Der ganz normale Wahnsinn
Nicht immer geht es gut aus. Nicht immer kommen die Menschen so glimpflich davon wie der Typ, der neulich an unserer Autotür rüttelte. Und nicht immer droht einer bloß, so wie der Pole mit der Axt. Manchmal schlagen die Leute wirklich zu mit ihren Waffen.
Manchmal erwischt es jemanden.
Es ist Mitternacht, als der Funk in unserem Wagen wieder durchdreht. »Schwere Schlägerei! Verletzte! Vor einer Shisha-Bar an der Horner Landstraße.« Ach du Scheiße. »Wir brauchen NAWs und RTWs.« Notarztwagen und Rettungswagen? Das ist ernst. »Zwei Jugendliche wurden mit Baseballschlägern vermöbelt. Mit dem Ableben ist zu rechnen.«
Todernst.
Ivan knallt das Blaulicht aufs Dach. Es hält dank eines Magneten an seiner Unterseite. Und schon rasen Oskar, Ivan und ich zur Shisha-Bar.
»Täter sind angeblich noch im Gebäude«, sagt der Mann aus dem Funk jetzt.
Mehrere Polizeiwagen sind bereits eingetroffen, als wir ankommen. Die Leuchtreklame der Bar preist verschiedene Geschmacksrichtungen an. Ein Hauch von Orient. Die rotweißen Absperrbänder sind bereits über den ganzen Gehweg vor der Bar gespannt, um den Tatort zu sichern. Notärzte und Sanitäter sind auch schon da.
Die Lage vor der Bar ist ruhig. Polizeibeamte stehen draußen und reden mit einigen Gästen, die vor die Tür gekommen sind. Wir steigen über das Absperrband.
Direkt neben mir liegen zwei Menschen auf dem kalten Asphalt.
Zwei junge Männer. Ich kann nicht erkennen, wie alt sie sind. Ich kann ihre Gesichter nicht mehr erkennen. Aber die Jeans sind recht modisch, mit extra Rissen im Stoff, so wie sie Zwanzigjährige tragen. Die beiden Männer sind ziemlich muskulös, zwei richtige Bodybuilder. Die Sanitäter kauern neben ihnen. Sie haben ihnen schon einen Tropf angelegt. Die Köpfe der Männer sind blutverschmiert. Unter den Köpfen hat sich eine Blutlache gebildet.
Ich muss den Blick abwenden.
Zwei Meter neben mir sehe ich einen großgewachsenen Polizisten. Eine schwarze Polizeilederjacke spannt sich über sein breites Kreuz. Ich kenne ihn. »Falle« nennen ihn die Kollegen. Er ist hier der Einsatzleiter. Falle ist einer dieser Menschen, für die das Wort »natürliche Autorität« erfunden wurde. »Brauchen keine weiteren Wagen«, spricht er mit ruhiger Stimme ins Funkgerät. Dann schickt er zwei weitere Kollegen zur Tür der Bar. Spricht wieder ins Funkgerät. Dirigiert zwei andere zur Straße hin. Ich weiß nicht, woher diese Männer die Ruhe nehmen, um in einem solchen Moment die Übersicht zu behalten.
Wieder zieht es meinen Blick zu den beiden Halbtoten.
Nadeln stecken in ihren Unterarmen, daran Schläuche, die zum Tropf führen. In den Flaschen des Tropfes sind kleine Bläschen zu sehen, die langsam zum Schlauch wandern. Die Köpfe der beiden Männer: wie rote Kugeln sehen sie aus.
Was liegt da eigentlich neben ihnen auf dem Boden? Zwei Baseballschläger.
Sie sind zerbrochen.
Wer kann so brutal zuschlagen, dass er einen Baseballschläger am Kopf eines Menschen zerbricht? Meine Gedanken rasen. Was macht meine Familie gerade? Wie geht es meinen Kindern? Meine Gedanken treiben davon.
Falles Stimme ist wie ein Anker für mich. Ich höre, wie er irgendwas ins Funkgerät spricht. Mein Blick wandert wieder rüber zu ihm.
Zwei Beamte, die in der Bar waren, kommen auf ihn zu. »Die Gäste dort sagen, dass niemand rein- oder rausgegangen ist, nachdem die beiden Opfer vor die Tür getreten sind. Sie behaupten, die Täter müssen von der Straße gekommen sein.«
»Okay«, sagt Falle nur. Seine Stimme ist sehr dunkel. Sie hat etwas Beruhigendes. Ich versuche, mich an dieser Stimme festzuhalten.
Einfach nur zu Falle rüberschauen!
Diese beiden Männer, die neben mir liegen. Überleben sie es? Sind sie vielleicht schon tot?
Mein Kopf hat sich schon wieder wie von selbst in ihre Richtung gedreht. Man sieht nicht, dass sich ihr Brustkorb hebt oder senkt. Man hört nichts. Kein Stöhnen.
Falles ruhige Stimme: »Gut, dann schicken wir noch drei nach hinten.«
Aber ich kann meinen Blick nicht mehr abwenden. Wo sind die Augen in diesen blutenden Gesichtern? Da: Der eine hat seine Augen geschlossen. Und die des anderen? Sind offen. Man sieht nur das Weiße. Er hat seine Pupillen komplett nach oben gedreht. Jetzt höre ich doch etwas. Ein Röcheln. Das Weiße in den Augen? Was bedeutet das?
Oskar hat sich neben mich gestellt. Er hat wohl meinen Blick gesehen und meine Frage erraten. »Der steht kurz vor dem Ende«, sagt er. »Komm, du gehst nach hinten zu Cooper und Andi.«
Ich löse meinen Blick von den zerschlagenen Gesichtern und gehe.
