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Verleugnet, verdrängt, verschwiegen

Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung

AutorJürgen Müller-Hohagen
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl328 Seiten
ISBN9783641148003
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Wie Wissen die Seele entlastet
Das unfassbare Ausmaß an Schrecken, Leid und Schuld der NS-Zeit hat alle geprägt: Verfolgte, Flüchtlinge, Bombenopfer, Soldaten, Täter und Mitläufer. Viele meinen, mit wachsendem Zeitabstand werde Verschwiegenes, Verleugnetes, Verdrängtes von damals immer weniger wirksam. Das kann sein. Es kann aber auch genau das Gegenteil zutreffen. Oft finden sich noch tiefe Spuren in der zweiten und dritten Generation. Solche Nachwirkungen der NS-Zeit beobachtet der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen seit Jahren in seiner Arbeit. Immer wieder stellt er dabei fest, dass derartige Spätfolgen nicht in Betracht gezogen werden. Dann suchen Menschen an der falschen Stelle nach Wegen aus ihren heutigen Schwierigkeiten. Durch eine Annäherung an die verborgenen Anteile der eigenen Familiengeschichte ergeben sich oft unerwartet klare Lösungen.

Dr. Jürgen Müller-Hohagen ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut und leitet seit 1986 eine Erziehungs- und Beratungsstelle in München. Zusammen mit seiner Frau lebt er in Dachau.

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Leseprobe

Verfolgte und ihre Nachkommen


Menschen, die der Hölle von KZ und Holocaust entronnen sind, betonen, wie schwer oder ganz unmöglich es ist, das Erlebte mitzuteilen. Deshalb blieb hier anschließend so vieles im Schweigen.

Der Überlebende Elie Wiesel schrieb: »Jene, die es nicht erlebt haben, werden nie wissen, wie es war; jene, die es wissen, werden es nie sagen; nicht wirklich, nicht alles. Die Vergangenheit gehört den Toten, und die Überlebenden erkennen sich nicht in den Bildern und Ideen, die man sich von ihnen macht. Auschwitz, das ist der Tod, der totale, absolute Tod des Menschen, aller Menschen, der Sprache und der Vorstellungskraft, der Zeit und des Geistes.«5

 

 

»Denket, dass solches gewesen«

 

Die Berichte der Verfolgten und das Wissen, dass hinter ihnen, wie hier von Elie Wiesel gesagt, noch mehr ist, Unsagbares, sind der immer anwesende Horizont dieses ganzen Buches. Wer meint, davon schon genug zu wissen, irrt. Erst wenn wir die Berichte wieder und wieder zur Hand nehmen, merken wir vielleicht,

  • wie schwer uns das fällt,
  • wie vieles wir wieder vergessen hatten,
  • wie der Horror sich in unserer Erinnerung auf ein erträgliches Maß eingependelt hatte,
  • wie unser eigener Hintergrund – Nachkommen ehemaliger Volksgenossen, von Verfolgten, aber auch noch von Fernerstehenden (Migranten) – plötzlich von größter Bedeutung ist ...

Zugleich: Kann es überhaupt Fernerstehende, Außenstehende geben hinsichtlich dieser Schrecken, welche die ganze Menschheit angehen?

Ihr, die ihr gesichert lebet
In behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:

Denket, ob dies ein Mann sei,
Der schuftet im Schlamm,
Der Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
Denket, ob dies eine Frau sei,
Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte.
Denket, dass solches gewesen.

Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.

Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
Krankheit soll euch niederringen,
Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

Das sind Worte von Primo Levi aus seinem Buch Ist das ein Mensch, die sich auch in der Gedenkstätte Auschwitz im Eingang des Italienischen Hauses finden.6

 

Wenn mittlerweile ein neues Jahrhundert angefangen hat, sogar ein neues Jahrtausend, so ändert das nichts an der Tatsache, dass es in Wirklichkeit nur wenige Jahrzehnte sind, die uns von diesem Horror trennen.

Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch sagte bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1993: »Das Dritte Reich liegt nicht schon, sondern erst fünfzig Jahre hinter uns. Hitler hat sich und das deutsche Volk unsterblich gemacht. Er wollte ja das Tausendjährige Reich und hat es bekommen ... Auch die Untaten eines Nero leben weiter, und die liegen fast 2000 Jahre zurück.«7

 

Verfolgt wurden von den Nazis an erster Stelle die Juden. Doch aufzuzählen, wer noch alles zu den Verfolgten gehörte, ist in Vollständigkeit kaum möglich. Es waren Kommunisten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Roma und Sinti, Sozialdemokraten, Liberale, Homosexuelle, Protestanten, Prostituierte, Behinderte, Schriftsteller, Adlige, psychisch Kranke, Bürgerliche, so genannte Asoziale (wer alles konnte unter diesen dehnbaren Begriff fallen), tatsächliche oder vermeintliche Kriminelle – sie alle nicht erst wegen konkreter Widerstandshandlungen, sondern es reichte oft allein die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen.

Wer einmal in die Mühlen der Lager geraten war und sei es nur, weil er oder sie sich aus Naivität zum Beispiel im besetzten Griechenland zum Arbeitseinsatz im Reich gemeldet hatte, konnte so furchtbar behandelt werden, wie es bis heute in der Allgemeinheit kaum jemand weiß. Es genügte, Mitglied des Roten Kreuzes zu sein, um etwa als Pole ins KZ geworfen zu werden. Die winzigsten Kleinigkeiten reichten aus. Und Italiener wurden massenhaft aufs Grausamste traktiert, als ihr Land nach der Landung der Alliierten auf Sizilien den Waffenstillstand erklärte und daraufhin vom Reich besetzt wurde. Diese Aufzählung ließe sich lange fortsetzen. Und verfolgt mit äußerster Brutalität wurden alle, die sich widersetzten. Von der Biscaya bis vor Moskau. Vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945.

