Bergsteigerbrüder
Mitte der 1980er Jahre war Gerfrieds Bruder Wolfgang in die Fußstapfen von Vater Rainer getreten. Nach der Hauptschule hatte er zunächst Maschinenschlosser gelernt und mit 15 Jahren intensiv zu klettern begonnen. Auf Routen im Gesäuse und Winterbegehungen der dortigen Nordwände folgten wenig später die ersten Westalpenfahrten und mit Beginn der 1990er Jahre dann die ersten Expeditionen in die großen außeralpinen Gebirge. Nach einer viermonatigen Tour durch Südamerika mit Besteigung des Aconcagua (6961 m) in den Anden und einer Neuroute am Huayna Potosí (6088 m) in Bolivien ging es in den pakistanischen Karakorum. Wo Vater Rainer 25 Jahre zuvor Siebentausender erstbestiegen hatte, probierte sich nun Sohn Wolfgang an technisch extrem schwierigen Anstiegen in großer Höhe. 1991 erfolgte, gemeinsam mit Christian Stangl, zunächst ein Versuch der Zweitbesteigung des berüchtigten Ogre (7285 m) im pakistanischen Karakorum. Zwei Jahre darauf versuchten sich beide zusammen mit Andreas Hollinger und Thomas Strausz am mächtigen Südwestpfeiler des Latok II (7108 m). Und nach zwei Winterbesteigungen in den Anden 1998 ging es im Folgejahr dann auf die erste „Familienexpedition” mit Vater Rainer und Bruder Gerfried.
Gerfried hatte in der Zwischenzeit rasch an Erfahrung gewonnen (und an Gewicht verloren), wobei ihm das bergsteigerische Umfeld in der Familie natürlich sehr zugute kam. Zunächst begleitete er Rainer und Wolfgang auf Skitouren (die „harte Schule des Vaters” schien vergessen), bald folgten die ersten alpinen Klettertouren im Gesäuse – einige davon, wie die Nordostwand der Planspitze, mit dem jüngeren Bruder Sieghard.
Sieghard, geboren 1979, hatte es anfangs unter seinem größeren Bruder nicht leicht gehabt – denn Gerfried war wie wohl die meisten älteren Geschwister auf den Nachkömmling eifersüchtig. „Er hat mich als Kind lange sekkiert, bis ich körperlich in der Lage war, ihm die Stirn zu bieten”, erinnert sich der Jüngere. „Wolfgang als der ältere Bruder hat mir immer geholfen – und Gerfried war derjenige, der immer gestichelt und den kleinen Bruder zur Weißglut gebracht hat!” Erst als Sieghard ein Teenager war, entwickelte sich zwischen den beiden Brüdern ein enges und herzliches Verhältnis.
Zur damaligen Zeit war Sieghard bereits viel mit dem Alpenverein unterwegs, widmete sich mit 16 dann aber dem Wildwasserkajakfahren. Als er nach drei Jahren Pause wieder mit dem Bergsteigen begann, hatte auch Gerfried daran Gefallen gefunden und die beiden unternahmen etliche Touren gemeinsam.
Wie Gerfried durchlebte auch Sieghard beruflich die „Wechseljahre” und absolvierte mehrere Ausbildungen. Nach dem Abschluss an der Land- und forstwirtschaftlichen Fachschule als Forstwirt schloss er eine Elektrikerlehre ab und arbeitete als Monteur von Handymasten, bevor er schließlich als Zimmermann seine Erfüllung fand. „Das war übrigens ein weiterer Reibungspunkt zwischen meinem Bruder und mir, der Konflikt zwischen Pädagoge und Handwerker!”, meinte Sieghard lachend. „Als Handwerker hatte Gerfried manchmal schon zwei linke Hände.”
Einmal rief Gerfried Sieghard zu sich in seine Wohnung. Der Siphon in der Küche tropfe. Ob er sich das einmal anschauen könne. Sieghard kroch in den Küchenschrank, baute den defekten Siphon aus und reichte ihn Gerfried mit der Bitte, ihn im Waschbecken auszuspülen. Was Gerfried prompt tat – und zwar genau in dem Becken, an dem Sieghard gerade den Siphon abgeschraubt hatte … „So viel zum handwerklichen Geschick meines Bruders!”
Großer und kleiner Bruder: Wolfgang (o.) und Sieghard (u.) Göschl
»Wir können ja etwas!«
In Anlehnung an die Biografie des berühmten französischen Bergsteigers Lionel Terray (1921-1965)2 wird Bergsteigen gerne als „Eroberung des Unnützen” bezeichnet, als Kunst um der Kunst willen, ohne praktischen Wert. Doch dies trifft nur bei oberflächlicher Betrachtung zu. Gerfrieds Vater Rainer diente das Bergsteigen in seiner Jugend als Quelle von Erfolgserlebnissen, die ihm anderswo fehlten. Gerfried hingegen, dem es als Jugendlichen nicht an Selbstvertrauen, sondern allerhöchstens an Orientierung gefehlt hatte, ging einen Schritt weiter. Er trug den persönlichen Nutzen und Wert des Bergsteigens nach außen und gab ihn weiter – schon mit seiner ersten beruflichen Tätigkeit.
