1 Hypothese
»Vielleicht ist es so, dass man selbst gar nie erwachsen ist, man ist es immer nur für die anderen.«
Peter Bichsel – »Das ist schnell gesagt«
Burnout ist eine der vielen Varianten des basalen Erschöpfungsprozesses, wie er sich im Leben abspielt, im Leben aller Menschen. Es ist jene Variante, die angesichts von Problemen und Widerständen im Zusammenhang mit der Arbeit, die jemand verrichtet, der über eine gewisse Selbstbezüglichkeit verfügt, im mittleren Alter drohen kann. Manche erwischt es früher und einige später. Burnout hat etwas zu tun mit einer primären Behinderung der normalen Leistungsentwicklung und einer Reaktionsbildung, bei der Motivation und Begeisterung eine zentrale Funktion übernehmen. Doch sind die Verschiebungen subtil und die Kompensation ist komplex und erfordert ein gewisses Talent bei der Umsetzung. Fehlt dieses, nimmt die Erschöpfung einen etwas anderen Verlauf und führt außerdem nicht selten in habituellen Suchtmittelkonsum.
Das Buch ist kein Lehrbuch und kein Ersatz für Standardwerke. Es ist Essay, Skizze und Ideensteinbruch. Wie man einen Text liest, hat etwas damit zu tun, wie man persönlich eine Aufgabe bewältigt. Anhand solcher Erfahrungen mag jeder selber ermessen, wie die Linien seiner Erschöpfbarkeit und Erschöpfung verlaufen und welcher Stellenwert seiner Fähigkeit zur Begeisterung zukommt.
1.1 Burnout – ein merkwürdiger Gegenstand
In all den Jahren, in denen ich mich klinisch mit dem Erschöpfungssyndrom am Patienten befasse, ist mir aufgefallen, wie merkwürdig wir im Umgang mit Burnout und verwandten Erscheinungsbildern der Erschöpfung im Grunde umgehen. Man weiß nicht recht, ob es sich bei Burnout um ein neues Störungsbild handelt oder um bekannte Phänomene, die man erst jetzt zu einem eigenen Bild zusammenfasst, oder ob es sich weitgehend um einen Hype handelt, wie Autoren gelegentlich durchblicken lassen und es die Presse nicht selten behauptet. Die süffisante Zurückhaltung, der man in der Bevölkerung und selbst bei vielen Ärzten in Bezug auf das Burnout-Syndrom oft begegnet, verunsichert. Freudenbergers Syndrom, in den siebziger Jahren erstmals beschrieben, passt fast zu gut in unsere Zeit, um – so wie es »verkauft« wird – auch rundum wahr zu sein. In der Tat war vieles schon früher bekannt, namentlich die Rolle von Stress und Strain, wie Selye, Lazarus und andere sie sahen. Beinahe alles, was heute argumentativ mit Burnout verbunden wird, wurde seinerzeit vor dem Hintergrund von Kreislaufrisiken und kardialer Erkrankung diskutiert, die wesentlich häufiger als Stressfolgen imponierten als eine Erschöpfungsreaktion, wie wir sie heute als Burnout bezeichnen (Feldmann 1984). Solche Erschöpfungsreaktionen kamen aber durchaus vor und waren gut bekannt, aber sie genossen keine größere Beachtung. Eine noch weitergehende Verunsicherung mag entstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie vor über hundert Jahren mit dem damaligen Massenphänomen der Neurasthenie umgegangen wurde (Radkau 2004). Neurasthenie ist in vielerlei Hinsicht das Pendant zum Burnout in der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Heute ist Neurasthenie eine in Verruf geratene Diagnose, die bei Krankenversicherern und Sozialversicherungen im Verdacht steht, keine ernsthafte Störung zu sein, auf jeden Fall keine, die finanzielle Leistungen der Solidargemeinschaft begründen kann. Neurasthenie erscheint als eine auf der Grenze zur maladie imaginaire befindliche, hauptsächlich selbstverschuldete, nachhaltig wirkende