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Liebe und Sex in Zeiten der Untreue

Wege aus der Verunsicherung

AutorDirk Revenstorf
VerlagPattloch Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783629320810
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Es herrscht Unsicherheit in Sachen Liebe und Sex, weiß Dirk Revenstorf aus seinem Alltag als Psychologe und Therapeut. Denn heute ist Sexualität allgegenwärtig. Die alten Konventionen stimmen nicht mehr, und alles, was Spaß macht, ist erlaubt. Selbst Untreue ist kein Tabubruch mehr. »Sind unter diesen Bedingungen Liebe und Sexualität in dauerhaften Beziehungen überhaupt noch möglich?«, so fragen viele. Dirk Revenstorf ist überzeugt, dass die Paarbeziehung eine Zukunft hat. Er zeigt, wie wir all die Bilder, Erwartungen und Vorstellungen, die heute an uns herangetragen werden, hinter uns lassen und gemeinsam mit dem Partner eine erfüllte Beziehung entwickeln können.

Dirk Revenstorf, Jahrgang 1939, war bis zu seiner Emeritierung 2004 Professor für klinische Psychologie an der Universität Tübingen. Er arbeitete u.a. in München am Max-Planck-Institut für Psychiatrie und lehrte an Universitäten in Kalifornien, Israel und Mexiko. Derzeit leitet er die Akademie der Milton-Erickson-Gesellschaft für klinische Hypnose in Tübingen und gibt Seminare über Paartherapie, Hypnose, Traum und Verhaltenstherapie. Sein wissenschaftliches Engagement hat zur Reputation der Hypnotherapie im deutschsprachigen Raum entscheidend beigetragen. Revenstorf ist Gründungsmitglied der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie und war in diesem Rahmen als Lehrtherapeut tätig. Er wurde vielfach ausgezeichnet und hat eine Vielzahl von Büchern und Aufsätzen veröffentlicht, u. a. Wenn das Glück zum Unglück wird: Psychologie der Paarbeziehung (Beck 1999) und Die geheimen Mechanismen der Liebe. Sieben Regeln für eine glückliche Beziehung (Klett-Cotta 2008).

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Leseprobe

Zeiten der Untreue?


Gleichzeitig ist als Resultat der sexuellen Befreiung eine Kommerzialisierung der Sexualität zu verzeichnen, die in einem massiven Anstieg erotischer Angebote ohne Bindungsanspruch auf dem Markt sowie deren Konsum zum Ausdruck kommt. Die Enttabuisierung von Sex und die Priorisierung des Konsums führen dazu, dass sich der Markt den Blickfang sexueller Reize zur Werbung für zahlreiche Konsumgüter von der Zahnpasta bis zum Sportwagen zunutze macht. Frauen und nach ihnen auch Männer werden in der Werbung zu triebhaften Wesen stilisiert, die durch phantastische Körper und sexuell suggestive Posen auf oder mit oder in Konsumgütern beeindrucken; die entsprechenden Bilder und Videos werden in den Medien zur Schau gestellt, als wäre Sexualität außerhalb anderweitig wahrscheinlich auch vorhandener emotionaler Bezüge erwünscht und jederzeit verfügbar.

Dieser kulturelle Trend annullierte die Begrenzung der individuellen Selbstbestimmung durch die Gemeinschaft und durch die herkömmliche Moral, solange die Rechte anderer nicht verletzt werden. Der Gleichberechtigung der Frau und der sexuellen Freiheit konnte nichts mehr entgegengesetzt werden. Wer mit wem wann und wie Sex hat, ist reine Privatsache geworden. Das gilt für Männer und Frauen in homosexuellen und heterosexuellen Beziehungen – solange keine Abhängigkeitsverhältnisse missbraucht werden wie etwa bei Präsident Clintons oder General Petraeus’ Affären mit Angestellten oder Untergebenen.

