Wie Carsten Maschmeyer an seine Millionen kommt
Thomas Gottschalk war begeistert. Er stand in der Eilenriedehalle in Hannover, auf ihn zu kam ein ausgewachsener Elefant. Geritten wurde der Elefant von einem ausgewachsenen und als Afrikaner verkleideten Niedersachsen. Geritten wurde der Elefant vom AWD-Chef Carsten Maschmeyer.
Der Allgemeine Wirtschaftsdienst (AWD) hatte am 1. April 1989 Geburtstag. Er wurde ein Jahr alt. Dass ein Unternehmen 365 Tage bestand, ließ sich dezenter begehen. Doch die Feier sollte laut sein, außergewöhnlich, am besten einzigartig.
Der falsche Afrikaner Maschmeyer war 29 Jahre alt und fand, es gebe allen Grund zu feiern. Der AWD hatte in seinem ersten Jahr eine Milliarde Mark umgesetzt. Deshalb sicherte Maschmeyer sich die Dienste des »Wetten, dass …?«-Moderators. Deshalb bestieg er den Elefanten. 1700 Gäste, viele von ihnen Mitarbeiter, jubelten ihm zu. Ein Jahr lang hatten sie Menschen angesprochen und ihnen Lebensversicherungen, Investmentfonds, Bausparverträge und andere Kapitalanlagen vermittelt. Einen Teil der Provisionen hatten sie behalten dürfen, ein Teil ging an den AWD. Nun schenkte der AWD ihnen eine große Party. Und Carsten Maschmeyer gab ihnen das Gefühl, dass auch sie reich werden könnten – so reich wie er. Der Mann auf dem Elefanten war schon mit 24 Jahren Millionär geworden.
Dass die Deutschen das erführen, dafür hatte Maschmeyer selbst gesorgt, 1987 bereits, als der AWD noch gar nicht gegründet war.
Im Spätsommer traf er sich mit Autoren der »Bild«-Zeitung. Der Artikel, der dem Gespräch folgte, erschien am 14. September 1987. »Geld-Genie: Ab auf eigene Bahamas-Insel«, lautete die Überschrift. Mit der Insel war das Eiland Meek Patch Key gemeint, mit dem »Geld-Genie« Carsten Maschmeyer. Der Hannoveraner, der in Bremen geboren und in Hildesheim aufgewachsen war, hatte schon bei der Bundeswehr und als Student Finanzprodukte vermittelt und zuletzt für den Finanzvertrieb »Organisation zur Vermittlung von Bausparverträgen« (OVB) 3000 Mitarbeiter in 40 Büros dirigiert. Die Mitarbeiter und die Büros hatte er dann der OVB überlassen, für eine »achtstellige Summe«, wie er in dem Bericht sagte.
Maschmeyer erzählte in der »Bild«-Zeitung auch, dass seine Karriere zu schnell gegangen sei. Er müsse jetzt zu sich selbst kommen. Bei seinem »bisherigen 16-Stunden-Tag« sei das Leben an ihm und seiner Freundin vorbeigegangen. Deshalb fliege er auf die Karibik-Insel, für die er »mehrere Millionen« bezahlt habe.
Das Magazin »Bunte« schilderte das Leben Carsten Maschmeyers ein paar Monate später unter der Überschrift: »Monatsgehalt: eine halbe Million«. So viel hatte Maschmeyer nach eigenen Angaben zuletzt verdient. Zu seiner ersten Million teilte er der »Bunten« mit: »Ich hab’s gar nicht gemerkt. Meine Sekretärin hat mir gesagt, dass ich eine Million Vermögen habe. Irgendwann hatte ich den Überblick verloren.« Die Autoren gaben am Ende ihres Textes eine Einschätzung ab: »Irgendwie ist dieser Erfolgsmensch wie ein Junge geblieben. Einer, für den das Wort Neid noch heute ein Fremdwort ist, der Intrigen hasst wie den Konkurrenzkampf in der Finanzwelt.« Das war eine klare, aber verklärende Bewertung. Den Konkurrenzkampf in der Finanzwelt zumindest hatte Maschmeyer auf dem Weg zum Millionär kräftig geschürt.
Gegründet hatte den AWD 1988 Maschmeyers Schwager Kai Lange. Maschmeyer durfte nach der Millionenzahlung seines früheren Unternehmens OVB noch nicht selbst für einen Konkurrenten arbeiten. Er stieg etwas später ein und baute binnen Monaten einen Finanzvertrieb gewaltigen Ausmaßes auf.
In der Presse bekam er dafür Bestnoten. »Das Wunderkind der Anlagestrategie« schrieb etwa die christliche Wochenzeitung »Rheinischer Merkur« über den »Senkrechtstarter im hart umkämpften Markt der Finanzdienstleistungen«. Der Autor des Artikels, Lutz Kuche, berichtete: »Bereits nach dem ersten Geschäftsjahr beschäftigte das konzernunabhängige Beratungsunternehmen mehr als 1000 Mitarbeiter bundesweit und erzielte einen Umsatz von einer Milliarde Mark. Der Sprung über die Zwei-Milliarden-Umsatzhürde wird nach weiteren zwölf Monaten im Frühjahr dieses Jahres erwartet.«
Lutz Kuche vom »Rheinischen Merkur«, der später als Stasi-Agent enttarnt wurde, beschrieb Maschmeyers Wirken so euphorisch, als habe dieser tatsächlich in Rekordzeit 1000 sichere Arbeitsplätze geschaffen. In Wirklichkeit handelte es sich beim AWD um einen Strukturvertrieb. Die AWD-Berater blieben in der Regel selbständige Handelsvertreter. Sie erhielten vom AWD keinen Lohn und kein Gehalt, sondern nur Provisionen auf die vermittelten Verträge. Für ihre Sozialversicherung mussten sie selbst aufkommen.
