2.1 Die fünf Säulen des Islams
2.1.1 Das islamische Glaubensbekenntnis
Das islamische Glaubensbekenntnis ist in erster Linie ein Bekenntnis zur Befreiung von jeglicher Bevormundung und somit ein Bekenntnis zur Befreiung von allem, was unseren freien Blick einschränkt und uns abhängig macht. Denn es lautet nicht: »Ich bezeuge, dass es nur einen Gott gibt«, sondern »dass es keine andere Gottheit gibt, außer dem einen Gott«. Es beginnt mit einer Negation. Es geht an erster Stelle darum, sich von allem zu befreien, was einen geistig, sozial oder politisch bevormundet. Die Haltung: »Ich bete neben Gott keine Götzen an, deshalb bin ich ein praktizierender Monotheist«, ist zu wenig, denn Götzen in dem Sinne, wie sie im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel angebetet wurden, gibt es heute kaum mehr. Es gibt aber wohl viele andere Erscheinungsformen der »Beigesellung« (arab. Schirk), also der Anbetung anderer Dinge neben Gott. Die uns heute bekannteste Form dieser Beigesellung ist die im Koran angesprochene geistige Bevormundung, die unseren freien Blick einschränkt. Diese kann zum Beispiel in Form von Anbetung von Menschen, die glauben, für Gott und in seinem Namen zu sprechen, vorkommen: »Genommen haben sie sich ihre Gelehrten und Mönche zu Göttern außer Gott. (…) Und doch war ihnen befohlen zu dienen dem Gott, dem Einzigen. Kein Gott außer Ihm. Preis Ihm, über das, was sie neben Ihn stellen! Sie wollen Gottes Licht mit ihrem Mund auslöschen, aber Gott will nichts anderes, als sein Licht zu vollenden, auch wenn dies den Leugnern nicht gefällt«21; die Beigesellung kann aber auch in Form der Befolgung egoistischer Motive und Gelüste vorkommen. In diesem Zusammenhang spricht der Koran von der Anbetung des Teufels, der im Koran symbolisch für alles Böse steht: »Habe ich (Gott) euch nicht verpflichtet, o ihr Kinder Adams, dem Satan nicht zu dienen – er ist euch ein offenkundiger Feind –, sondern mir zu dienen? Das ist der gerade Weg. Und doch hat er irregehen lassen viele von den Geschöpfen. Hattet ihr keinen Verstand?«22 Der Koran fragt hier, ob ein Mensch, der sich bevormunden lässt und sich dem ausliefert, was ihm über Gott erzählt wird, bzw. sich seinem Ego sowie dem Bösen ausliefert, wie Hochmut, Rache, Machtbestreben, Eitelkeit, Gier, Egoismus, Neid, Hass usw., ob dieser Mensch überhaupt Verstand hat. Die Vernunft ist der Garant gegen die Falle der Beigesellung. Diese Einschränkung unseres freien Blicks, die der Koran als Beigesellung bezeichnet, ist Ausdruck selbstverschuldeter Bevormundung und Verblendung. Deshalb spricht der Koran davon, dass die wahren Verlierer diejenigen sind, die sich selbst verloren haben.23 Die Befreiung davon liegt nicht in der Außenwelt, sondern im Inneren des Menschen. Und genau mit diesem Prozess der inneren Befreiung beginnt die Verwirklichung des islamischen Glaubensbekenntnisses. Wir können mit anderen Worten sagen, dass der Mensch nicht lange nach Gott suchen braucht. Er braucht jedoch lange, bis er sich von dem befreit, was ihn daran hindert, Gott zu erkennen und ihm zu begegnen. Sobald er sich von allem befreit, was ihn bevormundet und verblendet, erkennt er Gott. Gott ist hier, nur der Mensch muss die Augen öffnen. Und was ist Gott? Gott ist die Barmherzigkeit. Wer nach Güte und Barmherzigkeit sucht, sucht nach Gott; wer Güte und Barmherzigkeit anstrebt, strebt Gott an; wer Güte und Barmherzigkeit erkennt, hat Gott erkannt. Und so kann jeder in Erfahrung bringen, ob Gott in seinem Herzen angekommen ist oder noch nicht.
Leider hat sich eine Art bevormundende Tradition im Islam etabliert, die die Gestaltung des religiösen Lebens von dem abhängig macht, was die eine oder andere religiöse Autorität bestimmt. Ich verwende hier den Begriff »religiöse Autorität« absichtlich, auch wenn er dem Geist des Korans völlig widerspricht. Der Koran bezeichnet, wie schon erwähnt, den blinden Gehorsam gegenüber religiösen Autoritäten als eine Form von Beigesellung. Der Koran zielt darauf, die Menschen darin zu unterstützen, den Islam als freie und mündige Gläubige auszuüben, statt seinen Lebensentwurf in religiöser Hinsicht an Dritte zu delegieren, also einfach blind zu folgen. Wer dies tut, darf von sich nicht behaupten, ein reiner Monotheist zu sein, auch wenn er keine Götzen im engeren Sinne anbetet. Daher sagt der Koran: »Gott vergibt nicht die Beigesellung, vergibt aber alles andere.«24 Beigesellung bedeutet die Abhängigkeit des Menschen und seine Bevormundung sowie seine Verblendung, also das Scheitern des Projekts Mensch, des edelsten Geschöpfs Gottes, das in und zur Freiheit erschaffen wurde. Das Glaubensbekenntnis impliziert, dass der Mensch »nein« zu jeder Form von Bevormundung sagen soll. Die Gott-Mensch-Beziehung als eine juristische Beziehung aufzufassen, in der Gott dem Menschen Gesetze offenbart hat, die er unhinterfragt befolgen muss, ist Ausdruck geistiger Bevormundung und reproduziert diese.
