Einleitung: Bewusst leben und entscheiden
Du verstehst mich einfach nicht. Du hörst nie zu, oder?
Wie konnte ich nur schon wieder so einen blöden Fehler machen? Anscheinend lerne ich nie dazu.
Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Es gibt zu viele Wahlmöglichkeiten.
Er ist einfach ein Idiot, der nur an sich selbst denkt.
Was empfinden Sie, wenn Sie diese Äußerungen lesen? Versetzen Sie sich in die Menschen hinein, die sie machten. Wie reagiert Ihr Körper? Fühlen Sie sich angespannt oder nervös? Werden Sie ängstlich, traurig, wütend oder verwirrt? Wenn ja, ist das nicht verwunderlich. Obwohl es in jeder Äußerung um etwas anderes geht, enthalten alle ein Urteil. Sie offenbaren Kommunikationsprobleme und eine kritische oder vorwurfsvolle Haltung gegenüber anderen oder der eigenen Person. Und niemand wird gerne verurteilt – nicht einmal von sich selbst. Zudem wird in keiner Äußerung auf die Hauptursache der Spannungen und Missverständnisse eingegangen, sodass es keinen klaren Weg zur Lösung des bestehenden Problems gibt.
Lesen Sie nun die folgenden Äußerungen, in denen es um dieselben Dinge geht wie in den obigen, und zwar in derselben Reihenfolge. Diesmal bringen die Menschen konkret zum Ausdruck, was sie denken oder fühlen.
Ich bin frustriert. Meiner Erinnerung nach habe ich das so nicht gesagt. Und ich schätze Genauigkeit.
Das ist schon das zweite Mal in diesem Jahr, dass ich vergessen habe, meine Visa-Rechnung zu bezahlen. Ich hasse es, Mahnungen zu bekommen, und ich bin wirklich bestrebt, meine persönlichen Angelegenheiten mit der nötigen Sorgfalt zu regeln.
Nun, da ich sehe, dass es 22 verschiedene Kurse gibt, die alle die Prüfungsanforderungen erfüllen, fühle ich mich ganz erschlagen. Ich weiß wirklich nicht, für welchen ich mich entscheiden soll.
Ich bin wütend. Mein Mitbewohner hat gerade 25 Minuten lang geduscht, und jetzt ist kein heißes Wasser mehr übrig. Etwas mehr Rücksichtnahme und Achtsamkeit würde ich mir schon wünschen!
Beim Lesen dieser Äußerungen spüren Sie vielleicht, dass Sie anders reagieren als vorhin. Fühlen Sie sich entspannter und wohler? Empfinden Sie mehr Wohlwollen und Verständnis für die Menschen, die diese Äußerungen machten, und eine stärkere Verbundenheit mit ihnen – besonders wenn Sie lesen, was sie wollen (Genauigkeit, Sorgfalt, Klarheit und Rücksicht)? Stellen Sie fest, dass Sie für die geäußerten Wünsche offener sind und eher bereit wären, auf sie einzugehen?
In den letzten Äußerungen übernehmen die Menschen Verantwortung für ihre Erfahrungen. Statt Urteile zu fällen (die oft kaum Informationen liefern), beschreiben sie mit klaren Worten, was sie stört, was sie empfinden und was sie wollen.
Diese Gegenüberstellung von Äußerungen illustriert die Techniken, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen werden: Wie kommuniziert man, ohne zu werten oder zu urteilen, und wie beschreibt man die eigenen Erfahrungen auf eine Art und Weise, die bei allen Beteiligten die Bereitschaft fördert, anderen zuzuhören und Verständnis für ihre Anliegen aufzubringen? Darum geht es in der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), die auch Mitfühlende Kommunikation genannt wird.[1]
Wir machen Sie nicht nur mit diesen Techniken vertraut, sondern stellen Ihnen gleichzeitig eine Sicht der Welt und der menschlichen Beziehungen vor, die auf eine vielfältige und tief greifende Weise zu einem harmonischen Miteinander von Einzelpersonen oder Gruppen beiträgt. Die hier präsentierten Kommunikationswerkzeuge und die ihnen zugrunde liegende Weltsicht ergänzen und verstärken sich in ihrer Wirkung. Zusammen fördern sie ein empathisches Denken und Bewusstsein, eine mitfühlende Art, die Welt zu sehen und auf ihr zu leben.
Verschieden und doch gemeinsam
Vom GFK-Ansatz ausgehend untersuchen wir die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen. Als Lebewesen haben wir alle zahlreiche körperliche Bedürfnisse. Unter anderem brauchen wir Nahrung, Luft, Wasser und Schlaf. Wir brauchen Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Wir möchten vor gesundheitlichen Gefahren geschützt sein. Wir brauchen Wärme, Zuneigung, Nähe, Zärtlichkeit und Körperkontakt. Und wir haben sexuelle Bedürfnisse.
Abgesehen von unseren körperlichen Bedürfnissen gibt es bestimmte Eigenschaften und Werte, die wir Menschen schätzen und zum Ausdruck bringen möchten. Zum Beispiel Ehrlichkeit, Authentizität und Integrität, Gemeinschaft und Verbundenheit, Autonomie, Toleranz und Entscheidungsfreiheit. Die meisten von uns schätzen, zumindest in gewissen Situationen, Effizienz, Effektivität, Bewegung und Sorglosigkeit. Es gibt noch zahlreiche andere Bedürfnisse, wie die nach Ordnung, nach Schönheit und nach Sinn, die, wenn sie erfüllt werden, zu unserem Wohlbefinden beitragen. Auch Gegenseitigkeit, Freundschaft und Rücksicht können als wichtige menschliche Grundbedürfnisse betrachtet werden. Und das sind noch längst nicht alle.
