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E-Book

Die Tiefenpsychologie nach C.G.Jung

Eine praktische Orientierungshilfe

AutorVerena Kast
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783843605595
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Klar und verständlich erschließt die renommierte Jung'sche Analytikerin Verena Kast die wesentlichen Aspekte der Analytischen Psychologie C.G. Jungs. Sie erklärt das Wirken des Unbewussten - anhand von Begriffen wie etwa Komplexe, Archetypen oder dem Schatten - und stellt den psychischen Wachstums- und Reifungsprozess des Menschen, die Individuation, anschaulich dar. Ihre Beschreibung der analytischen Behandlung und Erläuterung therapeutischer Methoden, z.B. Traumarbeit und Aktive Imagination, bieten Menschen, die auf der Suche nach einer passenden Psychotherapie sind, wichtige Orientierungshilfen. Eine konzentrierte und überaus kompetente Einführung in Theorie und Praxis der Tiefenpsychologie nach C.G. Jung.

Verena Kast, Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis, ist Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung- Institut Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Psychologie der Emotionen, Grundlagen der Psychotherapie, Interpretation von Märchen und Träumen.

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Leseprobe

Das kollektive Unbewusste und die Archetypen


Jung hat sich als Psychiater am Burghölzli (Zürich) unter der Leitung von Eugen Bleuler, von dem der Ausdruck »Schizophrenie« stammt, eingehend mit der schizophrenen Erkrankung, die damals noch »Dementia praecox« genannt wurde, beschäftigt. Er untersuchte vor allem die Wahnvorstellungen und Halluzinationen Schizophrener und deutete sie. Seine Ergebnisse hat er in seiner Abhandlung »Über die Psychologie der Dementia praecox« (1907)39 veröffentlicht. Darin wies er nach, dass auch scheinbar sinnlose, zusammenhanglose Äußerungen eine Bedeutung haben. Er schickte dieses Buch Freud, und dieser lud ihn daraufhin zu einem Besuch ein.

Jung ging in diesen Untersuchungen mit großer Genauigkeit den Fantasien der Schizophrenen nach. Er stellte fest, dass die Wahnbilder den Traumbildern ähnlich sind, und er deutete sie anhand der »Traumdeutung« von Sigmund Freud.

Heute weisen Solms und Turnbull, Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker, darauf hin, dass die funktionelle Anatomie des Träumens und der schizophrenen Psychose nahezu identisch seien, mit dem einen großen Unterschied, dass bei der schizophrenen Erkrankung die audio-verbale Komponente der Wahrnehmung, beim Träumen dagegen die visuell-räumliche40 im Vordergrund stehen.

Jung verstand die Wahnproduktion als einen Versuch, »unbekannte psychische Phänomene«41 in einen Zusammenhang zu bringen, sie einzuordnen. Wahnsysteme werden von ihm als »subjektive Mythen« verstanden, die dem Menschen helfen wollen, sich zu verstehen. Natürlich funktioniert der Mythos der Schizophrenen nicht richtig, aber Jung wollte die Wahnideen dennoch als Versuch der Heilung sehen, der allerdings nicht wirklich gelingt. Im Zusammenhang mit seinen Forschungen zu den Mythen der Menschheit kam Jung zu der Überzeugung, dass es sowohl beim normalen Menschen als auch beim kranken eine mythenschöpfende Ebene gibt, die bei allen Menschen – zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturen – zum menschlichen Erbe gehört. Hinter der menschlichen Fähigkeit, Mythen zu schaffen, sieht Jung das kollektive Unbewusste, das sich in archetypischen Bildern und Narrationen, eben in diesen Mythen, zeigt.

