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Die vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung in Recht und Praxis

AutorKai-Jochen Neuhaus
VerlagVerlag Versicherungswirtschaft
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl380 Seiten
ISBN9783862983087
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Die vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung gehört zu den Kernbereichen des Versicherungsrechts und ist durch die VVG-Reform zum 1. 1.2008 völlig neu geregelt worden. Zu der Problematik, ob und wie nicht wahrheitsgemäße Angaben bei Abschluss des Versicherungsvertrags zu überprüfen sind und wie sie sanktioniert werden können, existiert seit jeher eine umfangreiche Rechtsprechung, die sich nun zunehmend auch den Fragen widmet, die durch die §§ 19 ff. VVG neu aufgeworfenen worden sind. Themen wie die ordnungsgemäße Fragestellung und Belehrung durch den Versicherer, die Auslegung von nicht eindeutigen Antragsfragen, die Berechnung von Fristen oder die Einstufung des Verschuldensgrades bei Falschangaben sind aus den Bereichen der Risiko- und Leistungsprüfung bei Personenversicherungen, aber auch im Sachbereich nicht mehr wegzudenken. Um dafür praxistaugliche Lösungen zu finden, ist eine genaue Kenntnis des aktuellen Stands von Rechtsprechung und Wissenschaft nötig. Das Buch bietet dem Praktiker einen umfassenden Überblick über die sachlichen und rechtlichen Probleme, die sich bei der Antragsstellung, im Leistungsfall und bei (gerichtlichen) Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Anzeigepflichtverletzungen ergeben können. Ein Schwerpunkt liegt auf der Abwehr bzw. Durchsetzung aller damit zusammenhängenden Ansprüche. Angesprochen werden Mitarbeiter von Versicherungsunternehmen (Antrags- und Leistungsprüfung), Verbände und Vereinigungen der Versicherungsbranche, Richter und Rechtsanwälte, Versicherungsmakler und -vertreter sowie Versicherte, die sich ihrer Angelegenheit selbst annehmen.

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Leseprobe

|Seite 4|

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2 Zeitpunkt und Umfang der Prüfung

2.1 Antrags- und Leistungsprüfung

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Die „typischen“ Zeitpunkte, eine vvA zu überprüfen, sind die Antragstellung und die Leistungsprüfung nach Anmeldung des Versicherungsfalls. Dass nach Antragstellung eine sorgfältige Prüfung erfolgt, ist eine Selbstverständlichkeit, die der Versicherer im eigenen Interesse und im Interesse der Versicherungsgemeinschaft beachten muss. Ein „Vertagen“ der Prüfung auf den Leistungsfall ist unzulässig, wenn bereits der Verdacht einer Anzeigepflichtverletzung besteht. Liegen bei Antragsprüfung bereits für den Versicherer erkennbare Anhaltspunkte für eine Anzeigepflichtverletzung vor, die er – bewusst oder unbewusst – übersieht, kann er später mit Gestaltungsrechten ausgeschlossen sein, weil er eine eigene Nachprüfungsobliegenheit verletzt hat (ausführlich Rn. 191).

Wirkt der VN im Leistungsfall nicht mit, kann dies die Fälligkeit des Anspruchs hemmen (§ 14 VVG) und eine Obliegenheitsverletzung i. S. d. § 29 VVG darstellen, für deren Sanktionierung es auf die vertragliche Regelung dazu ankommt.

Im Falle eines Leistungsantrags ist der Versicherer berechtigt zu prüfen, ob bei der Antragstellung alle Angaben korrekt erfolgt sind.10 Eine eventuelle vvA ist damit zulässiger Gegenstand der Leistungsprüfung. Die Überprüfung der vvA ist von § 213 VVG gedeckt.11 Die bereits aus § 14 VVG folgende Mitwirkungsobliegenheit des VN umfasst auch Auskünfte und Handlungen (z. B. Erteilung von Schweigepflichtsentbindungserklärungen), die es dem Versicherer ermöglichen, eine vvA zu überprüfen. Zu den erforderlichen Unterlagen gehören in der Personenversicherung auch schriftliche Auskünfte von Krankenversicherern und vorvertraglich behandelnden Ärzten.

