Max Winter (1870–1937)
Leben und Werk
Max Winter wurde am 9. Jänner 1870 in Tárnok bei Budapest geboren. 1873 übersiedelte die Familie nach Wien, wo die Mutter als Modistin, der Vater als Oberoffizial bei der Staatsbahn arbeitete. Winter verließ nach der vierten Klasse das Gymnasium und absolvierte eine Kaufmannslehre. Seine späteren Studien der Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien beendete er nicht. Als Zwanzigjähriger begann er seine journalistische Laufbahn, zunächst beim Neuen Wiener Journal. Victor Adler holte ihn 1895 zur Arbeiter-Zeitung, dem Parteiorgan der Sozialdemokraten, für die er bis zu seiner Emigration und zum Verbot der Zeitung 1934 mehr als tausendfünfhundert Reportagen verfasste. Von 1914 bis 1918 war er zudem Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung am Abend.
1923 sollte Winter im Vorfeld zur Nationalratswahl eine Frauenzeitschrift gestalten. Sie war als Wahlkampfmittel gedacht und sollte nach der Wahl wieder eingestellt werden. Die von Winter gegründete Zeitschrift Die Unzufriedene war jedoch so erfolgreich, dass an eine Einstellung nicht mehr zu denken war: Als er 1930 die Chefredaktion an Paula Hons übergab, lag die Auflage bei 160.000 Exemplaren; Die Unzufriedene wurde im Februar 1934 verboten. Im Verlag der Unzufriedenen erschienen auch die von Max Winter ausgewählten »Wiener Groschenbüchel«, die den Armen Zugang zu hochwertiger Literatur zum Beispiel von Gottfried Keller ermöglichen sollten.
Winters sozialreformerisches Engagement blieb nicht nur auf den Journalismus beschränkt. Er baute die 1908 in Graz gegründete Kinderfreunde-Bewegung als deren Obmann aus, 1925 wurde er Präsident der Sozialistischen Erziehungs-Internationale. Mit seiner »Aktion Mühlstein« konnte er 1925 in ganz Österreich Kinderbibliotheken errichten. Auch als Quereinsteiger in die Politik war er erfolgreich: 1908 kandidierte er für den Wiener Landtag, von 1911 bis 1918 war er sozialdemokratischer Abgeordneter zum Reichsrat, von 1919 bis 1923 einer der drei Vizebürgermeister der Stadt Wien. Bis 1930 blieb er Mitglied des Bundesrats, in diesem Jahr wurde er von Bürgermeister Seitz zum »Bürger von Wien« ernannt.
Nach dem Verbot der sozialdemokratischen Partei im Februar 1934 gelang es Winter, Wien zu verlassen. Über Zürich, Paris und London gelangte er nach Amerika, wo er Vorträge über die Situation in Österreich hielt. Am 4. März 1934 sprach er in der Carnegie Hall vor dreitausend Zuhörern und nannte dabei Dollfuß einen »Arbeitermörder«. Ein Angehöriger des österreichischen Konsulats machte davon Meldung, und am 17. Dezember 1934 wurde Max Winter wegen »österreichfeindlichen Verhaltens im Ausland« ausgebürgert.
In den USA konnte er weder journalistisch noch als Vortragender Fuß fassen. Erfolglos schrieb er Drehbücher, die er an Max Reinhardt (»The struggle for sun«) und an Charlie Chaplin schickte, er bot sich als Märchenerzähler (»Großvater erzählt«) Kindergärten an. Zu einem bescheidenen Einkommen kam er durch die Gründung der Californischen Korrespondenz, die er bald in Cosmopolitische Korrespondenz umtaufte. Einige europäische Zeitungen gingen ein Abonnement ein, Winter lieferte dafür monatlich zwei Feuilletons und vier bis acht Notizen. Am 11. Juli 1937 starb Max Winter einsam und verarmt in einem Krankenhaus in Hollywood. Als er im September auf dem Matzleinsdorfer Friedhof in Wien beigesetzt wurde, wohnten – obwohl das Begräbnis geheim hätte bleiben sollen – Tausende Menschen und ein riesiges Polizeiaufgebot der Bestattung bei. Auf seinem Grabstein steht die Inschrift:
Sein Wort sprach für Freiheit und Recht.
Seine Feder diente den Verkannten und Enterbten.
Sein Herz aber schlug für die Kinder.
