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E-Book

Was ist ein Ereignis?

AutorSlavoj ?i?ek
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783104031316
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
WAS PASSIERT WIRKLICH, WENN ETWAS GESCHIEHT? Was ist ein Ereignis? In seinem neuen Buch erkundet der international gefeierte Philosoph und Kulturkritiker Slavoj ?i?ek diese alte Frage, indem er Unterscheidungen trifft: Zunächst betrachtet er das Ereignis als Rahmung, als Sturz und als Aufklärung. Dann unterscheidet ?i?ek drei Ereignisse in der Philosophie: die Wahrheit, das Selbst, das Universale. Und schließlich spricht er über drei Ereignisse in der Psychoanalyse: das Reale, das Symbolische, das Imaginäre. Von Platon über den Buddhismus bis Shakespeare, Wagner, Chesterton, Hegel und natürlich Lacan legt ?i?ek das Wesen des Ereignisses frei, um schließlich die zentralen Umrisse einer Antwort auf die alles entscheidende Frage zu skizzieren: Was ist ein politisches Ereignis? Ein provokanter und unterhaltsamer Trip in die Philosophie, ein echter ?i?ek.

Slavoj ?i?ek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen »Hegel im verdrahteten Gehirn« (2020), »Wie ein Dieb im Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus« (2019), »Mut zur Hoffnungslosigkeit« (2018), »Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus« (2016), »Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus« (2015), »Was ist ein Ereignis?« (2014) und »Das Jahr der gefährlichen Träume« (2013).

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Leseprobe

Erster Halt – Rahmung, Neurahmung, Gestell


Am 7. September 1944, nach der Invasion der Alliierten in Frankreich, wurden Marschall Philippe Pétain und die Mitglieder seiner Vichy-Regierung von den Deutschen nach Sigmaringen im Süden Deutschlands versetzt. Ein exterritorialer Stadtstaat wurde errichtet, regiert von der französischen Exilregierung, der nominell Fernand de Brinon vorstand. Es gab sogar drei Botschaften innerhalb des Stadtstaats: diejenigen von Deutschland, Italien und Japan. Sigmaringen hatte seine eigenen Radiosender (Radio-patrie und Ici la France) und seine eigene Presse (La France, Le Petit Parisien). Die Bevölkerung der Enklave bestand aus etwa 6000 Einwohnern, unter denen sich bekannte kollaborationistische Politiker (Laval), Journalisten und Schriftsteller (Céline, Rebatet), Schauspieler wie Le Vigan, der in Duviviers Golgatha von 1935 Christus gespielt hatte, sowie deren Familien und etwa 500 Soldaten, 700 SS-Mitglieder und einige französische Zwangsarbeiter befanden. Der Schauplatz war von höchstem bürokratischen Wahnsinn geprägt: Um den Mythos zu stützen, die Vichy-Regierung sei die einzig legitime Regierung Frankreichs (was von einem rechtlichen Standpunkt aus auch zutraf), lief die Staatsmaschinerie in Sigmaringen weiter und stieß einen unendlichen Fluss an Erklärungen, Gesetzen, Verwaltungsentscheidungen aus, ohne jegliche Konsequenz, wie ein Staatsapparat ohne Staat, der ganz allein funktioniert und in seiner eigenen Fiktion gefangen ist.[4]

Die Philosophie erscheint ihren Common-Sense-Widersachern oftmals als eine Art Sigmaringen der Ideen, das seine unbedeutenden Fiktionen auswirft und vorgibt, dem Publikum Einblicke zu geben, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt, während das wahre Leben woanders stattfindet, gleichgültig gegenüber den philosophischen Gigantomachien. Ist die Philosophie tatsächlich ein reines Schattentheater? Ein Pseudo-Ereignis, das ohnmächtig reale Ereignisse imitiert? Was, wenn ihre Kraft genau in ihrem Rückzug aus dem direkten Gefecht läge? Was, wenn sie in ihrer Sigmaringen-Distanz von der unmittelbaren Realität der Ereignisse eine viel tiefere Dimension derselben Ereignisse wahrnehmen könnte, so dass der einzige Weg, uns in der Fülle der Ereignisse zu orientieren, darin läge, durch die Brille der Philosophie zu schauen? Um dies zu beantworten, müssen wir zunächst fragen: Was ist Philosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung?