Tabelle 1: Vom prokreativen Familiensex zum rekreativen Freizeitsex

 

Im Zuge der uneingeschränkten Nutzung der Sexualität in der Werbung und ihrer Liberalisierung in privaten Beziehungen wird sie selbst in das Konsumkontingent einbezogen und vermarktet. Angebote außerhalb der Familie sind als rekreative Freizeitsexualität im Gegensatz zu prokreativer Familiensexualität frei verfügbar und können abgekoppelt von emotionalen Bedürfnissen gelebt werden (siehe Tabelle 1). Exzessiv und billig im Porno-Internet, professionell durch erotische Dienstleistungen aller Klassen und durch unverbindliche Partnersuche und Kuppeldienste in entsprechenden Foren und Dating-Börsen, so wie die folgenden Anzeigen: [10]

  • Frischer fröhlicher intelligenter attraktiver u. gepflegter Mann 45, 1.85 sucht Frau mit ähnlichen Attributen, zw. 30 u. 45, der es vorwiegend um Lust u. Leidenschaft geht u. mit viel Spaß eine diskrete Affäre genießen möchte.

  • Oder: Reifer M 180, NR, NT sucht jüngere W für schöne Orgasmen.

In der Marktwirtschaft entwickelte sich der Begriff des Liberalismus extremer als in den übrigen gesellschaftlichen Kontexten. Und zwar als Maxime der Wirtschaftlichkeit, die als Gütesiegel des freien Marktes dessen Funktionieren garantieren soll und von moralischer Legitimation entbunden ist. [11] Sie wurde zum Götzen, dem sich der Staat und natürlich die Bürger unterzuordnen hatten. Der Staat erkennt die Wirtschaftlichkeit bereitwillig als tragenden Mechanismus an, um Arbeitsplätze zu erhalten und Steuern zu kassieren. Der Bürger verschließt sich dem nicht, weil er dem Eindruck verfällt, ihm widerfahre Gutes. Er wird zum Konsumenten gekürt, umworben mit Bildern, die suggerieren, dass er durch seine Kaufkraft sich der Gruppe von gutaussehenden Wesen zurechnen darf, die ihm in den Werbespots entgegenlächeln. Ohne Konsumenten keine Wirtschaftlichkeit; also muss der Konsum angeheizt werden. Die Kombination von sexueller Freiheit und Wirtschaftlichkeitsdenken führt wie erwähnt auch dazu, dass die Sexualität selbst vermarktet wird.

Freiheit, das in Programmformeln wie Einigkeit und Recht und Freiheit oder Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Freie Marktwirtschaft und Ähnlichem hochgehaltene Prinzip der letzten 200 Jahre, wird öffentlich anders praktiziert als in privaten Beziehungen, und den Begriff der politischen Freiheit als Legitimation für die Libertinage in Liebesbeziehungen heranzuziehen ist irreführend. In der Öffentlichkeit ist die Freiheit des Individuums durch komplizierte Gesetzeswerke und ein Geflecht von Instanzen so geregelt, dass Schaden weitgehend abgewendet werden kann. Freiheit in der Beziehung dagegen kennt keine Regeln und unterliegt der individuellen Auslegung. Da kann jeder ungestraft seinen Egoismus und Opportunismus ausleben. Durch die damit verbundene Willkür und Unverbindlichkeit liegt die Verletzungsgefahr in Liebesbeziehungen auf der Hand.