Das kollektive Unbewusste ist ein Konstrukt. Es wird als eine in jedem Menschen vorhandene allgemeine biologische und psychische Grundlage überpersönlicher Natur verstanden. »Unter dieser Bezeichnung verstehe ich ein unbewusstes, allgemein menschliches, seelisches Funktionieren, welches nicht nur Anlass zu unseren modernen symbolistischen Bildern, sondern auch Anlass zu all den ähnlichen Produkten der menschlichen Vergangenheit war. Solche Bilder entspringen einem natürlichen Bedürfnis und befriedigen auch ein solches. Es ist, wie wenn die bis ins Primitive zurückreichende Psyche sich in diesen Bildern ausdrückte und dadurch eine Möglichkeit bekäme, mit unserem ihr fremdartigen Bewusstsein zu funktionieren, wodurch ihre das Bewusstsein störenden Ansprüche in Wegfall kämen, das heißt gesättigt würden.«42

Das kollektive Unbewusste kann anhand von archetypischen Bildern erschlossen werden. Archetypen werden als Wirkkräfte des kollektiven Unbewussten verstanden, als Grundmuster des Lebens, die in jedem Menschen wirksam sind, sie werden von den Menschen geträumt, beschrieben, gestaltet – sie sind die Voraussetzung der Kulturgeschichte.

So haben alle Menschen vergleichbare Emotionen, die wir nicht bewusst abrufen müssen – sie entstehen unbewusst in bestimmten, existenziell bedeutsamen Situationen: Trauer bei Trennung oder Verlust; Freude, wenn etwas besser ist als erwartet; Ärger, wenn jemand über unsere Grenzen geht; depressive Gefühle, wenn der Sinn des Lebens verloren geht, usw. Wir können diese Emotionen, die biologisch zu uns gehören, allerdings mehr oder weniger kontrollieren.

Das kollektive Unbewusste zeigt sich auch in archetypischen Bildern, wie etwa dem Kreis, der Kugel, der Spirale, dem göttlichen Kind, dem alten Weisen, dem geheimnisvollen Fremden, in Helden und Heldinnen, aber auch in Tieren, Farben usw. Was versteht Jung unter Archetypen?

»Es handelt sich selbstverständlich nicht um vererbte Vorstellungen, sondern um eine angeborene Disposition zu parallelen Vorstellungsbildungen beziehungsweise um universale, identische Strukturen der Psyche, welche ich später als das kollektive Unbewusste bezeichnet habe. Diese Strukturen nannte ich Archetypen. Sie entsprechen dem biologischen Begriff des ›pattern of behaviour‹.«43

Aus der Perspektive der Erfahrung und des Erlebens wird das archetypische Bild anders beschrieben:

»Dieses Bild ändert sich aber sofort gänzlich, wenn es von innen, das heißt im Raume der subjektiven Seele angeschaut wird. Hier erweist sich der Archetypus als numinos, das heißt als ein Erlebnis von fundamentaler Bedeutung. Wenn er sich in entsprechende Symbole kleidet, was nicht immer der Fall ist, dann versetzt er das Subjekt in den Zustand der Ergriffenheit, deren Folgen unabsehbar sein können.«44

Archetypen greifen »regulierend, modifizierend und motivierend in die Gestaltungen der Bewusstseinsinhalte«45 ein. Von ihnen gehen nach Jung die Impulse zur Selbstregulierung der Psyche im weitesten Sinne aus. Aber wahrscheinlich ist davon auch unsere Wahrnehmung betroffen, die Tatsache, dass neuronale Verschaltungen in Vorstellungen, die wir miteinander teilen können, für uns erfahrbar sind.46

»Archetypen in der praktischen Erfahrung […] sind Bilder und gleichzeitig Emotionen.«47 Archetypische Bilder erlauben, Emotionen in einer bestimmten Strukturdynamik zu erfassen. Sie zeigen sich da, wo Fantasie sich betätigt.

Archetypen stehen auch hinter den Komplexen.

