332. Kapitel
Wie entsteht Körpersprache?
Steinzeit im Büro
Bestimmen wir unser Verhalten wirklich selbst? Sind wir immer Herr der Lage und haben uns ständig im Griff? Seit der Philosoph René Descartes im 17. Jahrhundert die Zeit der Aufklärung begründet hat, setzte sich die Ansicht durch, dass der Mensch ein durch und durch vernunftbegabtes Wesen ist. Wir bestimmen mit unserer Ratio, die in unserer Großhirnrinde sitzt, was wir tun und sagen.
Erste Zweifel an dieser Ansicht äußerte bereits der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Er brachte das sogenannte „Unbewusste“ ins Spiel, ohne es allerdings noch richtig deuten zu können. Für ihn blieb es geheimnisvoll und schwer verständlich. Bis heute glauben viele Psychologen, dass das Unterbewusste höchstens eine untergeordnete Rolle bei dem spielt, was wir tun und wie wir uns verhalten.
Diese Vorstellung stellen moderne Hirnforscher gründlich infrage. Inzwischen gehen Wissenschaftler davon aus, dass zwei Teile unseres Gehirns, das limbische System sowie das das Stammhirn, auch Reptiliengehirn genannt, zentralen Einfluss auf uns haben. Diese beiden Gehirnteile steuern sowohl unsere Gefühle und Emotionen als auch unser primäres Verhalten wie Herzschlag, Fluchtverhalten und vieles mehr. Sie beeinflussen uns weit mehr, als uns das bewusst und vielen auch lieb ist. Doch wir bekommen das meist nicht mit, weil uns vieles von unserem täglichen Verhalten so normal und natürlich erscheint, dass wir einfach nicht mehr darüber nachdenken. Die wirklichen Verhältnisse im Gehirn sind noch etwas komplexer. Der Einfachheit halber verwenden wir im Buch jedoch die beiden 34Begriffe „limbisches System“ und „Reptiliengehirn“ immer dann, wenn wir uns auf die unbewussten Prozesse und Handlungen im Gehirn beziehen.
Das Reptiliengehirn rettet Ihr Leben
Stellen Sie sich dazu vor, dass Sie in Gedanken versunken eine Straße überqueren. Plötzlich rast ein großer, schwerer LKW auf Sie zu, den Sie einfach übersehen haben. Wenn Sie über ein normales Reaktionsvermögen verfügen, werden Sie wahrscheinlich innerhalb einer drittel bis halben Sekunde zur Seite springen und damit wahrscheinlich Ihr Leben retten. Der LKW rast an Ihnen vorbei.
Doch bis Ihr Bewusstsein diesen Vorgang registriert hat und Sie so richtig Angst bekommen, vergehen weitere drei Sekunden. Denn so lange dauert es, bis ein Außenreiz, hier der optische Eindruck des LKW, Ihre Großhirnrinde erreicht hat, dort einen Denk- und Analyseprozess durchläuft und sich das Großhirn zu einer Reaktion entschließt.
Wenn wir wirklich so vernunftbegabt wären, wie das Descartes postulierte, lägen Sie inzwischen unter dem LKW. Gerettet hat Sie das Reptiliengehirn. Es reagiert unmittelbar und fragt nicht lange nach Begründungen. In diesem Fall hat es das lebenserhaltende System „Flucht“ aktiviert. Nach Ihrer Rettung werden Sie jedoch kaum darüber nachdenken, sondern wie selbstverständlich davon ausgehen, dass Sie Ihr schnelles Reaktionsvermögen gerettet hat. Eine Heuschrecke ganz ohne Großhirn hätte sich jedoch genau mit demselben System im Gehirn und demselben Fluchtprogramm gerettet. In diesen Sekunden waren Sie hinsichtlich der Leistung Ihres Gehirns von der Heuschrecke nicht sehr weit entfernt.
Dazu noch ein weiteres Beispiel, das Ihnen den Einfluss Ihrer „alten“ Gehirnteile noch stärker verdeutlichen wird:
Michael Rot greift an
Stellen Sie sich vor, dass Michael Rot, die selbstbewusste Führungskraft, die wir Ihnen weiter oben bereits vorgestellt haben, morgens voller Schwung sein Büro betritt. Auf seinem Schreibtischstuhl lümmelt der neue Lehrling, der ihn so früh noch nicht erwartet hat.
35Michael Rots spontane Reaktion wird vermutlich darin bestehen, dass er sich vor dem Lehrling aufbaut, die Arme in die Seiten stemmt und ihn mit lauter Stimme zurechtweist. Diese Reaktion erfolgt sehr spontan innerhalb von einer halben bis ganzen Sekunde. Das Großhirn ist dabei eindeutig nicht beteiligt. Denn die spontane Reaktion erfolgt aus dem Reptiliengehirn. Dieses reagiert mit dem Programm „Angriff“. Denn es sieht die Position von Michael Rot im Unternehmen bereits bedroht und entscheidet, den Störenfried sofort auszuschalten.
Diese Reaktion hat sich vermutlich in 100.000 Jahren Menschheitsgeschichte bewährt und bestimmt das unbewusste Denken noch immer, auch wenn sie im vorliegenden Fall sicher übertrieben ist. Hätte Michael Rot das Problem nur mit dem Großhirn analysiert, wäre die Reaktion sicher sehr viel moderater ausgefallen. Denn die Sache lohnt ja kaum den Aufwand.
