Die Schauder einer Kindheit und Jugend
Kinder brauchen Liebe, die zärtliche Zuwendung ihrer Eltern, wenn sie gesund und glücklich aufwachsen sollen. Dies, so scheint es, ist ein eherner Lehrsatz, durch unsere Menschenkunde und nicht zuletzt aus Schreckensberichten belegt – davon zum Beispiel, daß vor allem die Kinder leiden und dann womöglich auf die schiefe Bahn geraten, wenn ihre Eltern sich entzweien. Genau betrachtet stellt dieser Lehrsatz freilich die noch ziemlich neue Entdeckung oder Erfindung einer Gesellschaft dar, die von bürgerlichen Vorstellungen, noch moderner ausgedrückt, von den Mittelschichten geprägt wird.
Jedenfalls sieht es in älteren Ordnungen anders aus. Da sind die Kinder kleine, leider noch unfertige Erwachsene, die man mit Strenge und auch mit Prügeln dazu antreibt, daß sie so schnell wie möglich groß und gebrauchstüchtig werden. In den armen, hart arbeitenden Unterschichten der Bauern, Handwerker und Tagelöhner – also bei der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung – müssen die Kinder im Haus, im Garten und im Stall, auf dem Feld und beim Viehhüten, am Spinnrad und am Webstuhl mithelfen, sobald sie nur können. Von frühester Jugend an bis ins Alter wird das Leben geprägt von dem biblischen Fluch: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.« Und wenn man halbwegs gesund bleibt und sich satt essen kann, dann ist es schon viel.
Bei den europäischen Oberschichten, an Fürstenhöfen und beim Adel, geht es anders und doch wiederum ähnlich zu. Zwar muß man nicht arbeiten wie das gemeine Volk, aber man ist so vielfältig beschäftigt, daß für die Kinder keine Zeit bleibt. Ganz besonders gilt das für die auserlesenen Familien, nur ein paar hundert insgesamt, die Großbritannien seit unvordenklichen Zeiten regieren. Geselligkeit und Gespräch, das Dabeisein, das Ansehen und die Intrigen im eigenen auserlesenen Kreis, die Jagd und das Reiten, die Politik und der Sport: Immer hat man zu tun. Folgerichtig sagt das Sprichwort: »Die Engländer säugen ihre Jungen nicht« – sondern überlassen sie den Ammen, Kindermädchen und Gouvernanten, schließlich einer strengen Erziehung in berühmten Schulen wie Harrow oder Eton.
Winston Churchills Kindheit macht anschaulich, wovon die Rede ist. Er wird am 30. November 1874 in Blenheim geboren, im Hause des Großvaters, des Siebenten Herzogs von Marlborough. Nein, nicht im Hause, sondern im Schloß, im Palast von Blenheim, der vom ererbten Besitz, vom beinahe unermeßlichen Reichtum zeugt, den der erste Namensträger um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zusammentrug. Da freilich nach dem englischen Adelsrecht nur der erstgeborene Sohn den Titel und das Vermögen erbt, heißt der Vater als ein Nachgeborener nur Lord Randolph und dessen Sohn schlicht Winston Churchill.
Um hier für einen Augenblick zu verweilen: Das strenge englische Adelsrecht schafft andere Verhältnisse als auf dem Kontinent – nicht eine abgeschlossene Kaste, sondern eine offene Oberschicht. Die nachgeborenen Kinder treten ins Bürgertum über. In der Gegenrichtung können Aufsteiger für ihre Verdienste mit klingenden Titeln geschmückt werden, ohne daß eine Adelsinflation droht.[1] Nur politisch entsteht eine Spaltung: Die Lordschaften nehmen im Oberhaus Platz, ohne sich einer Wahl stellen zu müssen. Dafür sehen sie sich vom Unterhaus ausgeschlossen. Um seinen Sitz dort nicht zu verlieren, hat darum manch einer die Beförderung zum Lord oder – wie Churchill nach 1945 – zum Herzog ausgeschlagen.
Winstons Mutter, Jennie Jerome, war die Tochter eines amerikanischen Emporkömmlings und New Yorker Finanzmaklers, in deren Adern, wie es heißt, auch ein Anteil von Indianerblut floß. Lord Randolph sah sie, verliebte sich und setzte die Heirat durch, zum Entsetzen der herzoglichen Familie. Doch als blendende Schönheit wurde sie bald schon umschwärmt und genoß das aristokratische Leben in vollen Zügen. Darum wollte sie auch nicht auf Geselligkeit und Tanz verzichten, als sie bereits hochschwanger war. Aber das ungebärdige Kind hatte es eilig; plötzlich setzten die Wehen ein. Über die endlosen Palastflure erreichte Jennie gerade noch die Damengarderobe und brachte dort Winston in einer Sturzgeburt zur Welt, um sieben Wochen zu früh. Sobald wie möglich wandte sie sich dann wieder ihren Vergnügungen zu.