Das Entwicklungspotenzial in den Komplexen wird besonders sichtbar in den archetypischen Bildern, die sich jeweils einstellen, wenn wichtige Aspekte des Komplexes ins Bewusstsein gehoben worden sind und dadurch der Zugang zu archetypischen Mustern und zu ihrer Dynamik, auf denen die Komplexe sich aufbauen, möglich wird. So haben Menschen natürlich Erfahrungen mit der persönlichen Mutter, dem persönlichen Vater, wir haben aber auch archetypische Vorstellungen von Mutter und Vater, die wir auf die Eltern übertragen, und obwohl Frau und Mann erst mit dem Kind Mutter und Vater werden, verstehen sie, es zu sein.

Existenzielle Erfahrungen werden immer wieder in ähnlichen Symbolen ausgedrückt: In Zeiten großer Bedrohung, die mit viel Angst verbunden sind, ruft man zum Beispiel Menschen an einen runden Tisch zusammen. Der Kreis ist ein uraltes Symbol der Ganzheit, der Geschlossenheit und damit auch des Schutzes. Der Kreis ist ein Symbol, das sich sowohl in der darstellenden Kunst als auch in sprachlichen Gestaltungen in der Kulturgeschichte leicht zurückverfolgen lässt.48

»Der Archetypus ist eine Art Bereitschaft, immer wieder dieselben oder ähnliche mythische Vorstellungen zu reproduzieren. […] Die Archetypen sind, wie es scheint, nicht nur Einprägungen wiederholter typischer Erfahrungen, sondern zugleich auch verhalten sie sich empirisch wie Kräfte oder Tendenzen zur Wiederholung derselben Erfahrungen. Immer nämlich, wenn ein Archetypus im Traum, in der Fantasie oder im Leben erscheint, bringt er einen besonderen ›Einfluss‹ oder eine Kraft mit sich, vermöge welcher er numinos respektive faszinierend oder zum Handeln antreibend wirkt.«49

Archetypen werden erlebt in Form von archetypischen Vorstellungen, archetypischen Bildern. Diese werden von Jung als innere Bilder verstanden, die sich in Träumen, in Fantasien, in Mythen zeigen, die sowohl Emotionen in bestimmte Formen bringen als auch neues Verhalten in Abgleichung zu Bekanntem möglich machen. Sie erlauben aber auch nur bestimmte Formen der Fantasie und der Emotion, bilden also auch Struktur. Sie gehören zu unserer biologischen Grundausstattung, sind aber auch kulturell überformt. Archetypische Bilder müssen gestaltet, in die Sprache der Gegenwart übersetzt werden.50 »Die ewige Wahrheit bedarf der menschlichen Sprache, die sich mit dem Zeitgeist ändert. Die Urbilder sind unendlicher Wandlung fähig und bleiben doch stets dieselben, aber nur in neuer Gestalt können sie aufs Neue begriffen werden. Immer erfordern sie neue Deutung, sollen sie nicht wegen zunehmender Altertümlichkeit ihres Begriffes ihre Bannkraft […] einbüßen.«51

Die vielleicht berühmteste Übersetzung eines Mythos in die Sprache der Gegenwart ist die Bearbeitung – oder Neufassung – des Ödipus-Mythos durch Freud. Ödipus – als archetypische Gestalt – muss Freud sehr fasziniert haben!

Die Übersetzung von Mythen in die Sprache der Gegenwart erfolgt heute aber auch zum Beispiel in den Comics, und die alten Mythen werden dadurch mit Hilfe der Populärmedien einem großen Publikum neu vermittelt. Trickfilme aus den Disney-Studios arbeiten mit mythischen Stoffen: Amor und Psyche in der Märchenfassung von »Die Schöne und das Biest«. Der Haushaltsroboter, der in der Science-Fiction-Literatur auftritt, ist den Heinzelmännchen nachempfunden. Die Taten des Herakles spiegeln sich in den Taten der Westernhelden, wie denn überhaupt die Heldenmythen als Superman usw. immer noch Hochkonjunktur haben. Etwas weniger augenfällig und laut ist die Übersetzung von Mythenstoffen in zeitgenössischen literarischen Werken anzutreffen oder etwa in der Renaissance der Engel in der spirituellen...

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