Das Programm „Angriff“ ist in diesem Fall mit Aufplustern, sich größer machen – die Hände in die Hüften stemmen – und einer lauten Stimme hinterlegt. Diese körperliche Verhaltensweise kann Michael Rot sofort und wie auf Knopfdruck aktivieren, ohne dass er darüber nachdenken muss. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Auch beim Lehrling könnte Sie jetzt vermutlich ein interessantes Urprogramm beobachten:
Der Lehrling duckt sich weg
Wenn Michael Rot ihn anbrüllt, wird sich der Lehrling ducken und den Kopf einziehen. Das Programm dazu heißt „sich klein machen und verstecken“. Denn mit dem Chef wird er sich nicht anlegen, und der Fluchtweg ist ihm ebenfalls versperrt. Also bleibt als dritte Variante nur, sich möglichst unsichtbar zu machen.
Was bei einem aus dem Nest gefallenen Vogelküken vielleicht noch funktioniert, wenn eine Katze in der Nähe herumstreicht, ist natürlich in diesem Fall relativ wirkungslos. Dennoch erfüllt es vielleicht einen anderen Zweck, weil es auch eine Unterwerfungs- und Besänftigungsgeste darstellt und Michael Rot signalisiert, dass vom Lehrling nun wirklich keine Gefahr ausgeht. Er wird sich also wieder beruhigen und der Tag kann endlich mit den wichtigen Tätigkeiten beginnen.
36Wie Sie bereits bei dieser kurzen Sequenz sehen können, läuft hier eine fein abgestimmte Reihenfolge von Verhaltensweisen, begleitet von zahlreichen komplexen körpersprachlichen Signalen ab. Hier findet bereits ein kommunikativer Prozess statt, der ausschließlich über die unbewussten Gehirnteile gesteuert ist. Das Bewusstsein ist innerhalb der ersten drei Sekunden überhaupt nicht beteiligt.
Das beantwortet auch die Frage, ob diese Art von Körpersprache willentlich beeinflusst werden kann. Die Antwort ist ein klares Nein. Zumindest wenn plötzlich ein starker Außenreiz auftritt oder wenn sich ein Mensch nicht auf seine Körpersprache konzentriert, kann er sie praktisch nicht beeinflussen. Das macht die Beobachtung von Körpersprache auch so wertvoll, denn sie erlaubt einen ungefilterten Blick auf die Gefühle unserer Mitmenschen.
Warum reagieren moderne Büromenschen, die im Web 2.0 zu Hause sind, Smartphones, Tablets und den Laptop stets parat haben und alle Informationen dieser Welt in einer halben Minute abrufen können, nach solchen steinzeitlichen Programmen? Die Antwort liegt in unseren Genen begründet. Die Urmuster des Verhaltens sind fest in uns einprogrammiert. Unsere Gene tragen diese Informationen und geben sie an die nächste Generation weiter. Denn nur so weiß bereits ein Kleinkind, dass es sich bei Gefahr ducken muss und nicht schreien darf, während es bei Hunger hingegen sehr laut nach seiner Mutter ruft.
Doch genetische Eigenschaften ändern sich nur sehr langsam. Es dauert oft Dutzende bis Hunderte von Generationen, bis sich wirklich neue Eigenschaften ausbilden. Solche Veränderungen passieren zudem nur, wenn ein starker Selektionsdruck herrscht. Doch beim menschlichen Verhalten gab es seit der Steinzeit weder einen starken Selektionsdruck noch den Zwang, die grundlegenden Überlebensmuster zu ändern. Somit blieben diese und viele andere angeborene Verhaltensweisen erhalten. Evolutionsbiologisch befinden sich die Menschen noch in der Steinzeit. Im Büro leben die Menschen nach Verhaltensweisen, die vor 12.000 Jahren in der Jungsteinzeit auch nicht so viel anders waren.
Das erklärt auch, warum Menschen in massiven Ausnahmesituationen, zum Beispiel im Krieg oder in Notzeiten so schnell in „archaische“ Muster zurückfallen. Das sind in Wirklichkeit keine archaischen Muster, sondern es ist unser primäres Verhalten, wenn es nicht durch Normen oder durch gesellschaftliche Kontrolle dominiert wird. Denn diese Kontrolle funktioniert über das Großhirn 37und versagt, wenn das limbische System das Ruder übernimmt, weil man in bestimmten Situationen ohne störendes Nachdenken besser überleben kann.
Menschen und Gorillas
Körpersprache funktioniert auch im Tierreich bzw. zwischen Menschen und Tieren. So fanden Forscher heraus, dass sie sich problemlos in einem Gorillarudel aufhalten konnten, solange sie sich dort unterwürfig verhielten. Wer mit eingezogenem Kopf und gesenkten Blick umherlief, signalisierte Unterwürfigkeit und beruhigte damit den Rudelführer, meist ein altes Alphamännchen mit silberner Rückenbehaarung. Doch wehe, wenn man sich zu sehr aufrichtete, dem Silberrücken direkt in die Augen schaute oder gar – das ist jetzt Gorillakörpersprache – mit beiden Fäusten gegen die Brust trommelte. Der Chef reagierte sofort mit Gegenaggression und der Forscher war angesichts der deutlichen körperlichen Überlegenheit des Gorillas gut beraten, sofort wieder eine unterwürfige Pose einzunehmen.
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