Ein Beispiel: Im Jahre 2012 wurde auf dem ägyptischen Sender »An-Nahar« ein ausführliches Gespräch mit einem Gelehrten namens Muhammad ‛Abd al-Mu‛tī al-Hittū ausgestrahlt.25 Al-Hittū schlägt in diesem Interview eine praktische Lösung für muslimische Frauen vor, die kein Kopftuch tragen können oder wollen, um sie von dem Verstoß gegen das Kopftuchgebot zu befreien: »Da das Kopftuch im Islam für Sklavinnen kein Gebot ist, könnten Frauen statt einen Heiratsvertrag mit ihren Männern einzugehen, einen Eigentumsvertrag schließen. Und dann können sie beruhigt, ohne schlechtes Gewissen vor Gott, ohne Kopftuch auf die Straße gehen.« Die Moderatorin fragte ihn darauf: »Laut dem islamischen Recht reicht die Blöße einer Sklavin vom Bauchnabel bis zum Knie. Wenn ich einen Eigentumsvertrag mit meinem Mann eingehe, darf ich also dann auf die Straße mit offener Brust gehen und lediglich eine kurze Hose bis zum Knie tragen?« Al-Hittū antwortete: »Ja, natürlich! Wenn die Gesellschaft dies als Verstoß gegen eine verbreitete Sitte sieht, dann ist das nicht Ihr Problem, vor Gott begehen Sie auf jeden Fall keine Sünde.« Die Moderatorin fragte aufgeregt weiter: »Und warum soll dann eine normale Frau Kopftuch tragen, nicht aber eine Sklavin? Ist die Sklavin nicht auch ein vollwürdiges Wesen, wie die Nichtsklavin?« Seine Antwort: »Ich frage meinen Gott nicht warum. Wenn er sagt: ›Mach das so!‹, dann gilt es zu gehorchen. Wir dürfen Gott nicht fragen, warum. Wir gehorchen und führen aus, was er uns sagt. Ich will den Zuschauern sagen, wir sollten Respekt vor Gott haben und seine Entscheidungen nicht hinterfragen. Es wäre eine Respektlosigkeit gegenüber Gott, etwas abzuschaffen, was Gott verkündet hat.« Dabei bezog er sich auf den prophetischen Hadith, wonach die Blöße einer Sklavin der des Mannes entspricht, sie reicht vom Bauchnabel bis zum Knie.26 Gegen Ende des Gesprächs wurde die Moderatorin sehr wütend: »Also was ist nun der Unterschied zwischen einem Heiratsvertrag und einem Eigentumsvertrag, geht es nur um das Kopftuch?! Ich verstehe nicht, warum durch den Heiratsvertrag das Kopftuchgebot aufrecht bleibt und durch den Eigentumsvertrag nicht?!« Al-Hittūs Antwort war: »Frag deinen Gott, nicht mich, er will das so!«
Dieses Beispiel veranschaulicht das Dilemma, das nur dann entsteht, wenn sich der Mensch bevormunden lässt und auf seine geistige Freiheit verzichtet, denn so entstehen Autoritäten, die aus uns Sklaven im engsten Sinne des Wortes machen wollen. Und dies alles im Namen des Islams, im Namen der peniblen Befolgung des Korans selbst und der prophetischen Tradition, im Namen der Frömmigkeit. Nun mag es sein, dass jemand gegen dieses Beispiel mit der Sklaverei einen Einwand vorbringt dergestalt, ich würde übertreiben, Sklaverei gäbe es nicht mehr, und die Meinung von al-Hittū sei eine Minderheitenposition, die in der islamischen Welt kaum auf Akzeptanz stieße. Tatsächlich: Es gibt in den islamischen Ländern glücklicherweise keine Sklaverei mehr. Koranische Aussagen zum erlaubten Geschlechtsverkehr mit einer unbestimmten Zahl von Sklavinnen, wie: »Wohl ergeht es den Gläubigen, die in ihren Gebeten Demut üben und die sich vom schlechten Gerede abwenden und die Armenspende entrichten und ihre Scham wahren, außer bei ihren Frauen oder denen, die sie besitzen, da sind sie nicht zu tadeln. Die aber, die darüber hinaus begehren, begehen Übertretung«27, werden heute von der Mehrheit der Muslime in ihrem historischen Kontext verortet und keineswegs wortwörtlich ...