Für eine Kultur des Zweifels
Viele Menschen dürften das kennen: Man hört oder liest irgendwann etwas, und für den Rest des Lebens begleitet und prägt es einen. Bei mir ist es eine bemerkenswerte Rede, die Willy Brandt 1981 an der Universität in Bologna gehalten hat und die von der Kultur des Zweifels handelt. Brandts Rede hat mich überrascht, denn von einem Politiker wird gemeinhin Führungsstärke und Gewissheit erwartet und nicht das abwägende Urteilen über die eigene Politik. Ich glaube, das ist es, was Willy Brandt von allen anderen Politikern unterschied: Er traf Entscheidungen, manchmal sehr harte, doch im Grunde seines Herzens war er ein Zweifler, der die Dinge immer wieder prüfte und seine Entscheidungen und Ziele hinterfragte.
Wer zweifelt, der hört auch zu, nimmt andere Argumente auf und versetzt sich gedanklich in die Lage des jeweils anderen. Ich möchte dafür plädieren, dass wir in der Politik generell und in der SPD ganz besonders eine neue Kultur des Zuhörens und Zweifelns etablieren. Wenn wir wieder einen echten Dialog mit unseren Anhängerinnen und Anhängern wagen, haben wir eine reelle Chance, das Politische wiederzubeleben und auf diesem Weg an Attraktivität zu gewinnen.
Unbestreitbar ist, dass demokratische Politik nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie andere für sich und ihre Ziele gewinnt. Das setzt ein selbstsicheres Auftreten der Akteure voraus; sie müssen überzeugt sein von dem, was sie tun. Äußern sie Fragen oder Zweifel, macht es das nicht unbedingt leichter, andere zu überzeugen. Aus diesem Grund erscheint eine Kultur des Zweifels auf den ersten Blick als das genaue Gegenteil eines selbstbewussten Führungsstils. Und meistens betrachten wir Politiker den Zweifel als etwas, was unser Vorankommen behindert.
Ab und an gibt es in der Politik aber Ausnahmeerscheinungen wie Willy Brandt, die begeistern können und dennoch Zweifel zulassen. Entscheidend dabei ist, dass sie die Zweifel nicht im Stillen mit sich herumtragen, sondern sie offen aussprechen und die anderen in die eigene Entscheidungsfindung einbinden. Das erfordert ein gehöriges Maß an Souveränität.
Deshalb halte ich es für grundlegend falsch, wenn behauptet wird, wer Zweifel habe, sei schwach und könne keine eindeutige Position beziehen. Das ist Unsinn, eine reine Schutzbehauptung. Der Zweifel ist ein Instrument, der uns davor bewahrt, selbstgefällig zu werden und Irrtümer zu wiederholen, ohne sie zu hinterfragen. Der Zweifel ist schlicht und ergreifend die Grundlage für Verständigung, die Eintrittskarte zum demokratischen Diskurs. Wer keinen Zweifel kennt, ist nicht zur Empathie und zur konstruktiven Diskussion fähig und damit im Grunde nicht demokratietauglich. Das alles macht den Zweifel so wichtig.
Bemerkenswert an Brandts Bologna-Rede ist für mich die Stringenz, mit der er dem Zweifel das Wort redet – eine Stringenz, die sich auch in seiner Biografie wiederfindet. Brandt hatte die seltene Gabe, die Perspektive anderer einzunehmen und doch gleichzeitig eine klare Linie zu verfolgen Diese Qualität ermöglichte die deutsche Verständigung mit Osteuropa und die Aussöhnung mit Polen. Sie ermöglichte es Brandt, zunächst unüberwindbar scheinende Barrieren aus dem Weg zu räumen. Er selbst hat es so formuliert: »Der Zweifel träumt nicht, denn er geht vom Bestehenden aus, das er in Frage stellt. Aber durch das Bestehende hindurch ist er dem Traum, den Zielsetzungen einer Politik verschwistert, die über den Tag hinaus will.«
Willy Brandt bleibt bis heute der einzige Bundeskanzler, der Zweifel offen zuließ. Wir sollten von ihm lernen.
Ich glaube, im Reformprozess der Agenda 2010 haben wir Sozialdemokraten den eigentlich gebotenen Zweifel unterdrückt. Wir haben uns dazu gezwungen, den einmal eingeschlagenen Weg zu gehen, obwohl wir wussten, dass Zweifel angebracht waren. Wir haben die Reformen als alternativlos hingenommen, es wurde keine Diskussion zugelassen, und damit haben wir die Chance vertan, eine Reformpolitik zu entwerfen, die wir den Menschen vermitteln können.
Die Agenda galt lange Zeit als gesetzt, und bei jedem Änderungsvorschlag wurde das Zentimetermaß hervorgeholt, um nachzumessen, wie weit man sich damit vom ursprünglichen Konzept entfernen würde. Mit dieser Fixierung auf die Agenda – der übrigens sowohl die Befürworter als auch die Gegner erlegen sind – haben wir jede intellektuelle Regung in der SPD abgewürgt. Eine offene Debatte über neue politische Ideen war nahezu unmöglich.
