1. Der Wandersänger
In einer Spätsommernacht, die nach Herbst riecht, schnüre ich die Stiefel und ziehe los. Es ist fünf Uhr morgens, die Gasse ist ganz still, kein Laut außer dem Hallen meiner Schritte. Peking hängt noch seinen Träumen nach.
Ich gehe durch untergehende Welt. Häuserruinen säumen den Straßenrand, sie liegen in der Dunkelheit, gestrandeten Walen gleich, tags kommen die Wanderarbeiter, sie auszuweiden. Sie tragen Kabel, Stromzähler, Fensterscheiben, Fensterrahmen, Türklinken, Dachziegel, Dachbalken zusammen und fahren sie auf kleinen Dreirädern fort. Mein Viertel, das Trommelturmviertel, wird abgerissen, nichts ist mehr, wie es war. An einer einsamen Wand, die vom Rest des Hauses verlassen wurde, hängt ein Plakat. Eine Lehrtafel, mit der ein Kind einst lesen lernte. Ich sehe die Zeichen für: Mund, Auge, Auto, Vogel, Elefant, Stadt. Von der Live Bar steht nur noch die hintere Wand, dort, wo einst die Toilette war. Irgendwer hat mit einem Stift einen Hintern auf die Wand gekritzelt. Darüber hat einer ein Leonard-Cohen-Zitat geschrieben: »Dance me to the end of love.«
Ich scharre mit dem Fuß ein paar Steine zur Seite, schaue über mein nächtliches Viertel. Seit vier Jahren lebe ich hier, unzählige Male bin ich von hier losgezogen, kreuz und quer durchs ganze Land. An diesem Tag beginnt meine letzte große Reise, nur weiß ich das damals noch nicht. Ich habe eine ungefähre Route, ein paar Menschen, die ich neu kennenlernen will, ein paar, die ich schon getroffen habe. Zwölf von 1,35 Milliarden. Sie sind nicht repräsentativ, wie sollte irgendwer repräsentativ sein in einem Land wie diesem? Vielleicht träumen sie ein bisschen mehr als andere, vielleicht sind sie ein wenig dickköpfiger als andere, vielleicht habe ich sie deshalb ins Herz geschlossen.
Kalte Morgenluft füllt meine Lungen, der Schritt wird leicht, als freuten sich die Stiefel, unterwegs zu sein.
Ich winke nach einem Taxi. Mit der Handfläche nach unten, wie man es in China macht, der frühere »New Yorker«-Korrespondent Peter Hessler schrieb einmal: »als streichle man einen unsichtbaren Hund«. Ein einsames Taxi kommt zum Stehen. »Wohin«, knurrt der Fahrer statt eines Grußes, sein Wagen riecht nach kaltem Rauch. Wir gleiten über leere Straßen zum Flughafen, vorbei an unwirklich stiller Stadt. Über den Hochhäusern zieht die Morgendämmerung auf, in den Häuserschluchten hängt noch die Dunkelheit.
Ich fliege südwärts, nach Nanchang, Hauptstadt der Provinz Jiangxi. Eine Fünf-Millionen-Stadt im chinesischen Hinterland. Nanchang ist ein Verkehrsknotenpunkt, an dem sich wichtige Eisenbahnstrecken kreuzen, außerdem ist es Zentrum der Landwirtschaftsindustrie. Die Kommunistische Partei hat Nanchang zur »Stadt der Helden« erklärt, zum »Ort, an dem die Flagge der Volksbefreiungsarmee zum ersten Mal gehisst wurde«. Im Jahr 1927 erhoben sich hier erstmals kommunistische Aufständische gegen die Republik. Nanchang ist eine Stadt, die nicht arm ist, aber auch nicht reich. Sie besteht größtenteils aus schmucklosen Wohnblöcken, nur im Zentrum erheben sich ein paar Glitzerhochhäuser. Auf der anderen Flussseite steht eine Geisterstadt, weil Entwickler ehrgeizige Pläne verfolgten, aber nur wenige das Geld haben, dafür zu zahlen. In China folgen fast alle Städte dem Modell Pekings, deshalb sehen sie oft so gleich aus, deshalb kann man ihre Entwicklung anhand einiger Merkmale messen. In Nanchang habe ich weder internationale Kaffeeketten gesehen noch rosagetünchte Villencompounds namens »General’s Home«, »Berlin Symphony« oder »Paris Dreams«. Auch habe ich auf der Straße nur einen roten Ferrari ausgemacht. Nanchang ist damit ein typisches Beispiel für das, was man in China Provinzstadt dritter Ordnung nennt. Später werde ich lesen, dass in der Stadt eines der größten Riesenräder der Welt steht. Ich war nicht da. Ja, ich habe es noch nicht einmal von weitem gesehen. Italo Calvino schreibt in »Die unsichtbaren Städte«: »Du wirst dein Vergnügen nicht in den sieben oder siebzig Wundern einer Stadt finden. Sondern in der Antwort, die sie auf eine deiner Fragen bereithält.«
Am Abend stiefele ich in Nanchang über die Pekingstraße. In jeder Stadt Chinas gibt es eine Pekingstraße, außer in Peking. Ich halte einen Zettel in der Hand. »黑铁 – Hei tie« steht darauf. »Schwarzes Eisen.« Doch alle, die ich frage, schauen mich ratlos an. Die Frau, die den Lippenstift weit über die Lippen hinausgemalt hat, zuckt die Schultern. Der Mann, der den hinkenden Hund spazieren führt, schüttelt den Kopf. Der Straßenfeger hält inne, überlegt kurz und fegt weiter. Ich laufe an einem Pianoladen vorbei, die ganze Straße ist voller Pianoläden, in der Auslage stehen müde Plastikblumen, die roten Blätter von der Sonne gebleicht. »Freude durch Klavierspielen« verheißt ein vergilbtes Banner. Ich habe fast das Ende der Häuserzeile erreicht, weiter vorn beginnen schon die Eisenbahnschienen, da entdecke ich es.
