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Ganz normale Laster

AutorJudith N. Shklar
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl346 Seiten
ISBN9783957570598
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Seit jeher befassen sich die Philosophen mit den Tugenden, Theologen hingegen räsonieren über Sünden. Doch was ist mit den ganz gewöhhnlichen Lastern? In ihrem luziden Essay ergründet Judith N. Shklar die politische und persönliche Dimension der gewöhnlichen Übel - Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie. Sie folgt dabei keiner philologischen Argumentation, sondern wagt einen abenteuerlichen Streifzug durch das moralische Minenfeld der Literatur-, Theater- und Philosophiegeschichte. Das erstaunliche Ergebnis: Die ganz gewöhhnlichen Laster entpuppen sich als durchaus fruchtbar, werden sie in die richtige politische Ordnung eingefasst - in einen emphatisch verstandenen Liberalismus, der fordert: Lieber frei und lasterhaft als gezwungen und moralisch rein.

Judith N. Shklar, 1928 in Riga geboren, lehrte Politikwissenschaften an der Harvard University und starb 1992 in Cambridge, Massachusetts. Die Relevanz ihres Werks findet erst in den letzten Jahren Anerkennung. Ihr Essay Der Liberalismus der Furcht gilt inzwischen als Klassiker der jüngeren politischen Philosophie und als Schlüsseltext der Liberalismustheorie.

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Leseprobe

Einleitung


Nachdenken über Laster


Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit … sind unsere ganz normalen Laster.1

— Montaigne, Über die Menschenfresser

Ganz normale Laster gehören nicht gerade zu den Verhaltensweisen, die uns in Erstaunen versetzen – sie sind weder spektakulär noch außergewöhnlich. Der Liste Montaignes sollte man noch die Unaufrichtigkeit hinzufügen, denn er kannte sie ebenso gut wie wir. Vielleicht sind Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus und Verrat so alltäglich, dass sie es nicht wert sind, diskutiert zu werden: Vor allem über Grausamkeit haben Philosophen so wenig zu sagen, dass es scheint, alle Überlegungen zu dem Thema verstünden sich von selbst und bedürften keiner Erwähnung; zudem nahm die Tugend immer all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Diese Mutmaßung scheint allerdings wenig plausibel, haben doch Historiker, Dramatiker und Schriftsteller in Lyrik und Prosa diese Laster eben gerade nicht übergangen, insbesondere nicht die Grausamkeit. An sie müssen wir uns halten, wenn wir unser in alltäglichen Erfahrungen gewonnenes Wissen erhellt und gewürdigt sehen wollen. Man könnte vermuten, dass sich die Werke von Theologen diesbezüglich als aufschlussreich erweisen würden, doch ihre Interessen sind recht begrenzt. Ihr Hauptaugenmerk muss auf Verstößen gegen die göttliche Ordnung liegen – auf Sünden, um genau zu sein. Zu den sieben Todsünden des traditionellen Christentums gehören diese ganz normalen Laster, von denen hier die Rede ist, jedoch gerade nicht, ihnen wird überhaupt bloß dürftige Beachtung zuteil. Nur wenn wir aus dem unter Gottesgesetz stehenden Moraluniversum heraustreten, können wir uns wirklich auf jene gewöhnlichen Übel konzentrieren, die wir uns tagtäglich gegenseitig antun. Genau das tat Montaigne, und daher ist er auch der Held dieses Buches. Im Geiste schreibt er auf jeder dieser Seiten mit, selbst dann, wenn sein Name nicht genannt wird. Er setzte die Grausamkeit an erste Stelle, und von ihm habe ich gelernt, was aus dieser Überzeugung alles folgt.

Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie sind sich in einem gleich: Sie haben sowohl persönliche als auch öffentliche Dimensionen. Grausam sind wir zu Kindern und zu unseren politischen Feinden; Heuchelei findet sich in allen Bereichen, daheim und draußen; Snobismus kennen wir von Zuhause, aber in einer repräsentativen Demokratie hat er weitreichende ideologische Folgen; und unsere Freunde hintergehen wir nicht weniger als unsere politischen Verbündeten – deshalb ähneln sich Liebe und Krieg auch so sehr. Wenn wir zu lange über die ganz normalen Laster nachdenken und sie uns zu sehr zu Herzen nehmen, kann es zudem dazu kommen, dass wir von Menschenhass heimgesucht werden. Vielleicht deprimiert er uns nur, aber er ist auch fähig, uns in politische Raserei zu versetzen, die bis zum Massenmord führen kann – ein Phänomen, mit dem wir, gerade heute, auch sehr vertraut sind. Weil diese Laster unseren Charakter so nachhaltig verderben, kann man sie überall entdecken. Von daher stellen sie liberale Demokratien, die notorische Schwierigkeiten mit der Abgrenzung der öffentlichen von der privaten Verhaltenssphäre haben, vor schier unlösbare Rätsel. Denn über manche privaten Laster, auch wenn sie einem freien Volk völlig abstoßend erscheinen mögen, muss man dennoch hinwegsehen, sei es aus Prinzip oder aus bloßer Besonnenheit. Das ist aber besonders bei jenen Lastern schwierig, die ich im Sinn habe: Grausamkeit, Misanthropie, Heuchelei, Snobismus und Verrat. Denn weder verhält es sich mit ihnen wie mit missliebigen Ansichten oder abstoßenden Ideologien, auf die Menschen ein verfassungsmäßiges Recht haben, noch umfassen sie lediglich ganz spezielle Handlungen oder Entscheidungen. Diese Laster sind fähig, unseren ganzen Charakter zu bestimmen, und daher rufen sie sowohl in emotionaler wie theoretischer Hinsicht sehr viel heftigere Reaktionen hervor. Grausamkeit, um mit ihr zu beginnen, ist für Liberale oft zutiefst unerträglich, denn Furcht zerstört Freiheit. Heuchelei und Verrat, gleich an nächster Stelle, waren schon immer Gegenstände der Verachtung. Wie können wir frei sein unser Leben zu führen, wenn wir unseren Freunden und Mitbürgern nicht vertrauen können? Wie kann man von uns erwarten, jene Erniedrigungen zu ertragen, die uns ungezügelter Snobismus zufügt? Unser einziger Trost mag höchstens sein, dass es ohne moralische Ansprüche keine Heuchelei und ohne Vertrauen keine Heimtücke gäbe. Aber es gibt nichts, was Grausamkeit und Erniedrigung wettmachen könnte.

Auch wenn wir besonnen über die privaten und öffentlichen Grenzen von Treulosigkeit und Unaufrichtigkeit zu sprechen vermögen, zögern wir doch, sobald die Rede auf Grausamkeit kommt. Grausamkeit ist anders – und nicht, meine ich, weil wir zu zimperlich wären. Schließlich leben wir im zwanzigsten Jahrhundert. Grausamkeit ist so rätselhaft, weil wir weder mit ihr noch ohne sie leben können. Überdies konfrontiert sie uns wie nichts sonst mit unserer eigenen Irrationalität. Und das ist nicht alles. Auch wenn wir uns darauf einigen können, was als verwerflich zu gelten hat, zögern wir, die Laster in einer bestimmten Rangliste anzuordnen. Wenn wir aber die Grausamkeit an die Spitze der Laster stellen, was in der liberalen Theorie durchaus denkbar ist, laufen wir mitunter Gefahr, unsere politische Orientierung zu verlieren und in tiefe Verwirrung zu stürzen. Dies liefert sicher nicht den unbedeutendsten Grund, sie und die anderen alltäglichen Laster zu untersuchen. Sie müssen in eine Rangfolge gebracht werden, und diese Unternehmung eröffnet den ganzen Fragenkomplex nach den Folgen unserer moralischen Entscheidungen, sowohl im Privaten wie im Öffentlichen.

