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E-Book

Das Alphabet des Denkens

Wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt

AutorClaudia Wüstenhagen, Stefanie Schramm
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644035218
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wörter machen Leute - und unsere Welt. Worte können trösten oder tief verletzen, manche hängen einem tage- oder gar jahrelang nach. Wer eine Liebeserklärung bekommt oder in einen heftigen Streit gerät, der spürt, wie Sprache berührt. Oftmals bemerken wir ihren Einfluss aber gar nicht, deshalb sind wir so gut zu manipulieren, mit Werbung zum Beispiel. Stefanie Schramm und Claudia Wüstenhagen zeigen, dass Sprache unser Leben und Denken auf weit umfassendere Weise prägt, als wir ahnen. Sie beeinflusst unsere gesamte Weltwahrnehmung: So kennt die Sprache eines Aborigine-Stammes keine räumlichen Beschreibungen wie «vor», «hinter», «rechts» oder «links», sondern nur Himmelsrichtungen. Das hat den Orientierungssinn der Aborigines derart geprägt, dass sie jederzeit exakte Angaben zur Lage bestimmter Orte machen können - selbst bei Nacht. Die Autorinnen tragen die verblüffenden Erkenntnisse von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen zusammen - von der Psycholinguistik, der Psychologie, den Neurowissenschaften bis hin zur Ökonomie. Am Ende schildern sie, wie wir die Macht der Worte gezielt für uns nutzen können. So ist bewiesen, dass Angstgefühle nachlassen, wenn man sie in Worte fasst. Und Fremdsprachen trainieren nicht nur das Hirn, sondern wecken neue Facetten der Persönlichkeit. Ein spannendes, ungewöhnliches Buch über die faszinierende Welt der Wortmacht und der Machtworte.

Stefanie Schramm ist freie Wissenschaftsjournalistin und arbeitet u.a. für DIE ZEIT, ZEIT Wissen, mare, FAS, NZZ am Sonntag und den Deutschlandfunk. Sie hat die Kölner Journalistenschule abgeschlossen sowie Volkswirtschaftslehre und Politik studiert.

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Leseprobe

2 Die Macht der Bilder


Wie Metaphern einen Kosmos von Assoziationen wecken


«Es ist aber bei weitem das Wichtigste,

dass man Metaphern zu finden weiß.

Denn dies ist […] ein Zeichen von Genialität.

Denn eine gute Metapher zu bilden, bedeutet,

dass man Ähnlichkeiten im Ungleichen

zu erkennen vermag.»

Aristoteles, Poetik

Das Verbrechen ist eine Bestie, die die Stadt Addison heimsucht. Vor fünf Jahren war Addison in gutem Zustand, ohne offensichtliche Schwachstellen. In den vergangenen fünf Jahren jedoch sind die Abwehrsysteme der Stadt schwächer geworden, und die Stadt ist dem Verbrechen erlegen. Heute gibt es mehr als 55000 kriminelle Zwischenfälle im Jahr – ihre Zahl hat um mehr als 10000 zugenommen. Es besteht die Befürchtung, dass noch ernstere Probleme entstehen, wenn die Stadt ihre Stärke nicht bald zurückgewinnt.

 

Was braucht Addison Ihrer Meinung nach, um die Kriminalität zu reduzieren? Denken Sie ruhig zwei, drei Minuten darüber nach.

Welche Maßnahmen sind Ihnen eingefallen? Und welcher Teil des Berichts hat Sie dabei am meisten beeinflusst?

Genau diese Aufgabe haben die Psychologen Paul Thibodeau und Lera Boroditsky ihren Testpersonen gestellt.[30] Die Probanden antworteten in 71 Prozent der Fälle, man müsse die Verbrecher jagen, hinter Gitter bringen sowie härtere Strafen durchsetzen.

Ob diese Strategie zum Erfolg führte, konnte nicht überprüft werden – die Stadt Addison existiert nicht. Thibodeau und Boroditsky haben sie erfunden, und sie wollten auch gar nicht den Einfluss verschiedener Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung testen – sondern den von Worten, genauer gesagt: von Metaphern.

Metapher, das kommt vom Griechischen «metaphora» und bedeutet «Übertragung». Metaphern übertragen eine konkrete Erfahrung auf ein abstraktes Konzept. So wie das Wort «Bestie» in dem Bericht: Konkret bezeichnet es ein wildes Tier, abstrakt steht es für das Verbrechen.