Lady Churchill, die amerikanische Mutter, eine umschwärmte Schönheit, die der Sohn kaum zu sehen bekam. »Ich liebte sie zärtlich – aber von fern«, hat er gesagt.
[Copyright © Churchill Biography: Photographic Collection (reproduced with permission of Curtis Brown Ltd, London, on behalf of Winston S. Churchill. The Estate of Sir Winston S. Churchill and the Broadwater Collection)]
In seinen Jugenderinnerungen hat Churchill geschrieben: »Meine Mutter erschien mir immer wie eine Märchenprinzessin … Lord D’Abernon hat sie mit Worten geschildert, für die ich ihm dankbar bleibe: ›Ich erinnere mich noch genau, wie ich sie zum erstenmal sah. Es war im Hause des Vizekönigs in Dublin [Churchills Großvater Marlborough]. Sie stand links seitlich vom Eingang. Am anderen Ende des Saales bemerkte man den Vizekönig auf einer Estrade, umgeben von glänzendem Gefolge. Aber die Blicke richteten sich nicht auf ihn oder seine Gattin, sondern auf die dunkle, biegsame Gestalt, die sich ein wenig abseits hielt und aus anderem Stoff gemacht schien als die Umstehenden: strahlend, wie von innen her leuchtend, sprühend von Leben. In ihrem Haar ein Brillantstern, ihr Lieblingsschmuck – sein Feuer gedämpft durch die blitzende Pracht der Augen. Der Blick war mehr der eines Panthers als der einer Frau, aber von einer edlen Geistigkeit, die dem Dschungel fremd ist. Sie war ebenso beherzt und mutig wie ihr Mann – ganz die Mutter für Nachkommen des großen Herzogs. Bei allem Glanz ihrer Erscheinung zugleich von einer Güte und Heiterkeit, die ihr allgemeine Zuneigung erwarben. Ihr Wunsch zu gefallen, ihre Freude am Dasein, ihr instinktives Bestreben, andern ihren frohen Glauben an das Leben zu übermitteln, machten sie zum Mittelpunkt eines ihr ergebenen Kreises.‹«[2]
»Auch mir«, fährt Churchill fort, »erschien meine Mutter als etwas glanzvoll Strahlendes. Sie leuchtete mir wie der Abendstern. Ich liebte sie zärtlich – aber von fern.« Ja, von so weit her wie einen Stern, im Grunde unerreichbar. Übrigens hat Jennie nach dem Tode von Lord Randolph noch zweimal geheiratet, zunächst einen Offizier, der zwanzig Jahre jünger war als sie und von dem man sagte, daß er der am besten aussehende Mann seiner Zeit gewesen sei. Jennie wollte eben, statt in der Witwenschaft zu versinken, weiterhin gesellschaftlich glänzen. Sie starb 1921.
Vom Vater ist noch viel mehr zu sagen als von der Mutter. In seiner Jugend war er, was wir heute einen Playboy nennen, und die Skandale blieben nicht aus. In sich überkreuzenden Affären kam es sogar dazu, daß der Prince of Wales – später König Eduard VII. – Lord Randolph Churchill zum Duell forderte. Der Lord erwiderte, daß er sich mit jedem Stellvertreter schlagen werde, nur nicht mit dem künftigen König. Der Prinz wiederum erklärte, daß er kein Haus mehr betreten werde, das die Churchills empfange. Schließlich fand der weise alte Premierminister, Benjamin Disraeli, den Ausweg: Er schickte den Herzog von Marlborough als Vizekönig nach Dublin – und Lord Randolph dem Vater als Privatsekretär hinterher, sozusagen zur Abkühlung ins irische Exil. So kam es, daß die frühesten Kindheitserinnerungen des kleinen Winston aus Irland stammten.
Inzwischen entdeckte der Vater seinen politischen Ehrgeiz. Er wurde zum – natürlich konservativen – Parteimann und rückte bald zur Führungsfigur auf. »Tory Democracy« hieß sein zündendes Schlagwort. Er erkannte, daß die Whigs, die Liberalen, kaum mehr als eine begrenzte Mittelschicht verkörperten und daß man die Arbeitermassen, die inzwischen das Wahlrecht erreicht hatten, fürs konservative Feldlager gewinnen könne, wenn man sie nur gehörig, das heißt demagogisch, in ihrer eigenen Lebenswelt ansprach. Ein Radikaler im konservativen Gewand, ein mitreißender Redner, der seine Gegner wüst und in nie gehörten Wendungen beschimpfte: Den eigenen Parteifreunden war er damit höchst unheimlich. Lord Salisbury, der Parteiführer, sagte: Randolph und der Mahdi [der Führer eines fanatischen religiösen Aufstandes im Sudan] beschäftigen mich zu ungefähr gleichen Teilen. Der Mahdi spielt verrückt, aber in Wirklichkeit ist er ganz klar im...