Alldem zum Trotz könnte eine lebenskluge und abgeklärte Person zu Recht einwenden, dass es nichts nützt, derart viel über Laster zu sprechen, weil es dazu führt, die Menschen zu hassen. Wir werden misanthropisch, wenn wir der Unaufrichtigkeit, Untreue und besonders der Grausamkeit zu lange nachsinnen. Vielleicht ist es besser, das Thema ganz zu wechseln. Wer hat schon Lust, sich mit Nörglern und Quälgeistern herumzuschlagen? Es ist nicht zu leugnen, dass Misanthropie ausgesprochen zerstörerische politische Fähigkeiten mit sich bringt. Im Bemühen um eine neue und vervollkommnete Menschheit dazu zu gelangen, die Menschen zu hassen – schließlich gibt es ja genügend von ihnen – oder das Menschengeschlecht bereinigen zu wollen, bis nur noch die Starken und Edlen übrig sind: Das sind die Vorhaben, über die wir mittlerweile alles wissen, was wir wissen müssen. Und der private Misanthrop, der die Fehler und Schwächen seiner Nachbarn nicht ertragen kann, ist sowohl ein schlechter Freund als auch ein Haustyrann in seinem kleinen Reich. Hier macht erneut die Anordnung der Laster einen Unterschied. Wenn man die Grausamkeit als unheilvollstes Laster wertet und an erste Stelle setzt, wird man in der Schlussfolgerung sorgsam darauf bedacht sein, seinen Menschenhass im Zaum zu halten, um aus ihm keinen Zorn werden zu lassen. Trotzdem verdankt der Liberalismus der Misanthropie sehr viel, genauer: jene Veranlagung zum Misstrauen, dass Staatsbeamte, ganz gleich in welcher Zahl, zu mehr in der Lage sein könnten, als lediglich die rohesten Formen von Gewalt und Betrug in einem strengen rechtlichen Rahmen zu beschränken. Misanthropie ist selbst ein Laster, über das Liberale nachdenken müssen, besonders, wenn sie seinen bedrohlicheren und zynischeren Ausprägungen nicht erliegen wollen. Würde man Unaufrichtigkeit oder Verrat an erste Stelle setzen, ginge jede automatische Zurückhaltung gegenüber dem Zorn verloren, der in der frühen Neuzeit und wieder in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ungezügelte Ausbrüche gewalttätigen Menschenhasses hervorgebracht hat.

Wie wir die Laster ordnen ist nicht nur von politischer Bedeutung, auch müssen wir im Sinne der von liberaler Politik angestrebten Freiheit lernen, die gewaltigen Unterschiede zu ertragen, die zwischen den verschiedenen Individuen und Gruppen im Hinblick auf die Bewertung dieser Laster bestehen. Zwischen dem Katalog der sieben Todsünden mit ihrer Betonung auf Stolz und Maßlosigkeit und der Auffassung, die Grausamkeit an erster Stelle zu setzen, klafft ein tiefer Abgrund. Diese Ordnungen werden weder leichtfertig angenommen, noch hängen sie lediglich von rein persönlichen Veranlagungen und Gefühlsneigungen ab. Die unterschiedlichen Hierarchien speisen sich aus sehr verschiedenen Wertesystemen. Manche von ihnen können uralt sein, weil sich Strukturen von Überzeugungen nicht annähernd so schnell verändern wie die ganz handfesten Lebensumstände. Sie vergehen eigentlich nie, sondern lagern sich höchstens in Schichten aufeinander ab. In Europa existierte immer schon eine Tradition von Traditionen, wie unsere demografische und religiöse Geschichte eindrucksvoll belegt. Da nützt es nichts, auf irgendein in der Antike oder im Mittelalter angesiedeltes imaginiertes Utopia moralischer und politischer Harmonie...

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