Cooper und Andi warten im Hinterhof, wo der Parkplatz der Bar liegt. Dort ist eine Stahltür. Der Notausgang. Vielleicht sind die Täter doch noch im Gebäude und wollen sich dort hinausschleichen. Ich stelle mich etwas abseits. Ich will kurz für mich alleine sein.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagestanden habe, als Oskar zu uns nach hinten kommt. »Wir fahren los. Die Täter sind nicht mehr hier.«
»Das war eine Fehlinformation, dass die Täter noch im Objekt sind«, sagt Oskar später im Wagen. »Keiner will etwas gesehen haben.« Er sagt es ganz gelassen. Es ist Routine, dass mal wieder keiner etwas gesehen haben will. »Was war da wohl los?«, frage ich. »Wahrscheinlich geht es um Drogen«, sagt Oskar.
Doch weder die Täter noch der genaue Tathergang können im Anschluss ermittelt werden. Die beiden Opfer werden den Angriff erstaunlicherweise überleben. Aber wir wissen nicht, in welchem Zustand.
Wir sprechen nicht mehr viel in den restlichen beiden Stunden unserer Schicht. Aber wir fahren noch einmal an der Shisha-Bar vorbei. Das Blut auf dem Gehsteig hat jemand weggewaschen. Vor der Tür stehen ein paar Gäste.
Sie rauchen und lachen.
Ich schlafe kaum in dieser Nacht, nachdem ich nach Hause gefahren bin. Es wird nicht die letzte Nacht sein, in der mich die Dinge nicht loslassen, die ich mit den Fahndern erlebe. Eigentlich sollten es nur ein paar Wochen sein, die ich sie begleite, um mich auf meine Rolle vorzubereiten. Aber was ich mit ihnen in dieser Zeit erlebt habe, hat mich so sehr gefesselt, dass ich die Fahnder eines Tages gefragt habe, ob wir nicht ein Buch über ihre Arbeit machen wollen. Sie stimmten zu.
So werden aus ein paar Wochen zwei Jahre. Zwei Jahre, in denen ich den ganz normalen Wahnsinn ihrer Arbeit miterlebe.
Mittlerweile habe ich sogar einen eigenen Codenamen, den sogenannten Arbeitsnamen, bekommen. Eines Tages, als wir mit dem ganzen Team eine Kaffeepause auf einem Parkplatz machten, sagte Oskar zu mir: »Wir müssen mal was ohne dich besprechen.« Ich stand da, schlürfte meinen Kaffee aus dem Pappbecher und sah zu, wie die acht Männer die Köpfe zusammensteckten. Dann kam Oskar zurück. »So, ab jetzt heißt du Päckchen.« Das Päckchen, auf das die Fahnder aufpassen. Die Codenamen sind oft mit liebevollem Spott gewählt. »Oskar« bekam zum Beispiel seinen Namen, weil er bei einem Einsatz in einer Kita mal in einen großen Abfallbehälter voller Windeln stürzte und von selbst nicht mehr rauskam: Seitdem heißt er wie das gleichnamige Pelztier, das in der Sesamstraße in der Mülltonne haust.
Nun, das Päckchen hat auch viel Spaß mit ihnen. Neulich wurden wir sogar angehalten.
Das haben Sie richtig verstanden: WIR wurden kontrolliert.
Wieder mal Großalarm. Diesmal sind es Einbrecher. Eine Lagerhalle in Billbrook ist ausgeräumt worden. Zeugen haben einen dunklen Kombi davonbrausen sehen. Streifenwagen aus dem ganzen Gebiet werden zusammengezogen und fahren durchs Viertel auf der Suche nach Einbrechern in einem dunklen Kombi. Alle Zivilfahnder sind auf der Straße, auch Ivan und Oskar – mit mir auf der Rückbank.
Der Funk in unserem Wagen überschlägt sich. Zeugen wollen gesehen haben, dass vier Männer in den dunklen Kombi gestiegen sind. Auf der Horner Landstraße haben Polizisten einen Volvo kontrolliert, aber die Insassen kamen nur von einer Hochzeit. Und irgendein Beamter in irgendeinem Streifenwagen meldet nun, dass er gleich einen verdächtigen Wagen überprüfen wolle. »Dunkelblauer Passat. HH-TT-19738. Horner Landstraße«, gibt der Polizist durch.
Dunkelblauer Passat? HH-TT-19738? Lustig: Den Wagen sehen wir auch. Und zwar von innen.
Im Rückspiegel entdeckt Ivan auch schon den Streifenwagen, der zu uns aufschließt. Ein Auto der Bereitschaftspolizei, das zur Unterstützung nach Billstedt gekommen ist. Darum kennt der Fahrer unseren Dienstwagen auch nicht. Verdächtigt der Kollege uns etwa, Einbrecher zu sein?
Schön, dass man uns nicht so leicht als Polizisten identifiziert.
Ein Funkspruch von Oskar würde zwar genügen, um das Missverständnis aufzuklären, aber diesen Spaß gönnen wir uns. Der Streifenwagen blendet auf. Auf der LED-Leiste zwischen den Blaulichtern erscheint in Leuchtschrift »STOPP POLIZEI«.
Ivan fährt rechts ran. Die beiden Uniformierten steigen aus ihrem Wagen.
»Papiere bitte.«
»Oh. Hab ich nicht«, sagt Ivan und wendet sich Oskar zu. »Hast du die Papiere?«
»Nö.«
»Und du, Marek?«
»Äh, nö.«
Das findet der uniformierte Kollege nicht ganz so lustig. Er holt tief Luft. Aber dann lacht Ivan los. »Wir sind Peter 42/21. PK...