4

Werden vom Versicherer dazu erbetene Auskünfte durch den VN nicht erteilt, werden die Leistungsansprüche gegenüber dem Versicherer nicht fällig und es liegt – je nach Fallgestaltung eine Mitwirkungsverletzung des VN vor.12

|Seite 6|

Fall OLG Hamburg, Urt. v. 2.3.2010 – 9 U 186/09, VersR 2010, 749:

Das OLG Hamburg verneint die Fälligkeit etwaiger Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, weil die VN im Leistungsprüfungsverfahren weiter geforderte Schweigepflichtentbindungen sowie weitere Auskünfte über Behandlungen über bestimmte Zeiträume nicht erteilt hatte. Die VN hatte zunächst nicht generell von der Schweigepflicht entbunden, sondern für jedes Auskunftsersuchen eine einzelne Schweigepflichtentbindung verlangt. Aufgrund daraufhin eingeholter Unterlagen erhielt der Versicherer Anhaltspunkte für eine vvA und stellte schließlich wegen der nicht beigebrachten Unterlagen/Schweigepflichtentbindungen die Leistungsprüfung ein.

§ 4 Abs. 2 der vereinbarten Bedingungen lautete wie folgt: „Wir können außerdem zusätzliche Auskünfte sowie … ärztliche Untersuchungen durch von uns beauftragte Ärzte verlangen. Die versicherte Person hat Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Krankenanstalten sowie Pflegeheime, bei denen sie in Behandlung oder Pflege war oder sein wird, sowie Pflegepersonen, andere Personenversicherer, Krankenkassen und Behörden zu ermächtigen, uns auf Verlangen Auskunft zu erteilen.“

Schon nach dem Wortlaut ist diese vertraglich vereinbarte Auskunftspflicht nicht auf die Prüfung der Berufsunfähigkeit begrenzt, sondern erfasst darüber hinaus auch Auskünfte in Bezug auf eine etwaige vvA. Wichtig ist, dass bei einer derartigen Leistungsverweigerung der Anspruch erst „ex nunc“, also frühestens ab dem Zeitpunkt der Nachholung entsteht.

Das alles gilt auch dann, wenn nur einzelne von mehreren erbetenen Unterlagen nicht vorgelegt werden, es sei denn, es ist ganz offensichtlich, dass der Versicherer diese nicht für eine umfassende Prüfung benötigt. Bei Unterlagen i. S. d. § 213 VVG ist zu beachten, dass der VN nicht von der Schweigepflicht entbinden muss, sondern das Recht hat, die Unterlagen selbst zu besorgen und vorzulegen. „Filtert“ er hier jedoch, bleibt es dabei, dass der Anspruch nicht fällig wird und eine Mitwirkungs- bzw. Aufklärungsobliegenheit verletzt sein kann.

5

Die Überprüfung der vorvertraglichen Anzeigepflicht anlässlich des Leistungsfalls ist nicht deshalb verwirkt, weil der Versicherer die Informationen bereits bei der Risikoprüfung hätte erhalten können, denn bei klaren und eindeutige Angaben des zukünftigen VN obliegt es dem Versicherer nicht, diese in der Risikoprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.13

Teilweise wird vertreten, dass für eine Überprüfung im Leistungsfall ein hinreichend konkreter Anfangsverdacht bestehen müsse, an dessen Voraussetzungen jedoch keine hohen Anforderungen zu stellen seien.14 Macht bspw. der VN bereits rund ein Jahr nach Versicherungsbeginn ein Burnout-Syndrom geltend, |Seite 7| besteht der Verdacht, dass er bereits vor Vertragsschluss diesbezüglich in ärztlicher Behandlung stand, weil depressive Erkrankungen, insbesondere das Burnout-Syndrom, typischerweise einen längeren zeitlichen Vorlauf haben.15 Auf einen Anfangsverdacht kommt es jedoch nicht an, weil der Versicherer durch das Regulativ der eigenen Nachprüfungsobliegenheit bei Antragstellung ausreichend sanktioniert wird, falls er Anhaltspunkte für eine Anzeigepflichtverletzung hatte, diesen aber nicht nachging. In der Leistungsprüfung darf der Versicherer immer – auch ohne Verdacht – die Anzeigepflichtverletzung prüfen, weil § 19 VVG ersichtlich dieses Recht vorsieht.