In einem zweiten Versuch tauschten Thibodeau und Boroditsky diese Metapher gegen eine andere aus: «Virus». Der Rest des Textes blieb exakt gleich. Dann legten sie die Aufgabe neuen Probanden vor. Das Ergebnis: Nur in 54 Prozent ihrer Antworten empfahlen die Teilnehmer eine strengere Verfolgung der Verbrechen und härtere Strafen. 46 Prozent ihrer Vorschläge zielten dagegen auf eine ganz andere Strategie: die Gründe für die Kriminalität zu untersuchen, die Armut zu bekämpfen und die Bildung zu verbessern. In der Gruppe, der die Kriminalität als «Bestie» vorgestellt worden war, waren es dagegen nur 29 Prozent.

Ein einziges Wort hatte den Ausschlag gegeben! Wenige Buchstaben hatten maßgeblich beeinflusst, welche Lösungen die Testpersonen für ein wichtiges gesellschaftliches Problem vorschlugen: soziale Reformen oder unnachgiebige Strafverfolgung. Die Metapher hatte sogar einen weit größeren Einfluss als die politische Einstellung der Probanden. Zwar schlugen in dem Versuch Republikaner häufiger als Demokraten eine strengere Strafverfolgung vor, aber der Unterschied zwischen den Anhängern der beiden Parteien war noch nicht einmal halb so groß wie der zwischen der «Bestie»- und der «Virus»-Gruppe.

Das Interessante dabei: Die Versuchsteilnehmer waren sich der Wirkung der Metapher überhaupt nicht bewusst. Nur wenige vermuteten, das Wort «Bestie» oder «Virus» könnte ihre Entscheidung gelenkt haben. Fast alle gaben als Einflussfaktor die im Text erwähnte Kriminalstatistik an – doch die war in beiden Versionen vollkommen identisch.

Können Metaphern töten?


Offenbar können Metaphern also unser Denken und unsere Entscheidungen ganz erheblich beeinflussen, ohne dass wir es bemerken. Metaphern sind damit weit mehr als die rhetorischen Figuren, als die sie uns im Deutschunterricht begegnet sind, und mehr als dekorativer Zuckerguss, wie wir ihn aus der Poesie kennen.

Dass Metaphern Macht über uns haben, vermuten Sprachforscher schon lange. Besonders drastisch formulierte es der Linguist George Lakoff: «Metaphern können töten.» Mit diesem Satz begann er im März 2003 einen Artikel über den bevorstehenden Krieg gegen den Irak.[31] Er bezog sich auf den Ausdruck «Krieg gegen den Terror», den die Regierung Bush nach dem 11. September 2001 geprägt hatte. Zunächst sprach die Regierung von «Opfern», wenige Stunden später von «Verlusten». «Ein Sprachmoment von höchster politischer Relevanz», meint Lakoff. Denn mit diesem Wortwechsel habe sich auch die Deutung der Anschläge verändert: vom Verbrechen hin zu einer Kriegshandlung. Das habe zur Metapher «Krieg gegen den Terror» geführt – und letztlich zu den Kriegen in Afghanistan und im Irak mit Zehntausenden Toten.

Doch Lakoffs These von der Macht der Metaphern ist kühn, und sie ist umstritten. Hier prallen die Überzeugungen zweier verfeindeter Lager von Sprachforschern aufeinander, die wir in Kapitel 4 noch ausführlich kennenlernen werden: die der Universalisten und die der Relativisten. Die Universalisten meinen, dass allen Menschen dasselbe Sprachvermögen und dieselben universellen Grundregeln der Sprache angeboren seien. Zudem verfügten alle Menschen von Geburt an über ein und dieselbe «Sprache der Gedanken»: Mentalese oder Mentalesisch. Wir dächten nicht in einer natürlichen Sprache – also auf Deutsch, Englisch oder Chinesisch –, sondern in dieser universellen Sprache des Geistes. Daraus folgern die Vertreter dieser Theorie, dass die natürliche Sprache keinen Einfluss auf das Denken hat. Dem widersprechen die Relativisten aufs heftigste: Sie sind überzeugt, dass wir in natürlichen Sprachen denken und dass diese unser Denken prägen. Die natürlichen Sprachen wiederum bildeten die Welt nicht auf ein und dieselbe Weise ab, sie sind nicht universell, sondern relativ. Folglich dächten Menschen in verschiedenen Sprachen bis zu einem gewissen Grad unterschiedlich; unsere Weltsicht hänge damit auch von der Sprache ab, die wir sprechen.