Wenn man vor Konsum und Vermarktung erschrickt, könnte man kulturpessimistisch Abstumpfung und Verflachung argwöhnen, die der postmodernen Beziehungskultur drohen. Dialektisch könnte man es allerdings auch positiv sehen: Vom Muff der traditionellen Schamhaftigkeit befreit, darf die Sexualität nunmehr ungeniert als beglückende Ressource gefeiert und in der Liebesbeziehung als körperlich-seelische Einheit erlebt werden. So gesehen ist sexuelle Attraktivität zu Recht ein Faktor, der zur Stärkung des Selbstwerts beitragen kann. Dabei wird eine Verschiebung des Fokus in Liebesbeziehungen deutlich. Traditionell lag ihnen eine kollektiv getragene Moral zugrunde, verkörpert durch Kirche und Staat. Die Aufklärung sorgte dafür, dass individuelle Bedürfnisse bei der Partnerwahl berücksichtigt wurden. Die Moderne förderte unter der Fahne der Befreiung eine Entkoppelung von Bindung und Sexualität, und die Postmoderne führte in gewissem Ausmaß zu einer Versachlichung von Beziehungen, indem der Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung auch für Sexualität und Liebesbeziehungen geltend gemacht wird. Eine neue Wende nehmen Liebesbeziehungen womöglich auch dadurch, dass die gesellschaftliche Vorherrschaft der Männer schrumpft und nicht nur die Rechte, sondern auch die Macht der Frauen in Wirtschaft und Politik zunehmen, wodurch eine gewisse Rollenkonfusion entsteht, wie noch erläutert wird (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2: Wandel gesellschaftlicher Bestimmungsstücke von Beziehungen

 

Die postmoderne Beziehungskultur ist durch unbegrenzte persönliche Freiheit, eine von Scham und Prüderie befreite Sexualität, ungezwungenes Körperbewusstsein und unbefangenes Streben nach Glück durch Konsum charakterisiert. Die neue Natürlichkeit findet dann auch in fröhlicher Sexualisierung der Werbung Ausdruck ebenso wie in ungenierten Angeboten auf dem Beziehungsmarkt. Und das Ganze mit der Aussicht einer baldigen Vorherrschaft der Frauen mit Konsequenzen, die noch nicht abzusehen sind.

Heißt das, dass Treue nicht mehr zählt und Zeiten der Untreue angebrochen sind, in denen sich keiner den Spaß verderben lassen möchte? Wenn man die Bilder und den uneingeschränkten Zugang zur Erotik im Internet betrachtet und den sexuellen Exhibitionismus in den Medien, könnte man das glauben. Zugleich mit der Freiheit stiegen die Verunsicherung und der Wunsch nach Geborgenheit. Jedenfalls konstatiert der Sexualforscher Volkmar Sigusch, dass 95 Prozent des Geschlechtsverkehrs sich in festen Beziehungen abspielen. [12] Aber was ist eigentliche Untreue? Eine Vielzahl von Disloyalitäten. Ein langer Blick, ein intensives Gespräch, die Erwähnung einer Schwärmerei, ein Kuss, Geschlechtsverkehr, Masturbation beim Anschauen eines Pornos. Alles das kann das Gefühl der Disloyalität hervorrufen.

Bemerkenswert ist auch, dass die im Netz ausgestellten Schönheiten derart stilisierte Superkörper haben, dass sie schon wieder in die von Fukuyama diagnostizierte Kategorie der Unnatürlichkeit fallen. Die perfektionierte Verführungsgestik und Mimik, wie sie etwa die Sängerinnen Rihanna oder Nicki Minaj [13] in aufwendigen Videoclips demonstrieren, lassen sie wie Kunstfiguren von einem anderen Planeten erscheinen, die der sexuellen Realität des Alltags vollkommen entrückt sind. Ist es vielleicht nur eine geruchsfreie visuelle Untreue, die propagiert wird, die wie eine der vielen Kochsendungen nie nachgekocht wird? Dann handelt es sich vielleicht um eine Sublimierung der sexuellen Aktivität in harmlosen Voyeurismus.

Vielleicht ist die nächste Herausforderung der Emanzipation von Liebesbeziehungen nicht die unbeschwerte Nutzung von bindungslosen Beziehungsangeboten oder frei verfügbarem Sex, sondern die Überwindung des Dilemmas, sich scheinbar zwischen Eifersucht und Monotonie entscheiden zu müssen. Der...

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