Was schätzen Sie in Ihrem eigenen Leben? Was ist Ihnen wichtig, insbesondere in Bezug auf andere? Vielleicht schätzen Sie Freundlichkeit, Mitgefühl, Rücksicht, Autonomie und die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie Sie leben wollen. Vielleicht auch Unterstützung, Selbstverwirklichung und Verantwortung. Und vermutlich sind Ihnen Würde, Verständnis, Ehrlichkeit und Vertrauen ebenfalls wichtig. Es gibt wahrscheinlich noch viele weitere Werte, die Sie schätzen. Stellen Sie sich einmal vor, wie hart es wäre, durchs Leben zu gehen, ohne diese Qualitäten je zu erleben. Das wäre, als würde man eine öde Wüste durchqueren. Diese Qualitäten helfen uns, ein erfülltes Leben zu führen und ganz und gar lebendig zu sein.
Halten Sie nun einen Augenblick inne und denken Sie an Ihre Angehörigen, Freunde, Kollegen und Leute, denen Sie im Vorbeigehen auf der Straße begegnen. Ist unter diesen Menschen irgendwer, dem es nicht gefallen würde, die erwähnten Qualitäten zu erleben? Gibt es auf der Welt irgendwen, der Nahrung, eine schützende und behagliche Unterkunft, Wärme, Rücksicht, Mitgefühl, Unterstützung, Respekt und Wohlbefinden nicht schätzen würde? All das schätzt und will jeder Mensch, egal, wo er lebt oder welchem Kulturkreis er angehört. Es sind universelle Grundbedürfnisse, die wir alle gemeinsam haben, auch wenn wir sie auf unterschiedliche Weise zu befriedigen suchen und zu unterschiedlichen Zeiten oder unter unterschiedlichen Umständen verspüren. Das ist das Thema, mit dem wir uns in diesem Buch näher beschäftigen wollen.
Bedürfnisse verstehen und berücksichtigen
Wir sind uns also einig, dass wir alle Bedürfnisse haben. Das zu erkennen ist der einfache Teil. Dieses Wissen anzuwenden, es zu nutzen, um eine mitfühlendere Welt zu schaffen, ist schwieriger. Wie befriedigen wir unsere Bedürfnisse auf eine Weise, die unseren Wünschen, Werten und Lebensvorstellungen entspricht? Wie kann es gelingen, den Bedürfnissen aller Menschen gerecht zu werden? Und dann ist da noch ein Rätsel zu lösen: Wenn wir so vieles gemeinsam haben, warum kommt es zwischen uns dann so oft zu Meinungsverschiedenheiten, Missverständnissen und Konflikten?
Das sind die Fragen, denen wir in diesem Buch nachgehen, indem wir uns mit zwei Grundprinzipien auseinandersetzen. Das erste lautet: Wenn wir Differenzen haben oder das Gefühl, dass uns Welten voneinander trennen, dann deshalb, weil wir uns uneinig sind, mit welchen Strategien bestehende Bedürfnisse befriedigt werden können; uneinig darüber, was wir in bestimmten Situationen tun wollen. Um trennende Differenzen zu überwinden und einen Konflikt gemeinsam zu lösen, müssen wir zuerst die Bedürfnisse hinter unseren verschiedenen Strategien erkennen. Dazu müssen wir einander wirklich zuhören und verstehen, indem wir uns auf unsere gemeinsamen Werte besinnen. Wenn es uns auf diese Weise gelungen ist, die Bedürfnisse aller Beteiligten zu ermitteln – und zu diesem Zweck wurden die Techniken in diesem Buch entwickelt –, können wir neue Strategien finden, die wesentlich befriedigender, bereichernder und einheitsstiftender sind. Wenn alle Beteiligten die Erfahrung machen, dass die anderen ihnen zuhören und ihre Bedürfnisse ernst nehmen, ergeben sich gewöhnlich wie von selbst Strategien, die alle zufriedenstellen.
Das zweite Prinzip lautet: Sich mit anderen zu verbinden und zu ihrem Wohl beizutragen sind instinktive menschliche Verhaltensweisen, die selbstbelohnend sind. Glauben wir an dieses zweite Prinzip – also dass es befriedigend ist, zum Wohl anderer beizutragen –, dann wird es viel einfacher, Win-win-Lösungen zu finden, die den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht werden.
Der Selbsttest
Haben Sie Zweifel am zweiten Prinzip? Falls ja, dann schlagen wir Ihnen vor, es in Ihrem eigenen Leben zu testen. Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und überlegen Sie sich, wann Sie das letzte Mal zum Wohl eines anderen Menschen beigetragen haben. Vielleicht erklärten Sie jemandem, der sich verirrt hatte, den Weg, halfen einem Kind bei einer Aufgabe, taten etwas Nettes für Ihr Haustier oder erledigten etwas für einen Freund. Vielleicht hörten Sie einem Menschen, der Ihre Gesellschaft suchte, aufmerksam zu. Vielleicht erzählten Sie einen Witz und bereicherten so den Tag mit etwas Humor und Kreativität. Oder vielleicht brachten Sie einem anderen Menschen gegenüber Dankbarkeit, Liebe oder Anerkennung zum Ausdruck.
Denken Sie nun darüber nach, wie Sie sich fühlten, als Sie auf die eine oder andere Weise zum Wohl eines anderen Menschen beitrugen. Was spüren Sie in Ihrem Körper, wenn Sie sich an diese Situation erinnern?...