Hürdenläufe
Ganz besondere Vorbilder.
Von Müttern und Lehrerinnen
Bleiben wir bei den Vorbildern. Wir haben dafür eine andere Definition. Frühe und deshalb umso machtvollere Vorbilder sind diejenigen, die man jeden Tag vor Augen hat: unser Mütter, unsere Lehrerinnen, Frauen aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis. Beispiele energischer, fröhlicher, selbstbestimmter und finanziell unabhängiger Lebensgestaltung waren allerdings kaum darunter. Unsere Mütter hatten das Studium (Pädagogik, Pharmazie) spätestens nach der Geburt des zweiten Kindes abgebrochen und als Sekretärinnen Geld verdient, während die Ehemänner im Wirtschaftswunderland Diplom-Ingenieur wurden und in auskömmlich bezahlte Posten gelangten. »Es war damals klar, dass die Karriere des Mannes vorging«, sagt eine Modeunternehmerin aus unserer Müttergeneration.[13] Die Frauen, die von ihrer Arbeit leben konnten, waren in den siebziger Jahren in westdeutschen Reihenhaus-Biotopen von Beruf fast ausschließlich Lehrerin. Vorwiegend an der Grundschule, weniger am Gymnasium. Dort unterrichteten sie vor allem neusprachliche Fächer, manchmal auch Kunst und Biologie. Es gab: Die französische Lehrerin, die Häschenwitze erzählte, auf Deutsch. Wahrscheinlich, weil ihr Akzent dabei besonders zur Geltung kam. Die Lateinlehrerin, die in Tränen ausbrach, als die Jungs aus der letzten Reihe ihre Handtasche auf dem Pult auskippten. Die Biologielehrerin, die keinerlei Regung zeigte, als ihr Mann in der Funktion des Begleiters bei einem Schulausflug von einem Wespenschwarm überfallen wurde. Ach, diese Gymnasiallehrerinnen. Viele von ihnen schienen den Beruf aus Sicherheitsgründen gewählt zu haben. Kinder waren hier kein Risiko. Im pädagogisch empfohlenen Abstand von zweieinhalb Jahren brachten die Jüngeren unter ihnen zwei, drei Kinder auf die Welt. Während der meist ebenso verbeamtete Ehemann – oft ein Richter oder Lehrer – seinen Dienst am deutschen Staat ohne Unterbrechungen versah. Die Frauen setzten jeweils drei Jahre aus und waren auf diese Weise mehr zu Hause als in der Schule. In den heimischen Wänden ging es ja auch übersichtlicher zu als in unseren Wimmel-Klassen mit bis zu vierzig Schülern. Die Schwangerschaftsvertretungen kamen und gingen. Keine hatte die Chance, ein Kind länger zu beobachten, Talente zu entdecken und zu fördern. Das allerdings traf beide Geschlechter, aber wir hätten es nötiger gehabt.
Die wenigsten unserer Lehrerinnen zeigten so etwas wie pädagogische Leidenschaft, Freude am Weitergeben und an der Förderung – bis auf eine Musiklehrerin, die eine wundervolle Sopranstimme hatte und mit den Schülern manchmal auch zu Hause Musik machte. Oder die Kunstlehrerin, die uns Mark Rothko nahebrachte und nicht den damals populären Marc Chagall. Auch eine promovierte Lehrerin, die in der Oberstufe das Fach Psychologie unterrichtete, hatte mit ihrem weit über das Schulpensum hinausreichenden Horizont das Zeug zur Mentorin. Aber sie hatte nur ein Stundendeputat und verschwand irgendwann. Wir hörten bei ihr die Grundlagen der Freudschen Drei-Stufen-Lehre von Ich, Es und Über-Ich. Das Über-Ich war den Mädchen unter uns jedenfalls schon in jungen Jahren besser antrainiert worden als unseren Brüdern. Sollen kam vor Wollen, vor allem bei den Töchtern aus »bildungsferneren« Elternhäusern, wie eine arrogante Mittelschicht heute Nicht-Akademiker nennt. Eine der wenigen Mitschülerinnen aus Arbeiterfamilien musste als Teenager die Zimmer ihrer Brüder putzen. Ja, das gab es und fiel ihr erst Jahre später als Anomalie auf.
Die aufkeimende Frauenbewegung war für die Siedlungsmütter so weit weg wie der wenige Jahre zuvor betretene Mond. Nur selten flatterten Botschaften aus Sodom und Gomorrha (Berlin!, Frankfurt!) in die noch ungebrochene Ordnung. Eine Tochter von Nachbarn war nach Westberlin gezogen und ließ der Siedlungsmutter, in der sie eine potenzielle Überläuferin sah, ab und zu ein Exemplar der »Courage« zustellen. Die links-feministische Zeitschrift »Courage« beschäftigte sich mit Themen, die in den siebziger Jahren tabu waren: Lohnungleichheit, Zwangsprostitution, häusliche Gewalt. Doch die Ideen des Berliner Frauenkollektivs, das die »Courage« herausgab, trieben die Hausfrauen in der Provinz nicht um. Die hatten ihre eigenen Malaisen.