Der Eingang ist so schmal, dass ich ihn fast übersehen hätte, nur eine Lücke in der Hauswand. »Hei tie« steht in Zeichen darüber, »Schwarzes Eisen«. Ich gehe hinein, den schmalen Gang entlang, taste mich an nackten Betonwänden vorwärts, eine Kette aus Glühlämpchen führt nach oben, beleuchtet ausgetretene Treppenstufen. An ihrem Ende wartet eine schwere Eisentür, halb angelehnt.
»Hei tie«, der stolze, der einzige alternative Live-Club Nanchangs. Hinter der Bar steht ein Typ mit tätowiertem Hals, die Abenteuer vieler Nächte haben dunkle Spuren unter seinen Augen hinterlassen. Er nickt mir zu. An den Wänden kleben Heavy-Metal-Poster und ein Bild von Galeerenschiffen auf weitem Meer. Ich bleibe kurz stehen und denke über eine mögliche Verbindung von Schifffahrt und Heavy Metal nach, doch mir fällt keine ein. Egal, erst mal ein Bier, über den abgewetzten Perserteppich schlurfe ich Richtung Musik.
Da steht er schon auf der winzigen Bühne. Lang, schlaksig, doch mit breiten Schultern. Zhang Yide, 28. Seine Augenbrauen sind breit, die Ohren stehen leicht ab, seine Arme sind ungewöhnlich lang. Er trägt Schlabberhose, Nerdbrille und eine Frisur, die man von Playmobilfiguren kennt. Um den Hals hängt seine Gitarre, darauf hat er ein Smartphone geklebt, mit dem Musikprogramm kann er sich Drums und kreischende E-Gitarren heranholen. Mehr braucht er nicht für diesen Abend. Seinetwegen bin ich hierhergereist. Einen wie ihn habe ich gesucht. Einen Wandersänger, Vagabunden, Wolkenläufer.
Kreuz und quer zieht er durchs Land, von Bühne zu Bühne, von Stadt zu Stadt. Über Berge, durch Wüsten und endlose Städte, immer den Eisenbahnschienen nach. »Denn wo es eine Eisenbahn gibt in China, da gibt es auch Rock ’n’ Roll.« Ich will meine Reise in Begleitung eines Profis starten, von den Großen lernen.
Zhang Yide greift in die Saiten, schrubbt mit einem Drumstick darauf herum, er singt, springt, schreit, jault wie ein Wolf. Er singt Phantasie-Kisuaheli, er jodelt, er scheint sich prächtig da oben zu amüsieren. Er macht Nerdmusik. Er spielt Folk, experimentellen Folk, »… lieber wär ich Rockmusiker geworden, doch dafür musst du ein Schrank sein. Schaut mich an, Schlaks, der ich bin, mir blieb doch gar nichts anderes übrig, als Folk zu spielen.«
Dann wird er plötzlich leise. Sehnsucht kriecht ihm in die Gitarrensaiten, seine Stimme wird ganz weich. Er singt von dem Mädchen in Xi’an, das so schön war, das diese Blicke warf, und doch ist nichts zwischen ihnen passiert. Dann schaltet er um, wird sarkastisch, ironisch, trocken, liefert seine Pointen in rollendem Nordchinesisch ab. Er singt über die Ungerechtigkeit der Ordnungswärter und die Selbstgerechtigkeit, mit der sie die kleinen Leute drangsalieren. Er spielt die Melodien alter Fernsehserien und macht sich über Ikonen der Popkultur lustig. Er spickt seine Texte mit Andeutungen auf Politik, Zeitgeschehen, chinesische Pop- und Untergrundkultur.
Auf dieser winzigen Bühne ist Zhang Yide ganz das Bühnentier. Und ich muss an die Sänger denken, die einst von Teehaus zu Teehaus zogen und das Volk mit ihren Geschichten unterhielten. Sie waren Historiker, Gaukler, Komiker, Nachrichtensprecher in Personalunion. Lieferten den neuesten Klatsch und wetterten manchmal gegen die Obrigkeit. Doch die fahrenden Sänger gibt es nicht mehr, die Teehäuser, in denen sich das einfache Volk traf, haben fast alle dichtgemacht. Im Teehaus Tee zu trinken ist heute ein Vergnügen der Mittelklasse. Die Sagen,...