Im Februar 2002 ließ sich Donald Rumsfeld – damals US-Verteidigungsminister – auf etwas amateurhaftes Philosophieren über das Verhältnis zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten ein: »Es gibt bekannte Bekannte, Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Es gibt bekannte Unbekannte, das heißt, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Aber es gibt außerdem unbekannte Unbekannte – die Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.« Die Pointe dieser Übung lag darin, den bevorstehenden Angriff der USA auf Irak zu rechtfertigen: Wir wissen, was wir wissen (beispielsweise, dass Saddam Hussein der Präsident des Irak ist); wir wissen, was wir nicht wissen (wie viele Massenvernichtungswaffen Saddam besitzt); aber es gibt vor allem jene Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen – was, wenn Saddam etwa irgendeine Geheimwaffe besäße, von der wir keine Ahnung haben …

Was Rumsfeld hinzuzufügen vergaß, war der entscheidende vierte Term: die »unbekannten Bekannten«, die Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie wissen – was exakt dem freudschen Unbewussten entspricht, »das Wissen, das sich nicht weiß«, wie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (19011981) zu sagen pflegte, dessen Werk ein zentraler Bezugspunkt dieses Buchs ist.[5] (Für Lacan ist das Unbewusste kein prä- bzw. irrationaler Raum der Instinkte, sondern symbolisch artikuliertes Wissen, das dem Subjekt nicht bekannt ist.) Wenn Rumsfeld dachte, dass die Hauptgefahren in der Auseinandersetzung mit Irak in den »unbekannten Unbekannten« lägen, den Bedrohungen durch Saddam, die wir nicht einmal erahnen könnten, hätte unsere Antwort darauf lauten sollen, dass die Hauptgefahren ganz im Gegenteil in den »unbekannten Bekannten« liegen, in den uneingestandenen Glaubenssätzen und Vermutungen, von denen wir nicht einmal selbst wissen, dass wir ihnen anhängen. Diese »unbekannten Bekannten« waren in der Tat der Hauptgrund für die Schwierigkeiten, die die USA im Irak vorfanden, und Rumsfelds Auslassung beweist, dass er kein wahrer Philosoph ist. »Unbekannte Bekannte« sind das bevorzugte Thema der Philosophie – sie bilden den transzendentalen Horizont oder Rahmen unserer Erfahrung von Realität. Erinnern wir uns an den klassischen Topos der frühen Moderne in Bezug auf den Rahmen unseres Verständnisses von Bewegung:

Mittelalterliche Physiker glaubten, dass Bewegung durch einen Impuls verursacht wird. Natürlicherweise befinden sich die Dinge in einem Ruhezustand. Ein Impuls bringt etwas in Bewegung; aber dann ebbt sie ab und bringt das Objekt dazu, langsamer zu werden und anzuhalten. Etwas, das sich weiter bewegt, muss weiter angeschoben werden, und ein Schub ist etwas, das man fühlen kann. (Das war sogar ein Argument für die Existenz Gottes, denn etwas sehr Großes – wie Gott – musste durch Schub die Himmel in Bewegung halten.) Wenn die Erde sich also bewegt, warum fühlen wir das dann nicht? Kopernikus konnte diese Frage nicht beantworten … Galilei hatte eine Antwort auf Kopernikus: Einfache Geschwindigkeit wird nicht bemerkt, nur Beschleunigung. Die Erde kann sich also bewegen, ohne dass wir es fühlen. Außerdem ändert sich die Geschwindigkeit nicht, bis eine Kraft sie verändert. Das ist die Idee der Trägheit, die dann die alte Vorstellung eines Anstoßes ersetzte.[6]