Winters Werk zeichnet sich durch eine beeindruckende Vielfalt der Genres aus: Neben seinen Reportagen und Büchern schrieb er Gedichte, Märchen und Bühnenstücke wie »Eine g’sunde Person« (1905), gemeinsam mit Stefan Grossmann, und »Bettelleut« (1906), die mit einigem Erfolg in mehreren Theatern gespielt wurden, aber in Vergessenheit geraten sind. Auch einen Roman hat Max Winter verfasst, in dem sich alle seine Wünsche und Ziele als soziale Utopie verwirklicht finden. 1932 erschien dieses Buch in Berlin unter dem Titel: »Die lebende Mumie. Ein Zukunftsroman aus dem Jahr 2025« Der Plot: Ein Mann verfällt 1925 in einen Tiefschlaf, aus dem er erst hundert Jahre später erwacht. Er findet sich in einer veränderten Welt wieder, in den Wohnzimmern stehen Fernsehapparate (!), ohne Hunger, Not und Unterdrückung leben die Menschen friedlich in einem »Vereinten Europa« …
Max Winter ist erst in den 1980er Jahren als Pionier und Meister der Sozialreportage wiederentdeckt worden. Seine Arbeiten hatten das Genre sowohl thematisch als auch methodisch und formal entscheidend weiter entwickelt. Er publizierte manche seiner Reportagen – nicht selten in veränderter, erweiterter Form, um- und neuformuliert, mit zusätzlichen Details, Fakten und Ermittlungsergebnissen versehen – in Buchform. Winter besaß weit über die Grenzen des Landes Reputation als Reporter. Der Berliner Autor und Journalist Hans Ostwald leitete zwischen 1904 und 1908 das größte Projekt der Stadtforschung im deutschsprachigen Raum, dessen Ergebnisse er als fünfzigbändige Buchreihe unter dem Titel »Großstadt-Dokumente« herausgab. Dabei wurden unterschiedliche Modelle der Beschreibung der Großstadt – literarische, journalistische und sozialwissenschaftliche – erprobt. Aus Österreich lud er Felix Salten und Max Winter zur Mitarbeit ein. Winter veröffentlichte in der Reihe zwei Bände mit Reportagen, »Das goldene Wiener Herz« (1904 als Band 11) und »Im unterirdischen Wien« (1905 als Band 13 der Reihe). Winter beeinflusste Generationen von Reportern und wird heute wieder in Lehrbüchern als Vorbild präsentiert.
Historiker erkennen in seinen Sozialreportagen Vorläufer und Quellen für moderne Alltagsgeschichtsforschung. Mit ihren intimen Berichten aus dem Alltag korrigieren sie manchmal, illustrieren aber immer das Bild der akademischen Geschichtsschreibung: »Das bezeichnet auch ihre animatorische Wirkung: Zwischen literarischer und wissenschaftlicher Aneignung der Wirklichkeit stehend verhalten sich die Sozialreportagen zur Sozialwissenschaft wie Reisebeschreibungen zu einer Landkarte; lebendiger also sind sie allemal.« (Riesenfellner 1987: 8)
Sein journalistisches Programm hieß Aufklärung und Aufdeckung. Er war bestrebt, Missstände durch stringente Beweisführung aufzuzeigen, Verantwortliche zu nennen und Verbesserungen zu erzwingen. Er wollte das öffentliche Gewissen aufrütteln und Veränderungen erreichen.
Ausgewählte Bücher Max Winters
Winter, Max: L. S. W. Ein Tag Lagerhausarbeiter! Die Klagen und Plagen der Quaiarbeiter! Wien 1900.
Winter, Max: Zwischen Iser und Neisse. Bilder aus der Glaskleinindustrie Nordböhmens. Mit einem Vorwort von Robert Preußler. Hrsg. von der Union aller Glas-, keramischen und verwandten Arbeiter Österreich-Ungarns. Wien 1900.
Winter, Max: Im Purzlinerlandl. Eine Studie über das Leben der nordwestböhmischen Porzellanarbeiter. Wien 1901.
Winter, Max: Im dunkelsten Wien. Strottgänge. Wien 1904.
Winter, Max: Das goldene Wiener Herz. Hg. von Hans Ostwald.
Berlin 1905. (= Großstadtdokumente; 11)
Winter, Max: Im unterirdischen Wien. Berlin 1905. (= Großstadtdokumente; 13)
Winter, Max: Meidlinger Bilder. Wien 1908.
Winter, Max: Der Fall Hofrichter. Aus dem Notizbuch eines Journalisten. München 1910.
Winter, Max: Ich suche meine Mutter. Die Jugendgeschichte »eines eingezahlten Kindes«. Diesem nacherzählt von Max Winter. München 1910. (= Lebensschicksale; 3)
Winter, Max: Soziales Wandern. Wien 1911.
Winter, Max: Höhlenbewohner in Wien. Brigittenauer Wohn- und Sittenbilder aus der Luegerzeit. Wien 1927. (= Wiener Groschenbüchel; 14/15)
Winter, Max: Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025. Berlin 1929.
Bibliografie der Reportagen Max Winters
Schroth, Hans: Max Winter. Beiträge in der »Arbeiter-Zeitung«. Teil I: 1896–1912. In: Archiv 1/1983, S. 45–48; Teil II: 1913–1922. In: Archiv 2/1983, S. 68–71; Teil III: 1923–1933. In: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 2/1983, S. 89–92.
Werkauswahl
Helmut Strutzmann (Hrsg.): Max Winter: Das schwarze Wienerherz. Sozialreportagen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wien 1982.
Riesenfellner, Stefan (Hg.): Arbeitswelt um 1900. Texte zur Alltagsgeschichte von Max Winter....