Frühe Prägungen
Es überrascht, wie oft und unvermittelt Bismarck im fortgeschrittenen Alter, inzwischen zum erfolgreichsten europäischen Politiker avanciert, auf seine Kindheit und Jugend zu sprechen kam. Dieses Mitteilungsbedürfnis entsprang seiner Überzeugung, daß niemand den Stempel wieder verliert, den ihm die Zeit der Jugendeindrücke aufprägt[12]. Es waren nicht nur freundliche Gedanken, die den Reichskanzler im Rückblick auf seine frühen Jahre überkamen.
Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 in Schönhausen nahe der Elbe geboren – in jenem Wendejahr, als der Usurpator Napoleon endgültig besiegt und auf dem Wiener Kongress das europäische Gleichgewicht im Zeichen einer monarchischen Restauration wiederhergestellt wurde. In der Mitte des Kontinents entstand kein deutscher Nationalstaat, wie ihn sich mancher Patriot in den «Befreiungskriegen» gegen Napoleon erträumt hatte, sondern ein lockerer Zusammenschluss von 34 Einzelstaaten (und vier Reichsstädten), der Deutsche Bund, in dem die beiden Vormächte Österreich und Preußen den Ton angaben. Den österreichisch-preußischen Dualismus sollte erst Bismarck 1866 gewaltsam lösen und damit auch das System des Deutschen Bundes unwiderruflich zerstören.
Die Erzählungen der Älteren über die Zeit der Franzosenherrschaft begleiteten Bismarcks Kindheit. Seine Eltern waren gerade einige Monate verheiratet, als im Oktober 1806, nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt, französische Soldaten auch Schönhausen besetzten und Schloss und Dorf plünderten. «Zerrissen der preußische Staat, gekränkt, gedemütigt alles, was preußisch heißt», klagte ein Bruder des Vaters, Friedrich von Bismarck, nach dem Friedensschluss von Tilsit im Juli 1807[13], in dem Preußen seine westelbischen Gebiete abtreten musste. Es gewann sie zwar 1815, erweitert um einige Gebiete Westfalens und der Rheinprovinz, zurück, doch nach wie vor bildete Preußens Territorium keine Einheit, blieben die westlichen und östlichen Teile getrennt durch Hannover und Kurhessen. Diesen Zustand zu beenden, Preußens Macht in Deutschland zu vergrößern und seine Stellung in Europa auszubauen – das sollte zur wichtigsten Antriebskraft des Politikers Bismarck werden.
Stärker noch als durch die politische Epochenwende von 1815 wurde Bismarck durch die Besonderheiten seiner familiären Herkunft geprägt. Seine Eltern kamen aus recht unterschiedlichen Milieus. Der Vater, Ferdinand von Bismarck, war der Spross eines alteingesessenen Adelsgeschlechts in der Altmark, das den brandenburgischen und später preußischen Herrschern fleißig Offiziere gestellt, ansonsten sich aber nicht besonders hervorgetan hatte. Die Mutter, Wilhelmine Mencken, entstammte einer Familie von Gelehrten und hohen Beamten. Ihr Vater, Anastasius Ludwig Mencken (1752–1801), war noch von Friedrich dem Großen als Kabinettssekretär eingestellt worden und hatte es unter dessen Nachfolgern zum Kabinettsrat, zeitweilig sogar zum Leiter des Kabinetts gebracht. Was die erst siebzehnjährige Tochter dieses gebildeten, weltläufigen Beamten dazu bewogen haben mochte, dem um achtzehn Jahre älteren Landjunker 1806 das Jawort zu geben, ist nicht ganz klar. Offenbar geschah dies auf sanften Nachdruck der Familie hin.[14] Es wurde keine glückliche Ehe. Zwar war Ferdinand von Bismarck ein gutmütiger, keineswegs tyrannischer Patriarch, doch sein geistiger Horizont als preußischer Landedelmann war zu beschränkt, als dass er seiner intellektuell aufgeschlossenen Frau hätte Anregungen bieten können. Diese flüchtete sich, je länger desto mehr, aus ihrer unbefriedigenden Situation in Unpässlichkeiten und Krankheiten. Ottos Cousine Hedwig, eine Spielgefährtin seiner Kindheit, erinnerte sich noch Jahrzehnte später daran, dass Bismarcks Mutter «viel elend und teilnahmslos» gewesen sei. «Das heute so allgemeine Wort ‹nervös› habe ich, als ich erwachsen war, zum erstenmal über diese Frau aussprechen hören. Allgemein sagte man, sie mache sich selbst durch Nervosität das Leben schwer und mehr noch ihrem Mann und ihren Kindern.»[15]
Otto von Bismarck war das vierte von sechs Kindern, von denen nur drei – außer ihm der ältere Bruder Bernhard (geboren 1810) und die jüngere Schwester Malwine (geboren 1827) – die ersten Jahre überlebten. Viel ist darüber spekuliert worden, welcher Erbteil, der mütterliche oder der väterliche, bei ihm dominierte. Vom Vater hatte er die große, kräftige Statur, dazu die lebenslange Affinität zur Welt des preußischen Landadels. In einem Brief an seine Braut Johanna von Puttkamer vom März 1847 äußerte er sich voller Stolz über dieses langjährige Walten des konservativen Prinzips hier im Hause, in welchem meine Väter seit Jahrhunderten in denselben Zimmern gewohnt haben, geboren und gestorben sind[16]. Doch über die Mutter kam ein Element in die Bismarck-Familie, das dieses ungebrochene Verhältnis zum väterlichen Erbe in Frage stellte. Von ihr hatte er den scharfen Verstand, die kühle Rationalität, gepaart mit sprachlicher Sensibilität, das labile Nervenkostüm, schließlich den unstillbaren Ehrgeiz, einmal den engen Lebenskreis zu durchbrechen, der die Existenz eines preußischen Landjunkers charakterisierte. Es waren also recht gegensätzliche Züge und Anlagen, die dem Kind dieses ungleichen Paares in die Wiege gelegt wurden. Nicht nur der schwankende, unsichere Weg des jungen Bismarck, auch manche Widersprüche in der Persönlichkeit des reifen Politikers haben hier ihre Wurzel.