Noch vor Abschluss seines Lehramtsstudiums begann Gerfried im Februar 1998 in der Kinder- und Jugendwohngemeinschaft „Heilpädagogisches Wohnen Meißner GmbH” zu arbeiten. Die Einrichtung mit Hauptsitz in Rottenmann betrieb dort und in der Umgebung mehrere Wohngruppen für Kinder und Jugendliche, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihren Familien leben konnten: Waisen, Opfer von häuslicher Gewalt und Missbrauch, und andere.
Damals befand sich die Institution noch in der Aufbauphase und suchte Mitarbeiter. Elmar Steiner, der bereits in der Wohngruppe im Admonter Sonnenweg tätig war, empfahl Gerfried. Nicht zuletzt durch ihre Freundschaft fand sich Gerfried leicht in das neue Arbeitsumfeld ein. „Weil wir uns kannten und alles sagen konnten, gab es keine Abstimmungsprobleme”, so Elmar. „Wir waren auch hier ein super Team.”
In der übrigen Gruppe tat er sich als starke Persönlichkeit hervor. War Gerfried von etwas überzeugt, stand er dafür ein, auch wenn er sich dazu mit Vorgesetzten anlegen musste. Daneben kam bei der Arbeit ein weiterer Wesenszug von Gerfried zu tragen: seine hundertprozentig positive Grundhaltung. Selbst bei äußerst bedrückenden Fällen oder harten Konflikten versuchte Gerfried, das Positive zu betonen und dort beim Umgang mit den betreffenden Kindern anzusetzen – nach dem Motto: „Was können wir trotzdem machen, damit es aufwärts geht?”
Der kreuztragende Sozialpädagoge
Was Elmar Steiner erst bei einer späteren Gelegenheit erzählt, war Gerfrieds fulminanter Einstieg bei seinem Arbeitgeber. Kurz nach Unterzeichnung seines Arbeitsvertrags feierten er, Elmar und weitere den Polterabend eines gemeinsamen Freunds in ihrem Stammlokal „Pinguin” in Admont. Über die näheren Details der Feier sei an dieser Stelle zum Schutz der Beteiligten der Mantel der Verschwiegenheit gedeckt – den Höhepunkt erreichte sie jedenfalls, als stellvertretend für die bevorstehende „Last” des frisch vermählten Freundes ein großes Holzkreuz zusammengenagelt wurde, welches Gerfried ihm aufopferungsvoll abnahm. Als nun der Kreuzträger in nicht mehr ganz korrekt sitzender Kleidung und bedenklicher Schieflage durch die Straßen Admonts zog, passierte ihn ein Auto. Hinter dem Steuer saß – sein zukünftiger Chef! Aufkommende Bedenken über die Eignung des zukünftigen Sozialpädagogen Gerfried G. ließen sich in der Folge in einigen erklärenden Gesprächen ausräumen …
Gegenüber den Kindern zeigte sich Gerfried einerseits sehr warmherzig und einfühlsam, auf der anderen Seite aber sehr strikt, was das Einhalten von Vorgaben betraf. „Nach ein, zwei Ansagen gab es bei Gerfried keine weiteren Diskussionen mehr. Das haben die Kinder gewusst – und genau das haben sie auch an ihm geschätzt!”
Schnell wurde deutlich, dass Gerfried zu den ihm anvertrauten Kindern einen guten Zugang fand und einen positiven Einfluss auf sie hatte. Sie bewunderten ihn, wenn er von seinen Bergabenteuern erzählte, und er war außerordentlich beliebt. Wann immer er zum Wohnhaus kam, sein Auto war noch nicht einmal geparkt, kamen die Kinder schon angerannt und freuten sich auf ihn. „Görf, Görf!’”
Seine Beziehung zu den Kindern intensivierte sich noch, nachdem Gerfried an der Fachhochschule in Frankfurt am Main eine zusätzliche Ausbildung zum Erlebnispädagogen absolvierte. Die dort gewonnenen Erfahrungen setzte er in Admont konsequent um. Oft kam es vor, dass er sich besonders schwierigen „Problemkindern” annahm, indem er sie aus der Gruppe herausnahm und mit ihnen zwei, drei Tage lang auf Bergtour ging. Und oft brauchten diese Kinder genau diese Tage, um Vertrauen zu fassen und sich zu öffnen – wodurch dann eine Verbesserung der Gesamtsituation ermöglicht wurde.
Ron Lampl war damals einer der Bewohner in der Wohngemeinschaft, den Gerfried betreute. Über den Sport entwickelte sich schnell eine Freundschaft, die über die Zeit in der WG hinausreichte. Auch in seiner Freizeit unternahm Gerfried mit Ron Klettertouren und andere Aktivitäten – und sie hielten auch nach Gerfrieds Wechsel in den Schuldienst Kontakt. „Gerfried war damals einer der wenigen Menschen, zu denen ich schnell Vertrauen gefunden habe”, meint Ron sichtlich bewegt in der Rückschau. „Er hat Menschen eine Chance gegeben – und eine zweite, eine dritte. Auch machte er nicht stets Dienst nach Vorschrift, sondern setzte sich auch mal über zu enge Grenzen hinweg. Das machte ihn natürlich interessant...