Prolog: »Turbo-Wickeln« für den Papst
Castelgandolfo ist ein kleiner, beschaulicher Ort in den Albaner »Bergen«, die man sich eher als sanfte, grüne Hügelkette rund um einen malerischen See vorstellen kann. Hier verbringen Päpste normalerweise ihre Sommerfrische. Hier atmen sie klarere und kühlere Luft als im stickig-schwülen Rom. Hier tanken sie Kraft für das wahrscheinlich anspruchsvollste (Ehren-)Amt, das die Welt zu vergeben hat.
Immerhin muss kein Stellvertreter Christi auf Erden hier auf seinen bewährten Schutz durch die Schweizergarde und die Vatikan-Gendarmerie verzichten: Die päpstliche Residenz genießt in Italien exterritorialen Status.
Das Städtchen Castelgandolfo ist auch ein Ort der Ruhe, der »Entschleunigung«, wie es neudeutsch heißen würde: Im Vergleich zur hektischen Hauptstadt Italiens reden die Menschen hier nur halb so laut und halb so schnell – was nicht bedeuten muss, dass sie weniger zu sagen haben. Böse Zungen behaupten, sie arbeiten auch höchstens halb so flott. Aber das gilt wahrscheinlich nur für die Gärtner im päpstlichen Park, die mit großer Würde uralte Bäume zurechtstutzen und dabei so in sich zu ruhen scheinen, dass man sie um ihren Job fast beneidet.
Leiser ist auch der Verkehr. Wer aus dem nur 20 Kilometer entfernten Rom kommt, staunt, dass Ampeln und Vorfahrtsschilder hier tatsächlich eine Art Funktion haben. Mit etwas Glück kann man sogar mal eine legale Parklücke ergattern. In Rom findet man traditionell niemals Parkplätze – man erfindet sie.
Vor dem päpstlichen Schloss ist Fußgängerzone, herrscht himmlische Ruhe. Ein Brunnen plätschert auf der zentralen Piazza, an der es im Prinzip alles gibt, was man im Alltag braucht: eine Gelateria, eine Kirche, eine Postfiliale, eine Bank, dazu ein kleiner Laden, der sogar Milch aus dem nahe gelegenen Päpstlichen Bio-Bauernhof verkauft. Jedenfalls an Einheimische und jenen Teil der Pilger und Touristen, die nicht den unverzeihlichen Fauxpas begehen, nach »Papst-Milch« zu fragen.
Wir sind gut in der Zeit heute, meine Frau Sara und ich, als wir an diesem Septembermorgen 2011 das riesige Holztor passieren, mit dösendem Baby im Arm, vorbei an salutierenden Schweizergardisten.
Heute ist öffentliches Angelus-Gebet (»Der Engel des Herrn …«). Entsprechend groß ist schon der Trubel im Innenhof des Schlosses. Hier und da entdecke ich bekannte Gesichter: Die beiden Kolleginnen aus Polen sind da, die für ihren Bienenfleiß bekannt sind. Der päpstliche Hoffotograf Francesco Sforza plaudert mit einem Agenturkollegen.
Der beim »Osservatore Romano« angestellte Sforza ist ein gutes Beispiel für eine Faustregel, die man im Vatikan schnell lernt: Die Menschen, die wirklich nah dran sind an Benedikt, sind diskret, höflich und bodenständig. Arroganz und Prahlerei mit vermeintlichem Geheimwissen und besonderer Papst-Nähe sind dagegen sichere Hinweise auf die zweite bis letzte Reihe.
Im Castello selbst werden die Stimmen gedämpft, die Schritte gemäßigter. Mit Ausnahme von Privatsekretär Georg Gänswein (Tennisspieler, Ex-Fußballer und Ex-Skilehrer) sind es doch eher betagte Herren und Geistesmenschen, die Papst Benedikt XVI. (bekennender Sportmuffel und Nichtschwimmer) im Alltag umgeben.
Meine Frau stammt von der Mittelmeerinsel Sardinien, wo es als grobe Unhöflichkeit gilt, zu früh bei einer Einladung aufzukreuzen. Aber heute ist dies wohl entschuldbar? Wir sind schließlich nicht bei irgendwem zu Gast, sondern beim 264. Nachfolger des Apostels Petrus.
Leider nicht zum Exklusiv-Interview, von dem jeder Vatikan-Korrespondent heimlich 24 Stunden am Tag träumt. Sondern »nur«, um Benedikt XVI. in einer kurzen Begegnung nach seinem öffentlichen Gebet unsere erst wenige Monate alte Tochter vorzustellen, die uns deutlich glücklicher macht als es die typischen Augenringe nach den ersten Monaten Schlafentzug vermuten lassen würden.
Wir werden in den repräsentativen Schweizersaal im obersten Stockwerk geführt, von wo aus man durchs Fenster den Innenhof aus ungewohnter Vogel-Perspektive überblicken kann. Die vertrauten, fröhlichen Beeee-ne-detto-Rufe sind zu hören. Gleich, Punkt 12 Uhr, wird Benedikt XVI. auf dem Balkon erscheinen.
Etwa ein Dutzend anderer Gäste kämpfen im wohl repräsentativsten Wartesaal der Welt mit ihrer Nervosität, ziehen und zupfen an Haarspangen und Kinderkleidern. Wir sind also nicht die einzige Familie, wenngleich die anderen Bambini deutlich älter sind. Während unsere Blicke ehrfürchtig über prachtvolle Gemälde und antike Möbel schweifen, schaut unsere kleine Tochter unbeeindruckt und vollkommen unbeteiligt drein.