Seine ersten Jahre verlebte Otto von Bismarck auf dem Gut Kniephof in Pommern, das der Vater 1816 zu günstigen Konditionen erworben hatte, ohne den Schönhausener Besitz aufzugeben. Für den ungebärdigen Knaben wurde Kniephof mit seinen alten Eichen und Buchen, seinen Wiesen und Fischteichen zum Paradies seiner Kindheit, in dem er nach Herzenslust herumtollen konnte. Hier wurde der Grund gelegt für Bismarcks Liebe zum Lande, zu Bäumen und Waldeseinsamkeit. Doch die ländliche Idylle endete abrupt. Anfang 1822 schickte die bildungsbeflissene Mutter, die ihren Söhnen eine Beamtenlaufbahn zudachte, den sechsjährigen Otto in die Plamann’sche Erziehungsanstalt nach Berlin, wo auch schon der ältere Bruder Bernhard eingeschult war.
Für den Jungen war der unvorbereitete Übergang in einen ganz neuen, von Zwang und Disziplin bestimmten Lebenskreis ein Schock, und noch im hohen Alter hat sich Bismarck mit steigender Erbitterung seiner Internatszeit erinnert: Meine ganze Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, lautete die wiederkehrende Klage. Eine rücksichtslose Strenge habe dort geherrscht, ein künstliches Spartanertum. Niemals habe er sich richtig satt essen können; immer sei er rohen Mißhandlungen der Lehrer ausgesetzt gewesen, die vor allem die adligen Jungen gehasst und morgens mit Rappierstößen geweckt hätten. Die Plamannsche Anstalt lag so, daß man auf einer Seite ins freie Feld hinaussehen konnte. Am Südwestende der Wilhelmstraße hörte damals die Stadt auf. Wenn ich aus dem Fenster ein Gespann Ochsen die Ackerfurche ziehen sah, mußte ich immer weinen vor Sehnsucht nach Kniephof.[17]
Vermutlich ging es in der Plamann’schen Lehranstalt weniger streng und spartanisch zu, als es sich in der späteren Rückschau des preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers darstellte. Aber der an das ungebundene Leben auf Kniephof gewöhnte Junge reagierte offenbar auf Reglementierung und Dressur reizbarer als die meisten seiner Mitschüler. Sein früh erkennbarer Widerwille, Autoritäten anzuerkennen und sich Vorgesetzten unterzuordnen, hat sich, wie es scheint, erst durch die Erfahrungen der Schulzeit voll ausgebildet.
Für sein Unglück machte der Sohn die Mutter verantwortlich, bei der er die emotionale Zuwendung vermisste, die er doch als Ausgleich für die schulischen Exerzitien so dringend gebraucht hätte: Sie wollte, daß ich viel lernen und werden sollte, und es schien mir oft, daß sie hart und kalt gegen mich sei: als kleines Kind haßte ich sie, später hinterging ich sie mit Falschheit und Erfolg. In demselben Brief an seine spätere Frau vom 23. Februar 1847, in dem der Zweiunddreißigjährige dieses bemerkenswerte Geständnis über das gestörte Verhältnis zu seiner Mutter ablegte – sie war am 1. Januar 1839, noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, einem Krebsleiden erlegen –, äußerte er sich auch über die Beziehung zu seinem Vater: Meinen Vater liebte ich wirklich, wenn ich nicht bei ihm war, fühlte ich Reue über mein Benehmen gegen ihn, faßte ich Vorsätze, die wenig stand hielten; denn wie oft habe ich seine wirklich maßlose, uninteressierte, gutmütige Zärtlichkeit für mich mit Kälte und Verdrossenheit gelohnt, und noch öfter aus Abneigung, die mir anständig erscheinende Form zu verletzen, ihn äußerlich geliebt, wenn mein Inneres hart und lieblos war über anscheinende Schwächen, deren Beurteilung mir nicht zustand und die mich doch eigentlich nur ärgerten, wenn sie mit Formverletzung verbunden waren.[18]
Die etwas verklausulierten Wendungen lassen doch zur Genüge erkennen, was Bismarck an seinem Vater störte: Es war die derbe, etwas ungehobelte Art des preußischen Landedelmanns, die so sichtbar abstach von der kultivierten, formbetonten Lebensart der Mutter. Ein Vorbild konnte der liebenswürdige, aber schwache Vater nicht sein. Das war schon eher die Mutter, deren Werte der junge Bismarck trotz des Hasses, den er ihr gegenüber empfand, in einem stärkeren Maße verinnerlichte, als...