Diese Wende in unserem Verständnis von Bewegung, vom Impuls zur Trägheit, verändert fundamental die Weise, in der wir uns zur Realität ins Verhältnis setzen. Eigentlich ist sie ein Ereignis: In seiner grundlegendsten Definition ist ein Ereignis nicht etwas, das innerhalb der Welt geschieht, sondern es ist eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen. Ein solcher Rahmen kann manchmal direkt als eine Fiktion vorgestellt werden, die uns dennoch befähigt, die Wahrheit in einer indirekten Art und Weise zu sagen. Ein sympathischer Fall von »Wahrheit, die die Struktur einer Fiktion hat« sind solche Romane oder Filme, in denen ein Stück, das von Schauspielern dargestellt wird (als Teil der Handlung), die amourösen Verwicklungen im Leben der Schauspieler spiegelt. Dies ist z.B. der Fall in dem Film über die Aufführung von Othello, in der der Schauspieler, der Othello spielt, wirklich eifersüchtig ist und, als die letzte Szene aufgeführt wird, die Schauspielerin, die Desdemona spielt, tatsächlich erdrosselt. Jane Austens Mansfield Park liefert ein frühes Beispiel für dieses Vorgehen. Fanny Price, ein junges Mädchen aus einer armen Familie, wird in Mansfield Park von Sir Thomas Bertram großgezogen. Sie wächst mit vier Cousins und Cousinen, Tom, Edmund, Maria und Julia, auf, wird aber schlechter behandelt als diese; allein Edmund ist freundlich zu ihr, und über die Zeit erwächst daraus eine Liebe zwischen beiden. Als die Kinder erwachsen sind, bricht der gestrenge Patriarch für ein Jahr in die Fremde auf. Während dieser Zeit kommen der modische und mondäne Henry Crawford und seine Schwester Mary in die Stadt, was eine Reihe von romantischen Verwicklungen auslöst. Die jungen Leute kommen auf die Idee, ein Stück auf die Bühne zu bringen, Lovers’ Vows; Edmund und Fanny stellen sich anfangs gegen den Plan, in dem Glauben, Sir Thomas würde es nicht gutheißen. Edmund lässt sich schließlich überreden und übernimmt widerwillig den Part von Anhalt, des Liebhabers der Figur, die von Mary Crawford gespielt wird, allein aus dem Grund, damit die anderen nicht gezwungen sind, einen Fremden für die Rolle suchen zu müssen. Das Stück bietet Mary und Edmund ein Vehikel, um über Liebe und Ehe zu sprechen, und liefert zugleich Henry und Maria einen Vorwand, in der Öffentlichkeit zu flirten. Zur großen Enttäuschung aller kehrt Sir Thomas mitten in einer Probe wieder zurück, worauf der Plan aufgegeben wird.[7] Bis zu diesem Zeitpunkt aber sind wir Zeugen einer vermeintlichen Fiktion, die für eine Realität steht, die niemand zuzugeben bereit ist.

Oft ist es nur einem ähnlichen Perspektivwechsel innerhalb einer Erzählung geschuldet, dass wir erfahren, worum sich die Geschichte eigentlich dreht. Ein viel größeres Meisterwerk noch als das berühmte spätere WR: Mysterien des Organismus ist Dušan Makavejevs Unschuld ohne Schutz (1968) mit seiner einzigartigen Struktur eines »Films im Film«. Sein Held ist Dragoljub Aleksić, ein alternder serbischer Luftakrobat, der seine Kunststücke an Flugzeugen hängend vorführt und während der deutschen Besatzung in Serbien ein lächerlich sentimentales Melodram in Belgrad mit demselben Titel gedreht hat. Makavejevs Film enthält diesen Film vollständig, fügt Interviews mit Aleksić und andere dokumentarische Aufnahmen hinzu. Der Schlüssel zu dem Film ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen und die Frage, die sie aufwerfen: Wessen Unschuld ist schutzlos? Aleksićs Film antwortet:...

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