Einleitung
Anmerkungen aus der Unterwelt
Wir waren an einem Wendepunkt angelangt: Wir aßen zusammen zu Mittag. Wir spielten Normalität. Nach Jahren in der Unterwelt waren wir an die Oberfläche getrieben und sahen uns jetzt verstohlen um, wagten kaum zu atmen. Jane, bleich, mit großen, scheuen Augen, war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie ließ das Haar über das Gesicht fallen, als wolle sie verhindern, daß man sie dabei ertappte, wie sie sündigte, wie sie aß, wie sie ihre Schwäche zur Schau stellte, wie sie zugab, einen Körper zu besitzen, der immer wieder seine unverschämten Forderungen geltend machte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und dachte darüber nach, wie gut es war, gesund und lebendig zu sein, als sie den Kopf hob und flüsterte: »Mein Herz fühlt sich so komisch an.«
Ich richtete mich auf und fragte: »Was meinst du damit? Hast du Herzbeschwerden?« Sie nickte und sagte: »Es schlägt ganz unregelmäßig, und manchmal setzt es sogar ganz aus.«
Ich fühlte ihren Puls, dann griff ich mit einer Hand nach den Autoschlüsseln, mit der anderen packte ich ihren Arm und zerrte sie zur Tür hinaus ins Auto. Mir schwirrte der Kopf vor Erinnerungen und Statistiken, während wir auf dem schnellsten Weg in die Notaufnahme des Krankenhauses fuhren: Die ersten Monate der »Genesung« sind die gefährlichsten. Zum ersten Mal nach jahrelanger Auszehrung wird dem Körper wieder regelmäßig Nahrung zugeführt, und die physische Reaktion fällt entsprechend heftig aus: Oft kommt es zu Herzversagen, besonders dann, wenn man gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und die Wahrscheinlichkeit, daß das anorektische Verhalten erneut ausbricht, sehr hoch ist. Janes Augen sind geschlossen, sie atmet nur noch stoßweise. Jane ist erst einundzwanzig; ich darf nicht zulassen, daß sie stirbt. Ich weiß genau, was sie jetzt fühlt: die Beklemmung in der Brust, die Panik, der Gedanke Was-habe-ich-nur-getan und die Versicherung Aber-ichhabe-es-doch-nicht-ernst-gemeint. Eßstörungen bleiben oft lange unbemerkt. Heimlich und leise höhlen sie den Körper von innen her aus, und dann schlagen sie zu: Das Geheimnis kommt ans Licht. Man stirbt.
In der Notaufnahme überprüfte der Arzt erneut ihren Puls und ignorierte mich – zunächst nur geistesabwesend, dann verärgert – als ich ihn bat, doch bitte ein EKG vorzunehmen, ihren Blutdruck im Sitzen und im Stehen zu messen, ihre Elektrolyte zu überprüfen. Nachdem er Jane hier und dort abgetastet und befühlt hatte, drehte er sich schließlich zu mir um und sagte: »Entschuldigen Sie, Miss, aber der Arzt hier bin ich.« Ich sagte: »Ja, aber-.« Er machte nur eine Handbewegung, als wollte er mich verscheuchen wie eine lästige Fliege, und fragte Jane, wie sie sich fühlte. Sie sah mich an. Eine Magersüchtige zu fragen, wie sie sich fühlt, ist ein vergebliches Unterfangen. Ich sagte: »Hören Sie, sie leidet an einer Eßstörung. Führen Sie doch bitte einfach nur die Untersuchungen durch.« Der Arzt rief ungeduldig: »Was meinen Sie mit Eßstörung?«
Ich war am Boden zerstört. Ich sah nur noch eins: den Monitor, auf dem ich ihren schwachen und unregelmäßigen Puls beobachten konnte. Und dieser Mann stand einfach nur da, sah auf mich herab, sagte mir, daß er der Arzt hier sei und daß ich, eine junge Frau, die vierzehn Jahre lang durch die Hölle der Eßstörungen gegangen war, doch bitte den Mund halten sollte.
Ich hielt ihn nicht. Ich begann zu schreien.
Im folgenden Jahr gewannen wir beide an Stärke, Gewicht und Stimme. Jane begann, aufrechter auf ihrem Stuhl zu sitzen und – zunächst leise, dann immer lauter – diejenigen Worte zu sagen, die Millionen von Menschen nicht aussprechen können: Ich habe Hunger.
Ich erkrankte an Bulimie im Alter von neun, an Anorexie im Alter von fünfzehn Jahren. Ich konnte mich zwischen beiden Suchtformen nicht entscheiden und schwankte hin und her, bis ich zwanzig war. Jetzt bin ich dreiundzwanzig und ein recht interessantes Geschöpf mit einer nicht spezifizierten Eßstörung.a In den vergangenen dreizehn Jahren bewegte sich mein Gewicht zwischen 68 und 26 Kilo. Ich nahm rasant zu und wieder ab. Ich wurde »gesund«, dann »krank«, wieder »gesund«, schließlich noch »kränker« usw. – bis heute. Mittlerweile hält man meinen Zustand für »einigermaßen stabil«, wenn ich auch als verhaltensgestört und »extrem rückfallgefährdet« gelte. Ich war sechsmal im Krankenhaus, einmal in der Psychiatrie, habe unzählige Therapiestunden hinter mich gebracht; ich wurde so oft untersucht und beobachtet, klassifiziert, verhört, angespornt, gefüttert und gewogen, daß ich mir zuweilen vorkam wie eine Ratte in einem medizinischen Versuchslabor.
