Vom Winde verweht
und vom Wasser abgeschwemmt
Die Haitianer nennen einen kleinen Stein »Jèn roch«. Einen jungen Stein. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, was es damit auf sich hat. Nicht dass mich der Beweis eines in unseren Augen etwas sonderbaren Naturverständnisses überrascht hätte. Spätestens seit unsere Köchin Jeanette mich herzlich und mitleidig ausgelacht hat, als ich behauptete, der Regenbogen sei kein Tier – natürlich ist er ein Tier, was denn sonst, um alles in der Welt! –, weiß ich, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht die einzig mögliche Quelle eines Weltbildes ist. Aber woher kommt die Erfahrung, die einen annehmen lässt, Steine würden wachsen, also klein sein, wenn sie jung sind, und dann größer werden?
Der Grund ist die Mutter aller Katastrophen auf diesem gebeutelten Teil der Insel Hispaniola: die Erosion. Es gibt einige Ebenen dort, die sind fruchtbar und wasserreich. Vor allem aber gibt es Berge. Irgendein berühmter Mann hat behauptet, Haiti sei ein zerknülltes Blatt Papier, das der liebe Gott auf die Erde geworfen hat. Auch der Name, den die Aufständischen 1803 nach der Befreiung aus der französischen Sklaverei ihrem neuen Land gegeben hatten, sagt das Gleiche. Er stammt aus der Sprache der damals längst ausgerotteten indianischen Ureinwohner und bedeutet schlicht »bergiges Land«. Haiti ist aber nicht nur bergiger als die Schweiz, es ist auch dichter bevölkert als Belgien. Die meisten Einwohner sind Bauern, und viele wirtschaften auf Hängen, die viel zu steil für den Ackerbau sind. Ich habe erzählt bekommen, dass es Flächen gibt, auf denen die Bauern sich anseilen, wenn sie mit der Hacke den Boden bearbeiten. Die vielen heftigen tropischen Regengüsse reißen den Boden mit sich, und dann beginnen sie zu wachsen, erst klein, dann groß: die Steine des unfruchtbaren Untergrundes. Wer die Insel überfliegt, sieht das ganze Ausmaß des Elends mit wenigen Blicken: verkarstete, kahle Berge, an den Mündungen der Flüsse weit ins Meer hinauswuchernde, Atompilzen nicht unähnliche braune Fahnen. Es hat gerade einmal vier bis sechs Generationen gebraucht, um aus einem fruchtbaren, waldbedeckten Eiland ein buchstäblich verwüstetes karges Land zu machen, das zum Armenhaus der Welt geworden ist. Nicht die starke Bevölkerungsdichte ist die wesentliche Ursache – auch Bali ist ähnlich dicht besiedelt. Viel hängt an der fehlenden Staatlichkeit einer Gesellschaft, die längst hätte eingreifen müssen. Auch die miserable Eigentumsverfassung trägt Schuld an der Misere: Wer keinen sicheren Rechtstitel auf ein Stück Land hat, der wird auf keinen Fall in Terrassen, Erosionsschutzwälle oder -hecken investieren. Denn dadurch macht er das Land wertvoller. Das wiederum ruft die Begehrlichkeit derer auf den Plan, die über mehr Macht und wenig Skrupel verfügen. Und dann ist nicht nur die Investition umsonst gewesen, sondern auch das Land weg. Das wissen die Menschen aus bitterer Erfahrung.
Und dann ist da das Weltbild, das Regenbögen für Tiere und Steine für wachstumsfähig hält. Es ist zwar schwer vorstellbar, aber es ist so: Den Bauern ist die Bedeutung der Erosion für den Verlust der Bodenfruchtbarkeit nicht bewusst. Oder jedenfalls nicht bewusst (und wichtig) genug, um trotz der obengenannten Schwierigkeiten etwas dagegen zu unternehmen.
Sollten Ihnen auf meine Schilderung hin diese Bauern jetzt dumm, träge und ungebildet vorkommen, dann bitte ich Sie, einen kurzen Denkstopp einzulegen. Wir müssen uns nicht zu viel auf unsere aufgeklärte Intellektualität einbilden. Denn schließlich haben wir verstanden, was uns die Klimaforscher über den Zusammenhang zwischen der Erderwärmung mit ihren Folgen und unserem Energieverbrauch vorrechnen. Aber wir intelligenten, agilen und gebildeten Europäer bringen es auch nicht ansatzweise zustande, diese Erkenntnis in Handeln umzusetzen.
Viele Menschen glauben inbrünstig daran, der Mensch werde schon etwas erfinden, wenn die Not groß genug sei. Das sei ihm schon immer gelungen, und das werde auch künftig für die Lösung unserer Probleme sorgen, ehe es zu spät ist. In Haiti kann man besichtigen, dass das eine Illusion ist. Dort ist der »point of no return« längst erreicht: Das Problem hat ein Ausmaß erreicht, das keiner Lösung mehr zugänglich ist. Der Boden, der im Meer ist, liegt dort und kehrt nicht zurück. Er vernichtet so ganz nebenbei im Bereich der Mündungen mehr und mehr die Fauna des Meeresbodens und damit die Reproduktionskraft ganzer Fischbestände. Und damit die Möglichkeit der Fischer, sich und ihre Mitmenschen durch Fischfang zu ernähren …
»Man braucht sich nicht wundern, wenn die Haitianer das Meer nehmen, wenn der Boden das Meer nimmt«, ist eine Formulierung, die nur die Bewohner der Insel verstehen können. »Prann lamè« kann nämlich zweierlei heißen: »als Boat-People versuchen, die USA zu erreichen« und auch: »ins Meer geschwemmt werden«. Ich hatte diesen Satz auf dem Weg zu einer Veranstaltung im Institut Français mitgenommen, ein alter Missionar hatte ihn mir gesagt. Ich sollte dort einen Vortrag halten, in dem ich die Abholzung im Oberlauf des Bewässerungssystems der Ebene von Les Cayes öffentlich machen wollte, im letzten Bergregenwald der Insel rund um den 3000 m hohen Pic Macaya. Das war sehr viel heikler als der Inhalt meines Vortrags, in dem es um einfache Zusammenhänge wie den Wasserkreislauf, die Erosion, die Gründe für das Versiegen von Quellen und die sich häufenden Überschwemmungen ging. Der Auftraggeber der Abholzung war nämlich der Schwiegervater des Präsidenten.