In einer schweren Wirtschaftskrise, wie wir sie derzeit erleben, ist eine derartige intellektuelle Selbstbeschränkung aber tödlich für eine Partei. Wenn wir über politische Konsequenzen aus der Wirtschaftskrise reden, dürfen wir uns nicht weiterhin selbst Fesseln anlegen. Wir brauchen den Zweifel. Willy Brandt sagte zu Recht: »Der Zweifel ist produktiv. Er stellt das Bestehende in Frage.«
Die gegenwärtige Krise wirft grundlegende Fragen auf: Ist es richtig, darauf zu vertrauen, dass sich das in der Vergangenheit Bewährte auch in Zukunft bewähren und die Gesellschaft mit der Überwindung der Krise in eine neue Prosperitätsphase eintreten wird? Oder ist es angebracht, an diesen angeblichen Gewissheiten zu zweifeln und sich auf die Suche nach einem neuen, modifizierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu machen? Für mich ist klar: Die Krise erfordert ein kritisches Hinterfragen der bisherigen Politik – erfordert eine Kultur des Zweifels. Und das gilt nicht nur für die SPD, sondern für uns alle. Erst damit gewinnen wir die Möglichkeit, aus den Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu lernen.
Dass auch wir als Partei am gesellschaftlichen Lernprozess teilnehmen, und zwar in exponierter Stellung, liegt in der Natur der Dinge, denn Parteien tragen im demokratischen System ganz wesentlich zur politischen Willensbildung bei.
Die SPD hat in ihrer langen Vergangenheit viele gesellschaftliche Lernprozesse gemeistert: die Domestizierung des Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft, die neue Ostpolitik, die gesellschaftspolitische Öffnung, die Gleichstellung der Frau, die Teilnahme Deutschlands an internationalen Militäreinsätzen, die Integration von Zuwanderern und die Reform des Sozialstaats – um nur einige dieser Herausforderungen zu nennen. Keiner dieser Lernprozesse verlief schmerzfrei – weder für die Gesellschaft noch für die SPD. Sobald man sich aber auf sie eingelassen hat, kam es zu einem lebendigen Austausch zwischen beiden.
Sehr zu meinem Leidwesen ist diese Art von konstruktivem Austausch in den letzten zehn Jahren ausgesprochen rar geworden. Die SPD hat sich nicht mehr als eine lernende Organisation begriffen und entsprechend agiert. Die logische Konsequenz: Immer weniger Menschen trauen der SPD zu, die anstehenden Probleme zu lösen – und das schlägt sich in besorgniserregenden Wahlergebnissen nieder. Wo allzu oft »Basta« gesagt wurde und wird, bleiben Lernen, Weiterentwicklung und Erneuerung auf der Strecke.
Erfolgreiche Lernprozesse benötigen Zeit – so drängend die anstehende Fragen auch sein mögen. Auf die Herausforderungen der finanzmarktgetriebenen Globalisierung beispielsweise versucht die Sozialdemokratie seit mindestens anderthalb Jahrzehnten angemessene Antworten zu finden.
Seit die Globalisierung Eingang in die politischen Debatten gefunden hat, gab es innerhalb der Partei sehr unterschiedliche Auffassungen über zentrale Fragen: Welche Aspekte des Wandels sind wünschenswert und welche sind gefährlich? Wie sollen soziale Sicherheit und Gerechtigkeit unter den neuen Bedingungen aussehen? Heute zeigt sich, dass alle damaligen Ansätze zu kurz griffen. Wir erleben neue soziale Ungleichheiten und Unsicherheiten. Die Globalisierung schafft enorme Werte, produziert aber gleichzeitig viele Verlierer, und die Finanzmarktkrise deckt die Schwächen der unregulierten Marktwirtschaft schonungslos auf. Deshalb sind Konzepte für die Gestaltung einer globalisierten Wirtschaft und transnationaler Politik heute dringender denn je – sie zu entwickeln, bleibt die Herausforderung zukünftiger Politik. In diesem Zusammenhang ist eine Sozialpolitik geboten, die Flexibilisierung nicht ignoriert, aber wo nötig begrenzt, und die echte Vorsorgekonzepte entwickelt, statt mit diesem Begriff Sozialkürzungen zu bemänteln.
Die SPD darf sich nicht scheuen, Verantwortung für die Regierungszeit der vergangenen Jahre zu übernehmen. Wir können selbstbewusst die Errungenschaften unserer Regierungspolitik vertreten, sollten aber auch kritische Fragen zulassen. Vor allem müssen wir offen darüber reden, wie weit und vor allem warum die SPD auf neoliberale Positionen eingeschwenkt ist. Bei aller Kritik, die ich an der Politik Gerhard Schröders übe, sie war eine mögliche sozialdemokratische Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung und der Versuch, dem neoliberalen Mainstream eine Alternative entgegenzusetzen. Ob sie mutig genug war, darüber kann man diskutieren; dass sie mehr war als eine schlichte Kapitulation, steht für mich fest. Wenn, dann muss man uns vorwerfen, den Wandel nicht konsequent genug gestaltet zu haben.
Eine der größten Schwächen der Regierung Schröder war die mangelhafte Kommunikation. Damit will ich mich nicht auf die Seite jener schlagen, die behaupten, die Agenda 2010 an sich wäre gut, sie sei nur schlecht vermittelt worden. So argumentierten viele SPD-Politiker, die von der Agenda überzeugt sind und sich nicht erklären können, warum weite Teile der Bevölkerung das anders sehen und...