Die Geschichte meines Lebens – zumindest eine Version davon – lagert in riesigen Papierstapeln und Mikrofichekatalogen in diversen Krankenhausarchiven der Stadt, bewacht von mißtrauisch dreinblickenden Frauen, die mich fragten, warum ich sie einsehen wollte, was ich mit den Informationen in den Akten, auf denen mein Name und mein Geburtsdatum standen, anfangen würde. Ich Unterzeichnete Formulare, die bestätigten, daß ich ich selbst war und deshalb das Recht hatte, die Dokumentation meines Lebens einzusehen, und weitere Formulare, die bestätigten, daß ich keine Anwältin war und nicht beabsichtigte, das Krankenhaus Soundso verantwortlich zu machen für (Patientenname) (lebendig oder tot). Ich zeigte ihnen meinen Ausweis. Ich widersprach höflich, als man mich in einigen Krankenhäusern darüber informierte, daß es mich nicht gäbe, weil keine Akten vorlagen über – wie war doch gleich der Name? – nein nein, hier ist keine Akte über eine Person dieses Namens. Unvollständig, nicht funktionstüchtig, nicht existent, wie ich war, befeuchtete ich meinen Finger und blätterte mein Leben durch, etwa zweitausend Seiten unleserlicher Notizen.
Ich lernte unter anderem, daß ich »chronisch« krank bin, ein »hoffnungsloser Fall«. Ich saß auf meinem Klappstuhl und betrachtete das Bild, das diese Aufzeichnungen von mir entwarfen: das Bild einer Invalidin, eines Mädchens mit Wahnvorstellungen, das sein zukünftiges Leben, wenn überhaupt, dann in Krankenhaushemdchen und Krankenhausbetten verbringen würde.
Dieses Bild ist allerdings etwas ungenau. Ich bin weder geistesgestört noch invalide. Im Gegensatz zu jenen Akten, die mein baldiges Ableben prognostizierten, bin ich nicht gestorben. Heute pflege ich Muffins nicht mehr zu sezieren und bis in ihre Atome zu zerlegen, um dann an den Krümeln herumzuknabbern wie ein psychotisches Karnickel. Am Ende einer Mahlzeit springe ich nicht mehr wie von der Tarantel gestochen auf und hechte ins Badezimmer. Ich wohne in einem ganz normalen Haus, nicht im Krankenhaus. Ich lebe von einem Tag zum nächsten und denke nicht länger darüber nach, daß ich eines Morgens aufwachen und feststellen könnte, daß sich mein Hintern über Nacht auf magische Weise vergrößert hat. Das war keineswegs immer so. Es gab Zeiten, in denen ich morgens nicht aufstehen konnte, weil die Muskeln meines ausgezehrten und geschwächten Körpers sich weigerten, mir zu gehorchen. Es gab Zeiten, in denen mir die Lügen leicht über die Lippen kamen, weil es viel wichtiger war, mich selbst zu zerstören als zuzugeben, daß ich ein Problem hatte, geschweige denn, mir von jemandem helfen zu lassen. Jene Aktenstapel, die ich jetzt in diversen medizinischen Archiven der Stadt von Tisch zu Tisch trug, wogen häufig mehr als seinerzeit die Patientin, die sie beschrieben.
Heute ist das anders. Ich habe eine Eßstörung – keine Frage. Die Störung und ich befinden sich im Kriegszustand. Aber das ist mir erheblich lieber als jene Zeiten, in denen wir Bett, Tisch, Gehirn und Körper miteinander teilten, und mein Selbstwertgefühl vollkommen von der Fähigkeit zu hungern abhängig war. Eine seltsame Gleichung, und ein viel zu verbreiteter Irrglaube: Daß der eigene Wert in dem Maße steigt, in dem man körperlich verschwindet.
Ich habe an dieser Stelle keineswegs die Absicht, mich vor Ihnen zu entblößen und Ihnen zu berichten, wie schrecklich mein Leben, wie gemein mein Vater und meine Mutter waren, und daß irgendein Kind mich in der dritten Klasse »fette Kuh« genannt hat, denn nichts davon ist wahr. Ich werde mich auch nicht lang und breit darüber auslassen, daß es bei Eßstörungen darum geht, »Kontrolle« auszuüben, denn das wissen wir alle zur Genüge. »Kontrolle« ist ein Reizwort, das dazu dient, die Wahrheit zu vereinfachen, Menschen in Schubladen zu stecken und sie in mentale Quarantäne zu schicken und dann mit dem Finger auf sie zu zeigen: Da. So sieht jemand aus, der eine Eßstörung hat. Bei dieser Krankheit geht es um … ja, es geht um Kontrolle, aber genauso um die Biographie des einzelnen, um Philosophie, um die Gesellschaft, um das Gefühl der Entfremdung von sich selbst und der Umwelt, um Familienprobleme, um autoerotische Erlebnisse, um Mythen, Spiegel, Liebe, Tod, Sadismus, Masochismus, um Illustrierte und Religion, darum, wie das blinde Individuum durch eine Welt stolpert, die ihm immer fremder wird. Die Frage ist nicht, ob Eßstörungen tatsächlich »neurotisch« sind und auf eine Geistesstörung hindeuten – selbst mir würde es schwerfallen, rational zu begründen, warum man sich zu Tode hungert oder warum man sich der Völlerei hingibt, nur um sofort alles wieder zu erbrechen. Die Frage ist vielmehr, warum es eine solche psychosomatische Krankheit überhaupt gibt, was sie auslöst, und warum so viele junge Frauen davon betroffen sind. Warum fällt es uns so leicht, uns für diesen Weg zu...