Als deshalb nach dem Satz mit der doppelten Bedeutung erst ein sekundenlanges atemloses Schweigen und dann ohrenbetäubender Applaus folgten, war das ein nahezu revolutionärer Vorgang. Für mich als Redner war es ein magischer Moment, den ich nie vergessen werde. Doch leider ging es um sehr viel mehr als die Wirkung meiner Redekunst. Es ging um die Zukunft des haitianischen Volkes. Das zu behaupten ist nicht pathetisch, sondern realistisch.
Denn die Abfolge von falscher landwirtschaftlicher Nutzung, Erosion und Exodus hat sich im Lauf der Menschheitsgeschichte oft und oft wiederholt. Der amerikanische Geologe David R. Montgomery hat das in einem Buch beschrieben, das überaus hilfreich ist, wenn man die Entwicklung verstehen will, die unser von Menschenhand gestalteter Planet nimmt. Es trägt den schlichten Titel »Dreck« und beschreibt, wie schon vor Jahrtausenden im Zweistromland der Sumerer und im Quellgebiet des Gelben Flusses wenige Jahrhunderte einer erosionsfördernden Nutzung reichten, um den Menschen ein für alle Mal die Lebensgrundlage zu entziehen. Und es zeigt, wie nach der langen Geschichte des Werdens und Vergehens von Zivilisationen der Mensch heute zu einer industriellen Meisterschaft der Effektivität gelangt ist. Wir zerstören mit unserer großflächigen, modernen und leistungsfähigen Landwirtschaft heute mehr an Boden als alle Generationen vor uns.
Dabei geht es nicht nur um Boden, der auf ohne Erosionsschutz bearbeiteten Hängen zu Tal geschwemmt wird, sondern um einen vielgesichtigen Komplex, der unter dem Begriff »Degradation« zusammenzufassen ist. Auch Wind kann Erosion bewirken, so wie im berüchtigten »dust bowl«, im Mittleren Westen der USA. Dort wurde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts der umgepflügte und durch keinerlei Windschutzhecken geschützte Prärieboden in gigantischen Staubstürmen binnen weniger Tage fortgetragen. Dieser Boden ist verschwunden, ein für alle Mal – auch wenn die Farmer in der Folge dieser Katastrophe dazu übergingen, nur noch schmale lange Streifen zu bewirtschaften und sich mit Hecken und Feldrainen vor der zerstörerischen Kraft des Windes zu schützen. Der Gründer des World Watch Institute, Lester Brown, machte im Januar 2011 in einem Beitrag in Foreign Policy[13] darauf aufmerksam, dass auf Satellitenbildern die Ausbildung von zwei »dust bowls« erkennbar sei, vor denen sich die amerikanischen Bodenstürme der 1930er wie Zwerge ausnähmen: der eine über der westlichen Mongolei, Nordwestchina und Zentralasien, der andere über Zentralafrika. Sie tragen Millionen von Tonnen fruchtbaren Oberbodens davon. Und sie hinterlassen Hunger.
Eine viel greifbarere Einführung ins Thema hat uns Deutsche eine Verkehrsnachricht Mitte April 2011 gebracht. Acht Tote, 40 Verletzte – das war die Bilanz einer spektakulären Massenkarambolage auf einer Autobahn in Mecklenburg-Vorpommern. Der Auslöser war ein veritabler Sandsturm. Er hatte zu schlechten Sichtverhältnissen geführt. Sandsturm? In Mecklenburg? Was in den Nachrichten nicht gemeldet wurde, war die Katastrophe hinter der Katastrophe. Dieser Sandsturm kam nämlich nicht aus der Sahara und auch nicht vom Strand in Heiligendamm. Der kam aus den Weiten mecklenburgischer Äcker. Die sind nämlich so rationell geschnitten, dass man mit größten Maschinen größte Flächenleistungen bekommt.[14] Und jede Menge Angriffsfläche für den Wind, der dort nichts anderes macht als in der Mongolei, in Zentralafrika oder dem amerikanischen Mittelwesten. Er trägt die Ackerkrume fort. »Ja, das war schon immer so«, sagte mir dazu ein junger Landwirt aus dieser Region, als wir den Vorfall besprachen. »Wenn aber ein Mehrfaches an Boden weggetragen wird, als neu entsteht?« – »Dann haben wir ein Problem …«, war seine Einsicht, und ich hoffe, dass ihn jetzt die Frage umtreibt, ob es auf lange Sicht nicht rentabler ist, die Flächenleistung seiner Maschinen durch Einziehen von Windschutzhecken zu vermindern.
Neben falschem Ackerbau kann auch Überweidung Ursache für Erosion sein. Zu...