2.2 Prüfung bei Altverträgen (Spaltungsmodell)

6

Das neue VVG gilt für alle ab dem 1.1.2008 geschlossenen Versicherungsverträge (Neuverträge). Es ist also zunächst wie folgt zu differenzieren:

 Altverträge = Versicherungsverhältnisse, die bis zum 31.12.2007, 0.00 Uhr, entstanden sind, vgl. Art. 1 Abs. 1 EGVVG.

 Neuverträge = Vertrag ist ab 1.1.2008 zustande gekommen.

 Grauzone = Antrag vor dem 31.12.2007, Zustandekommen erst nach dem 1.1.2008.

Für Neuverträge gilt sowohl für die Verletzung der Anzeigepflicht als auch für die Rechtsfolge das VVG 2008. Bei Altverträgen ist zur Beurteilung, ob eine Anzeigepflichtverletzung vorliegt, nicht auf die neuen Vorschriften, sondern nur auf die Altvorschriften (z. B. § 16 VVG a. F.) abzustellen.16 Dies wird als Spaltungsmodell bezeichnet.17 Denn die Pflichtverletzung erfolgte in der Vergangenheit, so dass eine Prüfung anhand der neuen Vorschriften eine grundsätzlich unzulässige Rückwirkung zur Folge hätte.18 Alles, was bei Altverträgen die Frage betrifft, ob die Anzeigepflicht verletzt wurde, richtet sich nach altem Recht. Vorschriften des neuen VVG zur Anzeigepflicht beim Abschluss des Vertrags sind auf Altverträge |Seite 8| damit nicht anwendbar; es gelten stattdessen die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgeblichen Vorschriften.19 Nur die Rechtsfolgen, also Rücktritt, Anfechtung, Kündigung und Vertragsanpassung, bestimmen sich seit dem 1.1.2009 nach dem neuen VVG. Es darf also nicht der Fehler gemacht werden, bei der Prüfung der konkreten Anzeigepflichtverletzung in Fällen des Vertragsschlusses vor dem 31.12.2007 die Voraussetzungen des neuen § 19 VVG zugrunde zu legen.

Beispiel:

Behauptet der VN im Jahr 2014 den Eintritt des Versicherungsfalls in einer im Jahr 2007 abgeschlossenen BUZ, so hat der Versicherer zu prüfen, ob unter den Voraussetzungen der §§ 16, 17 VVG a. F. im Jahr 2007 die Anzeigepflicht des VN ordnungsgemäß erfüllt wurde. Er sollte deshalb nach wie vor prüfen, ob bspw. eine spontane Offenbarungspflicht des VN bei schweren, auch nicht erfragten Erkrankungen oder eine Nachmeldepflicht bei neu aufgetretenen erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen bestand. Auch das Belehrungserfordernis richtet sich nach altem Recht.

Konsequenz der „Spaltung“ ist bspw., dass bei einem Altvertrag die (nur) nach altem Recht erhebliche Frage, ob zwischen Antragstellung und Policierung eine Nachmeldeobliegenheit für den VN galt, weiterhin zu prüfen ist.20

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In einer zeitlichen Grauzone bewegen sich Versicherungsverträge, bei denen der Antrag auf Abschluss vor dem 31.12.2007 gestellt, dieser aber erst danach policiert wurde. Formell sind dies Neuverträge, weil Art. 1 Abs. 1 EGVVG auf den Vertragsschluss abstellt, wenn davon die Rede ist, dass Altverträge „bis zum Inkrafttreten … entstanden“ sein müssen, damit das VVG a. F. angewendet werden kann. Diese...

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