Doch die verschiedenen Parteien zanken nicht nur darüber, wie viel Macht Metaphern besitzen – schon über deren Entstehung herrscht Uneinigkeit. Die Universalisten behaupten, die Verknüpfung von konkreter und abstrakter Bedeutung sei angeboren, die Relativisten glauben, sie sei erlernt. Wie dieses Lernen genau funktioniert, darüber herrscht ebenfalls Dissens: Die einen schreiben konkreten, körperlichen Erfahrungen die Hauptrolle zu, die anderen der Sprache selbst und die Dritten der Kultur.[32] Und dann gibt es noch junge Psychologen und Kognitionsforscher, die meinen, alle drei Faktoren – Körper, Sprache, Kultur – spielten eine Rolle, in unterschiedlichem Ausmaß oder auch in Kombination. Ein ziemliches Durcheinander. Doch der Versuch, dieses Ursachengeflecht aufzudröseln, lohnt sich. Denn so können wir aufdecken, welchen Anteil die Sprache an der Wirkung von Metaphern hat – und das wiederum hilft uns, dem Einfluss der Worte auf unser Denken ganz allgemein auf die Spur zu kommen.

Schauen wir uns zunächst die unterschiedlichen Ansichten der Relativisten über die Entstehung von Metaphern an.

Heiße Herzen und kalte Schultern – Metaphern und körperliche Erfahrungen

George Lakoff, der Mann also, der glaubt, Metaphern könnten töten, sieht den Ursprung dieser Sprachbilder in körperlichen Erfahrungen. Zum Beispiel werde Zuneigung mit Wärme assoziiert: Ist jemand offen und liebenswürdig, bezeichnet man ihn als warmherzig, ist jemand abweisend, beklagt man sich über die «kalte Schulter», die er einem zeigt. Man kann sich für jemanden erwärmen, und Beziehungen können erkalten. «Wenn wir als Kinder von unseren Eltern im Arm gehalten werden, dann spüren wir Wärme. Und gleichzeitig spüren wir Zuneigung. So lernen wir die Verbindung zwischen beiden», behauptet Lakoff. Im Gehirn geschehe dabei Folgendes: Die Nervenzellen für das Empfinden von Wärme würden aktiviert und zugleich auch jene für das Empfinden von Zuneigung, immer und immer wieder. So bildeten sich besonders starke Verbindungen zwischen den beiden Netzwerken aus. Und wenn das Hirn eine Metapher verarbeite, dann würden nicht nur die Nervenzellen für das abstrakte Konzept (Zuneigung) aktiviert, sondern auch die für die konkrete Erfahrung (Wärme). Metaphern, so sieht Lakoff es, existieren als Schaltkreise im Hirn.

Und er geht noch weiter: «Wir reden nicht nur in Metaphern, wir denken in Metaphern.» Metaphern sind ihm zufolge erst in zweiter Linie sprachliche Phänomene. Zuallererst seien sie eine Form des Denkens. Sogar die gesamte westliche Philosophie, behauptet Lakoff, sei letztlich nichts anderes als eine Kollektion von Metaphern. Und selbst die Mathematik lasse sich auf körperliche Erfahrungen zurückführen, die in Metaphern eingeflossen seien, von einfachen bis hin zu sehr komplexen, die für die höhere Mathematik gebraucht werden: Wir stellten uns zum Beispiel Zahlen als Punkte auf einem Zahlenstrahl vor und das Unendliche wie einen Vorgang, der sich ständig wiederholt und keinen Zielpunkt hat – wie das Atmen etwa.[33] Lakoffs Hypothese: ohne Metaphern keine Philosophie und keine Mathematik.

Das ist eine gewagte Behauptung, doch der Gedankengang dahinter lässt sich leicht nachvollziehen: Unsere Vorfahren hätten irgendwann begonnen, grundlegende Muster aus ihrer Erfahrungswelt – Raum, Zeit, Bewegung, Krankheit, Kampf – auf die Gedankenwelt zu übertragen. So hätten sie...

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