Viele Finanzberater häuften gleich beim Einstieg Schulden auf, die sie so schnell nicht wieder loswurden. Weil sie zu Beginn ihrer Karriere nicht vom Ersparten leben konnten, zahlte der AWD ihnen den sogenannten Linearisierungsvorschuss, eine Art Übergangsgeld auf Leihbasis. Neue Mitarbeiter vermittelten gewöhnlich ja nicht schon nach zwei Wochen den ersten Bausparvertrag. Und wenn es dann so weit war und ein Kunde unterschrieb, lag die Provision auch nicht gleich auf dem Konto.
Um ein Büro zu unterhalten, gewährte der AWD auch Kredit. Er half außerdem, wenn ein Mitarbeiter zum Büroleiter aufgestiegen war und nun etwa eines größeren Autos bedurfte. Nur die Arbeitskleidung – »keine Kettchen«, »im Winter darf es ruhig der wärmende Loden-, Leder- oder Stoffmantel sein«, »leuchtende, aber nicht schrille Krawatten«, lauteten die Empfehlungen der Zentrale – gab es nicht auf Pump.
Der Erfolgsdruck, der auf den AWD-Außendienstlern lastete, war nicht zuletzt durch die häufig schnelle Verschuldung von Beginn an immens. Viele AWD-Anfänger gaben im ersten Jahr auf. Verschuldete Mitarbeiter konnte man aber auch noch auf höheren Stufen der AWD-Hierarchie finden. Eine interne Liste aus dem Jahr 2004 zeigt, dass die Schulden der Führungskräfte bei dem Unternehmen erdrückend hoch waren.
Der freie Handelsvertreter Rüdiger Maurer etwa (Name geändert) trat im April 1988 als sogenannter Mitarbeiter I dem AWD bei. Er belegte Seminar um Seminar, wurde nacheinander Mitarbeiter II, Repräsentant I und II, Geschäftsstellenleiter, Direktionsassistent und Direktionsmanager. Schließlich stieg er zum AWD-Direktor auf. Im Juli 2004 stand Rüdiger Maurer beim AWD mit 1036630,83 Euro in der Kreide. Kündigen konnte er mit mehr als einer Million Euro Schulden kaum. Er musste mit den Vertriebseinheiten, die ihm unterstellt waren, weiterhin Umsatz machen.
Von den 24 Direktoren des AWD Deutschland im Sommer 2004 hatten gerade mal sieben keine Schulden bei ihrem Arbeitgeber. Diese sieben arbeiteten allerdings mit einer Ausnahme auch noch nicht lange für den AWD. Einen Direktor hingegen drückte ein Darlehen von fast 700000, zwei seiner Kollegen hatten sich mit rund 450000 Euro verschuldet. Der Rest lag irgendwo dazwischen. Für die 33 Manager, die AWD Deutschland zu diesem Zeitpunkt zählte, weist die Liste ebenfalls etliche Schulden aus, nicht wenige im mittleren fünfstelligen Bereich.
Sie alle hatten sich im internen Trainingscenter fortgebildet und dafür kräftig bezahlt. Der AWD verdiente sein Geld nicht nur bei den Kunden, sondern auch bei den eigenen Mitarbeitern: Die AWD-Übersicht »Teamleiter-Lehrgang 1-99« etwa veranschlagte das »Seminar Personalführung« mit »DM 450,– plus Übernachtungskosten (DM 190,– im Einzelzimmer)«. Die »Prüfung Personalentwicklung« kostete weitere 300 Mark. 1993 berechnete das Unternehmen für einen »AWD-Ziel-/Zeitplaner mit Reißverschlussmappe« und Namensaufdruck 552,20 Mark. Selbst ein AWD-Eiskratzer fürs Auto kostete 1,50 Mark.
Die Struktur unter sich zu pflegen und aufzubauen konnte für Führungskräfte ebenfalls teuer sein. Allein der Ordner »Train the trainer« mit Folien für den Overhead-Projektor kostete Ende der neunziger Jahre mehr als 1000 Mark. Damit leiteten höhere AWD-Kader ihre Untergebenen bei der Personalführung an.
Der lange Zeit wachsende Finanzvertrieb legte auch Wert darauf, dass seine Berater Wohlstand ausstrahlten. Je weiter ein AWD-Mitarbeiter aufstieg, desto besser situiert sollte er sich geben. Die Kleidung wurde feiner, die Wagen protziger und die monatlichen Leasingraten für die Autos höher. Die AWD-Büros wirkten ihrerseits großzügig, befanden sich oft in bester Lage und enthielten die technisch neueste Ausstattung. All das kostete. Und all das bezahlte vor allem die selbständige Führungskraft, nicht die Zentrale in Hannover.
Ein weiterer Grund für die Verschuldung konnte das Prinzip des Mitverdienens sein – es schlug für manche Direktoren schlicht ins Gegenteil um. Sie kassierten mit bei jeder...