot ich eine alternative Interpretationsmöglichkeit: Vielleicht habe dieser junge Mann die Gang-Symbole als reine Überlebenstechnik in sein MySpace-Profil integriert.

In dem Versuch, mich in seine Lage zu versetzen, klärte ich den Sachbearbeiter der Zulassungsstelle über einige der Dynamiken auf, die ich in Los Angeles beobachtet hatte. Meine Vermutung lautete, dass sich dieser Jugendliche wahrscheinlich sehr genau über die Beziehung zwischen den Gangs und anderen in seinem Viertel bewusst war. Vielleicht hatte er das Gefühl, er müsste sich im lokalen Kontext so positionieren, dass er nicht zur Zielscheibe von kriminellen Banden würde. Wenn er auch nur annähernd so wie andere Jugendliche tickte, die ich kennengelernt hatte, stellte er sich wahrscheinlich vor, die Besucher seines MySpace-Profils seien Klassenkameraden, Familienangehörige oder Mitglieder seiner Gemeinde, nicht jedoch Mitarbeiter der Zulassungsstelle einer Universität. Ohne den jungen Mann zu kennen, nahm ich an, dass er in seinem Bewerbungsschreiben an die Uni aufrichtig gewesen war.

Gleichzeitig vermutete ich, dass er es nie wagen würde, in seiner Nachbarschaft über seinen Wunsch zu sprechen, eine prestigeträchtige Universität zu besuchen. Denn das hätte ihn sozial zum Außenseiter gemacht, wenn nicht sogar zum Opfer körperlicher Übergriffe. Der britische Soziologe Paul Willis argumentierte in den 1980er Jahren, wenn Jugendliche versuchten, ihren sozioökonomischen Status zu verändern, riskierten sie oft, von ihrer angestammten Gemeinde verstoßen zu werden.29 Diese Dynamik war in den Gemeinden und Gemeinschaften, die ich beobachtete, häufig anzutreffen.

Der Sachbearbeiter war über meine Analyse überrascht, und wir führten im Anschluss ein langes Gespräch über die Herausforderungen der Selbstdarstellung in einem vernetzten Zeitalter.30 Ich werde nie erfahren, ob der junge Mann schließlich an dieser angesehenen Universität zum Studium zugelassen wurde, aber das Gespräch fiel mir immer wieder ein, wenn ich sah, wie andere Erwachsene den Selbstausdruck von Jugendlichen im Netz fehl­interpretierten. Mir wurde klar, dass das, was Teenager in sozialen Medien scheinbar tun und sagen, äußerst eigenartig, um nicht zu sagen richtiggehend problematisch wirkt, wenn man ihre Selbstdarstellung aus dem Kontext nimmt.31

Es kommt auf das Zielpublikum an, das sich die Jugendlichen vorstellen, egal wie das tatsächliche Publikum beschaffen ist. Unglücklicherweise glauben Erwachsene manchmal, sie verstünden, was sie im Internet sehen, ohne zu berücksichtigen, welchen Kontext sich die Jugendlichen vorgestellt hatten, als sie ein bestimmtes Foto oder einen bestimmten Kommentar veröffentlichten. Das Verständnis des Zusammenspiels von Kontext, Publikum und Identität ist eine der zentralen Herausforderungen, mit der alle konfrontiert sind, die lernen, sich in den sozialen Medien zu bewegen. Und bei allen Fehlern, die Jugendliche machen können und tatsächlich machen, sind sie oft führend in der Suche nach Wegen, wie man sich in einer vernetzten Welt bewegt, in der kollidierende Kontexte und ein imaginäres Pulikum eine Selbstverständlichkeit sind.

Aus dem Zusammenhang gerissen


In seinem 1985 erschienenen Buch No Sense of Place beschreibt der Medienwissenschaftler Joshua Meyrowitz die Geschichte des amerikanischen Bürgerrechtsaktivisten Stokeley Carmichael. In den 1960er Jahren hielt Carmichael regelmäßig Reden vor verschiedenen Publikumsgruppen. Wenn er vor weißen Politikern sprach, verwendete er einen anderen Redestil, als wenn er vor schwarzen Gruppierungen aus den Südstaaten sprach. Als Carmichael begann, seine Ideen über Radio und Fernsehen zu publizieren, stand er vor einer schwierigen Entscheidung: An welches Zielpublikum sollte er sich richten? Egal wie er seine Rhetorik gestaltete, er würde immer irgendeine Gruppe befremden. Er sollte Recht behalten. Indem er in den Massenmedien mit rollender, pastoraler Stimme sprach, machte er sich bei schwarzen Aktivisten beliebt, verstimmte aber die weißen Eliten.