Frustrierte Mütter, abwesende Väter
Bei einer Frau aus der Nachbarschaft rief schon der Wunsch, einmal in der Woche abends zum Kirchenchor in die nahe gelegene Kreisstadt zu fahren, eine Ehekrise hervor. Der Mann arbeitete als Ingenieur bei Daimler. Sie, Tochter aus schwäbischem Grundstücks-Adel, schwärmte zeitlebens von ihrer »besten Zeit« als Au-pair-Mädchen in Montreux. Diese Familie war so schief gewickelt wie viele andere auch in jener Zeit, in der nicht wenige Frauen nur in einer Art »Kadavergehorsam« bei Männern mit autoritärem Hausvater-Gehabe verharrten und die Kinder mit ihrer schlechten Stimmung und Frustration malträtierten. Heute, wo nicht nur die Konservativen die Scheidungsraten und die Zunahme von Eineltern-Familien beklagen, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die Babyboomer später die Ersten waren, die sich en masse scheiden ließen, und das, obwohl sie aus vollständigen Familien kamen. Diese Familien hielten nach außen dicht, wie ihre Bungalows mit den Alu-Rollläden. Erst Ende der siebziger Jahre bröckelte der Putz. Da hatte manche Hausfrau mit Abitur entdeckt, wie ungerecht es war, dass ihr der Ehemann die Erwerbsarbeit verbieten konnte. Im Jahr 1977 fiel dieses Disziplinierungsinstrument weg, das Gesetz wurde geändert. Aber das hieß noch lange nicht, dass sich unsere Mütter, nun etwa Mitte dreißig, auf den Arbeitsmarkt warfen oder zu Ende studierten. Nein, sie blieben bei ihren Zuverdienerinnen-Jobs, die sie angenommen hatten, als die Kinder die Grundschule hinter sich hatten, eine als Arzthelferin, die andere unterrichtete stundenweise Sport oder Klavier, der Rest verausgabte sich unentgeltlich im Ehrenamt und auch schon in der Pflege von Angehörigen.
Es wäre falsch, sie allein dafür verantwortlich zu machen. Es entsprach dem Mutterbild und den damaligen Vorstellungen von Arbeitsteilung. Darauf war auch das gesamte staatliche Schulsystem ausgerichtet. Dass es mehr als dreißig Jahre später in weiten Teilen des Landes immer noch so ist, zeigt, wie resistent diese Vorstellungen in einer angeblich zu Ende emanzipierten Gesellschaft sind.
Schulkinder jedenfalls standen um 13 Uhr spätestens zu Hause und erwarteten Gekochtes. Schlüsselkinder, die auf dem Heimweg eine Pizza holten, wurden bemitleidet. Also funktionierte Mama weiter als Dienstleisterin. Auf die Söhne sollte das einen verheerenden Einfluss haben.
Was ihr Liebesleben anging, nahmen wenige die Rufe von der befreiten Sexualität ohne Zögern auf – und verbanden sich umgehend mit einem neuen Mann. Allein zu leben, unabhängig zu wirtschaften – diese Vorstellung existierte damals nicht im Selbstbild unserer Mütter und ihrer Umgebung. Ohne Mann war eine Frau einfach nicht vollständig. Im Gegensatz zu ihnen hatten die damaligen Großmütter oft eine bodenständige Souveränität, was nicht nur ihrem Alter, sondern ihrem langen Alleinleben geschuldet war. Die Großmütter waren fast alle Witwen seit dem Krieg, nicht wenige waren in den siebziger Jahren bitterarm, vermieteten Zimmer an Kurgäste, nähten für Nachbarinnen, packten als Rentnerin am Fließband Keramik ein.
Erklärt ein Trauma alles?
Sehr oft waren die Großmütter engere Verbündete der wissbegierigen Mädchen als die Mütter. Denn je weiter die Tochter von der Lebensweise der Mutter hinwegstrebte, desto weniger durfte sie mit Stolz oder gar Unterstützung rechnen. Das war in Einwanderer-Familien manchmal anders. Vielleicht gönnten die Mütter ihren Töchtern den Erfolg, weil er für die Mütter in so aussichtsloser Ferne lag. Die Berliner CDU-Politikerin Emine Demirbüken etwa, 1961 geboren, Tochter einer türkischen Mutter, die 25 Jahre lang als Ungelernte auf dem städtischen Friedhof von Berlin-Neukölln arbeitete, sagt: »Meine Mutter blühte mit jedem Erfolg von uns Kindern auf.« Der Mutter war es wichtig, »dass alle Kinder, egal ob Mädchen oder Jungen, einen goldenen Armreif bekommen«. Der goldene Armreif war die Ausbildung.[14]
Die typisch westdeutschen Mutter-Tochter-Konflikte waren von Neid genährt, und sie waren epidemisch. Wenn man Sabine Bodes Protokolle über die »Kriegsenkel«[15] gegen die Erklärungsabsichten der Autorin liest, der es allein um die Weitergabe von Kriegtraumata geht, findet man dort einiges über den Mangel an Wertschätzung, gerade gegenüber den Töchtern. »Ich war ihr Liebling, der einzige Sohn. Mütter mögen halt Söhne«,[16] sagt da ein heute 49-jähriger Maler. Von seinen Schwestern berichtet er in seiner Ich-Erzählung nicht, er hatte zwei. Wie wenig Zuneigung und die damit verbundene Aufmerksamkeit den Mädchen in dieser Generation noch zukam, ist als Nachhall in dem Buch »Scheißkerle« von Roman Maria Koidl, Jahrgang 1967, zu finden. Die jungen Frauen zogen längst nicht mit jener Selbstzufriedenheit in die Welt und in ihr Liebesleben wie die vom bewundernden Blick der Mutter aufgewerteten Brüder. Väter, die Begabungen ihrer Töchter wichtig nahmen, geschweige denn überhaupt erkannten, waren sicherlich in der Minderheit. Den Argwohn ihres Vaters gegenüber ihrem Schreiben hat etwa die Schriftstellerin Dagmar Leupold, 1955 geboren, in ihrem Vaterporträt »Nach den Kriegen«...