Das ändert sich auch nicht, als ihr ein den Eltern nur allzu vertrautes Geräusch entfährt.
Wir blicken uns an, wissen in dieser Sekunde: Jetzt läuft der Ernstfall-Countdown, über den wir zuvor im Auto noch gescherzt hatten: Was machen wir eigentlich, wenn …? Dem Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken ein Baby mit voller Windel unter die Nase halten, scheint uns keine denkbare Option zu sein.
Ein Königreich also für eine Wasch- und Wickelmöglichkeit. Der erste Schweizergardist im Sonntagsdienst, den wir fragen, schüttelt den Kopf, mit einem Gesichtsausdruck, als hätten wir in der Wüste Gobi nach einem Rasenmäher gefragt. Der zweite überlegt einige Sekunden. Dann hat er einen Geistesblitz, nickt uns aufmunternd zu: »Folgen Sie mir.«
Jetzt kann sich jeder vorstellen: Ein Elternpaar mit Baby fällt in dieser kinderlosen Männerwelt bereits auf. Ein Elternpaar mit Baby und Wickeltasche, das mit hochroten Köpfen die Gänge und Prachtsäle entlangsprintet wie einst diese Rothaarige in »Lola rennt«, muss wie von einem anderen Stern wirken. Tack-tack, tack-tack. Unsere Laufschritte hallen vom Marmorfußboden wider.
»Hier noch einmal um die Ecke und dann rechts«, sagt der hilfsbereite Soldat. Wir erreichen einen recht großen, allem Anschein nach selten benutzten Raum, von dem zwei Toilettentüren abgehen. Seufzer der Erleichterung, als unser Blick auf ein großes Waschbecken fällt. Und noch viel besser: Im Eck steht ein hüfthoher, fast quadratischer Kühlschrank, Marke Museumsstück. Die perfekte Wickelunterlage.
Man sollte vielleicht nicht gleich von »Geschenk des Himmels« sprechen. Aber wer auch immer eines Tages auf die Idee gekommen sein mag, den Vorraum eines Doppel-WCs der päpstlichen Residenz ausgerechnet mit einem alten Kühlschrank auszustatten: Für uns hat er geradezu in göttlicher Voraussicht gehandelt.
Der junge Gardist meint, er drehe besser schon mal den Hahn für uns auf, denn hier oben dauere es eine halbe Ewigkeit, bis warmes Wasser fließt. Ewigkeit? Falsches Stichwort, wir haben höchstens fünf Minuten. Dann lässt er uns mit unserer inzwischen wie am (Hellebarden-)Spieß brüllenden Tochter allein.
Die nächsten Handgriffe sitzen, sogar das Wasser wird warm. Unsere Kleine beruhigt sich in Rekordzeit. Ein Blick zur Uhr verrät, dass wir zwar den Beginn des Angelus-Gebets verpasst haben, aber noch gut in der Zeit liegen für die eigentliche Papst-Begegnung.
»Baciamano« – Handkuss – heißt die schöne Tradition auf Italienisch, weil Katholiken aus Respekt vor dem Papst-Amt den Fischerring küssen oder es zumindest in einer Verbeugung andeuten sollten. In unserem Fall wird Benedikt XVI. »zurückküssen« – und zwar die Stirn eines zufrieden vor sich hinglucksenden, wohlriechenden Babys, ehe er den Eltern noch einige denkwürdige Worte mit auf den Nachhauseweg gibt.
An 364 Tagen im Jahr bin ich auch als katholisch getaufter Journalist zur professionellen Distanz verpflichtet. Aber in diesem Moment ist unsere kleine Familie einfach nur bewegt. Um es mit der berühmtesten aller BILD-Schlagzeilen zu sagen: An diesem Tag sind wir Papst.
Wer sollte ahnen, dass sich für Benedikt XVI. in diesen herrlichen Septembertagen 2011 der letzte unbeschwerte Castelgandolfo-Sommer dem Ende zuneigen würde? Dass sein Kammerdiener Paolo Gabriele, der einst als Reinigungskraft in den Vatikan gekommen war und der jetzt als Mitglied der päpstlichen Familie wie selbstverständlich mit am Abendbrottisch sitzen darf, ein Jahr später als entlarvter Spion und Verräter in einer Zelle auf seinen Prozess warten würde?
Im Alter von 85 Jahren wird Benedikt XVI. die Enttäuschung seines Lebens verkraften müssen – und sich das Komplott von seinen perfiden Gegnern auch noch als Zeichen von Führungsschwäche auslegen lassen müssen. Während viele, viel zu viele seiner Freunde schweigen.
Noch einmal knapp 6 Monate später, am 28. Februar 2013, wird Benedikt sich mit dem Hubschrauber aus dem Vatikan zum letzten Mal nach Castelgandolfo fliegen lassen. Entkräftet, aber ungebrochen. Er wird vom Außenbalkon der Residenz die letzten Worte seines knapp achtjährigen Pontifikats sprechen, ehe er aus eigener und freier Entscheidung heraus seinen Fischerring abstreift und die Schweizergardisten Punkt 20 Uhr ihren sichtbaren Dienst einstellen.
»Liebe Freunde, ich freue mich, dass ich bei euch bin, umgeben von der Schönheit der Schöpfung und eurer Sympathie, die mir so viel Gutes getan hat.«
»Ich bin nur noch ein einfacher Pilger, der die letzte Etappe seiner Pilgerreise auf dieser Erde beginnt.«
Ein letzter Segen, ein letzter, erschöpfter Blick ins Fahnenmeer aus Vatikan- und Bayernfähnchen, dann...