Meyrowitz argumentiert, die elektronischen Medien, wie zum Beispiel Radio und Fernsehen, ließen scheinbar voneinander getrennte Kontexte aufeinanderprallen. Personen des öffentlichen Lebens, Journalisten und andere, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, müssen sich regelmäßig parallel in unterschiedlichen und voneinander getrennten sozialen Kontexten bewegen und ihre Äußerungen in Einklang mit den Deutungsversuchen der verschiedenen Publikumsgruppen bringen. Eine Kontextkollision passiert immer dann, wenn Menschen gezwungen sind, sich gleichzeitig in separaten sozialen Kontexten zu bewegen, in denen unterschiedliche Normen gelten und die scheinbar unterschiedliche soziale Reaktionen erfordern. Einige Menschen fühlen sich zum Beispiel unbehaglich, wenn sie auf einen ehemaligen Lehrer treffen, während sie mit ihren Freunden in einer Bar trinken. Eine solche Kontextkollision geschieht in vernetzten Öffentlichkeiten noch viel häufiger.

Die von Meyrowitz beschriebenen Dynamiken sind längst kein Phänomen mehr, das nur bekannte Persönlichkeiten betrifft, die in Massenmedien auftreten. Wenn Teenager sich über soziale Medien austauschen, sind unsichtbare Publikumsgruppen und die Gefahr eines Kontextzusammenpralls Teil ihres täglichen Lebens.32 Ihre Lehrer könnten lesen, was sie im Internet ihren Freunden mitteilen, und wenn ihre Schulfreunde beginnen, mit ihren Freunden aus dem Sommerlager zu kommunizieren, kann das Freude darüber auslösen, dass sich ihre beiden Freundesgruppen verständigen und verstehen – es kann aber auch dazu führen, dass sie sich unbehaglich fühlen. Um den Kontext in ihrer eigenen Vorstellung zu stabilisieren, machen Jugendliche das, was andere schon vor ihnen getan haben: Genau wie Journalisten und Politiker visualisieren sie vorab die Zielgruppe, die sie erreichen wollen.33

Wenn man sich an ein unbekanntes oder unsichtbares Publikum richtet, kann man unmöglich alle erdenklichen Interpretationen der eigenen Botschaft vorhersehen. Menschen, die sich an die Öffentlichkeit richten, stellen sich vielmehr eine spezifische Zielgruppe potenzieller Besucher ihrer Website vor und konzentrieren sich auf deren wahrscheinliche Reaktion. Folglich definiert dieses imaginäre Publikum den sozialen Kontext. Mit ihrer Entscheidung, wie sie sich einem unsichtbaren, fernen Publikum präsentieren wollen, müssen die Absender versuchen, das Risiko einer Kontextkollision zu vermeiden, beziehungsweise den Kontext definieren, in dem sie sich bewegen.

Jugendliche stellen sich oft vor, diejenigen, die sie als »Freunde« oder »Followers« definiert haben, seien ihr Publikum, unabhängig davon, wer ihr Profil tatsächlich ansieht. Theoretisch ermöglichen die Einstellungen zur Privatsphäre, den Kreis derjenigen einzugrenzen, die Zugang zu den eingestellten Inhalten haben, sowie die Inhalte selbst nach Empfängergruppen zu klassifizieren. Bei MySpace und Twitter, deren Einstellungen relativ leicht zu handhaben sind, ist die Eingrenzung der Empfängerzielgruppe ziemlich unkompliziert. Die Handhabung der Einstellungen von Facebook wirkt angesichts der komplexen und sich ständig verändernden Einstellungsmöglichkeiten dagegen relativ verschlungen und verwirrend.34

Darüber hinaus haben viele Jugendliche gute Gründe, den Kreis derjenigen, die Zugang zu ihren Profilen haben, nicht einzugrenzen. Einige wollen mit anderen in Kontakt treten können, die ihre Interessen teilen. Andere erkennen, dass Einstellungen zur Privatsphäre Eltern kaum am Herumschnüffeln hindern können oder Freunde am Versenden pikanter Botschaften. Viele Jugendliche beklagen sich darüber, dass ihre Eltern ihnen ständig über die Schulter sehen, wenn sie am Computer sitzen, oder dass Freunde die Status-Updates per Copy-and-paste-Funktion weiterversenden.

Noch komplizierter wird das Ganze, weil die Zugehörigkeit zur imaginären Zielgruppe an sich noch nicht bedeutet, dass jemand tatsächlich die veröffentlichten Nachrichten des Absenders liest. Wenn die Websites sozialer Medien Content-Streams anbieten, wie es für Twitter,...

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