Über das Erlittene zu reden, war für die Überlebenden schwer, oft unmöglich. Das galt auch gegenüber ihren Angehörigen. Manchmal ging es allmählich mit den Enkeln. Die Schwierigkeit, sich mitzuteilen, war bedingt durch das Übermaß der Leiden und Entwürdigungen, aber auch dadurch, dass die Gesellschaft in Deutschland und anderswo der Möglichkeit, davon etwas zu erfahren, nicht gerade aufgeschlossen gegenüberstand.

»Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« So lautete 1963 die mehr als bittere Artikelüberschrift eines renommierten amerikanischen Psychoanalytikers deutscher Herkunft, Kurt Eissler, angesichts der damals gängigen deutschen Gutachtenpraxis in Gerichtsprozessen, in denen KZ-Überlebende um die Anerkennung von Rentenansprüchen kämpfen mussten.8

 

 

Kinder als Verfolgte,
Kinder der Verfolgten

 

Erika Landau, israelische Psychologin, im Alter von zehn bis vierzehn Jahren in mehreren Konzentrationslagern, berichtet über diese Zeit:

»Im November 1941 wurden wir ins KZ gebracht. Das war zwar kein Vernichtungslager, aber ein Lager, in das man uns eingesperrt hat, ohne uns etwas zu essen zu geben. Wir mussten uns selbst versorgen, und im ersten Winter starben die meisten. Dann wurden wir in ein anderes Lager gebracht, immer wieder in andere Lager, fünf- oder sechsmal. Es waren Lager, wo man jeden Freitag tausend Leute abkommandiert hat, um sie zu erschießen. Jeden Donnerstagabend hing unser Leben an einem Haar. Und das ging so ein Jahr. Mein Vater sagte immer wieder, wenn wir die ersten sind, müssen wir nicht den ganzen Tag da herumstehen, wenn wir die letzten sind, sind wir wieder für eine Woche gerettet. In ihrer Pünktlichkeit haben die Deutschen immer nur bis zwei Uhr geschossen. So wurden wir zweimal wieder ins Lager zurückgebracht.«9

Und weiter heißt es bei Erika Landau: »Das Gefühl, zurück auf meine Pritsche im Lager zu gehen, nachdem ich den ganzen Tag zugesehen hatte, wie man Leute ins selbstgeschaufelte Grab hineinschoss. Das war kein Gefühl der Freude, überlebt zu haben. Das war ein Gefühl der Trauer und der Scham und des Schuldgefühls, dass ich zurück ins Lager gehen konnte und die anderen nicht.

Aber wie auch immer, ich habe das überlebt und konnte noch etwas aus meinem Leben machen. Dass ich heute anderen Menschen helfen kann, ist ein Geschenk, und ich bin dankbar dafür, dass ich noch arbeiten und auch genießen darf. Nicht, dass ich das Leben so herrlich fände. Aber im Vergleich zum Nichtleben ist es doch sehr viel.«10

Erika Landau, die mir über einen Freund indirekt bekannt ist, hat tatsächlich viel aus ihrem Leben gemacht. Dazu gehört, dass sie eine wichtige Pionierin der Kreativitätsforschung geworden ist – und das gerade mit diesem Hintergrund.

Das Leiden der Opfer steht in diesen wenigen Sätzen vor uns, wohl kaum wirklich nachvollziehbar, aber in Umrissen zu ahnen, wenn wir uns nicht gar zu sehr verschließen. Tausend Menschen an jedem Freitag, Woche für Woche, ein Jahr lang ...

Wenn wir dies auch nur ein wenig vor unser geistiges Auge stellen, dann wissen wir, welche Menschen in erster Linie mit der Last der Geschichte, mit den Folgen extremer Gewalt zu tun haben: die Verfolgten und ihre Kinder und Kindeskinder.

 

Was nun die Nachkommen betrifft, so wurde deren Belastung nicht von Anfang an gesehen. Die amerikanische Journalistin Helen Epstein gehört hier zu den Wegbereitern. In ihrem 1979 in den USA erschienenen Buch Die Kinder des Holocaust schrieb sie, Tochter von Überlebenden, wie es über drei Jahrzehnte ihres Lebens in ihr aussah: »Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. Ich wusste, dass ich – verborgen in diesem Kasten – schwer zu erfassende Dinge mit mir herumtrug. Sie waren feuergefährlich, sie waren intimer als die Liebe, bedrohlicher als jede Chimäre, jedes Gespenst. Gespenster aber hatten immerhin eine Gestalt, einen Namen.

Was aber dieser Kasten in mir barg, hatte weder Gestalt, noch ließ es sich benennen. Im Gegenteil: Es besaß eine Macht von so düsterer, furchtbarer Gewalt, dass die Worte, die sie hätten benennen können, vor ihr zergingen.«11

Sie machte sich, so schrieb sie, dann auf, »um Menschen zu finden, die wie ich im Bann einer Geschichte lebten, die sie nicht selbst erlebt hatten. Ihnen wollte ich Fragen stellen. Vielleicht konnte ich so jenen Teil von mir erreichen, der sich mir selbst am...

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