Befindlichkeitsstörung mit ausgeprägtem Krankheitsgewinn und appellativen Elementen. Bei Burnout ist das nach wie vor ähnlich. Die zunehmende Bestimmtheit, mit welcher Burnout-Spezialisten die Störung als eine rundum gesicherte Erscheinung präsentieren, täuscht über den bescheidenen Erkenntnisgewinn hinweg, den man seit den 1990er Jahren in Bezug auf das Erschöpfungsthema gemacht hat. Diese Bestimmtheit ist auch als Reaktion auf das massenhafte Auftreten der Störung seit der Jahrtausendwende zu werten. Umgekehrt wirkt die Konsolidierung des Burnout-Begriffs in Psychiatrie und Psychotherapie zurück auf die davon Betroffenen, denen immer klarer zu werden scheint, worunter sie eigentlich leiden. Insofern ist der Aspekt des Hype an der ganzen Erscheinung nicht wegzudiskutieren. Wissenschaftliche und mediale Diskussion und die Betroffenheit durch das Syndrom haben sich zunehmend ineinander verzahnt und einen Schwungradeffekt erzeugt. Dennoch handelt es sich nicht um ein Phänomen, das leichtfertig abgetan werden kann. Vielmehr funktioniert die Verbreitung vieler Krankheiten nach demselben Schematismus, der – um einen chaostheoretischen Begriff zu verwenden – als Attraktor wirkt und Zug um Zug das Muster verdeutlicht, welches man am Ende auch bei sich selbst am Werk sieht. Alles, was mit Burnout verbunden werden kann, existierte bereits vorher, aber es wird erst jetzt zu einem Leiden, nachdem es einen sprechenden Namen mit der dazu passenden intensionalen Beschreibung erhielt, das »zu haben« zu einer neuartigen Identifikation befähigt im Sinne der Charaktermaske des Ausgebrannten. Dasselbe ist bereits früher mit der Melancholie und der neurotischen Abgeschlagenheit passiert, die erst im Zuge des Depressionskonzepts und von dessen zunehmender Verbreitung zu dem wurden, was wir heute kennen und worunter wir leiden. Erst mit dem Konzept der Depression ist die Möglichkeit zur Identifikation und zum Ausleben der eigenen momentanen Defizienz insofern entstanden, als sie vom Individuum begriffen werden kann. Charaktermasken liefern jene Begreifbarkeit, ohne die es nicht geht. Burnout deshalb abschätziger zu behandeln, erscheint arrogant und ist in der Sache falsch. Vom Augenblick an, wo Burnout ein Begriff ist, existiert dieses Leiden als eine der möglichen Identifikationen und ist begreifbar. Durch den Begriff bin ich fortan entschuldigt, das Private fällt mit ihm von mir ab, und ich habe nun teil an etwas Öffentlichem, wie man früher an der Cholera, am Typhus und heute an der Depression teil hat.
1.2 Burnout – schon lange entschlüsselter, als wir glauben
Als ich in meiner Bibliothek ein altes Kompendium der Psychiatrie und Psychotherapie fand, dessen Besitz ich vergessen oder verdrängt hatte, stieß ich in ihm auf Passagen, die sich gut mit Burnout assoziieren lassen und erstaunlich aktuell klingen. Es stammt aus dem Jahr 1984 und ist die neunte Auflage des legendären Kompendiums von Theodor Spoerri (Feldmann 1984), den ich als Student noch die Ehre gehabt hatte, persönlich zu kennen, und dessen Vorlesung ich – selten genug – besuchte. Mir wurde bewusst, wie fraglich doch der Erkenntnisgewinn ist, den wir in der Zwischenzeit in Bezug auf viele Bereiche in der Psychiatrie zu verzeichnen haben. Als ich die folgende Passage zur Erschöpfungsreaktion las, erkannte ich einiges darin wieder, worüber wir heute so diskutieren, als handle es sich um neue Erkenntnisse. Ich zitiere aus dem Absatz in der Hoffnung, der Leser möge die Ausführungen bei der Lektüre meines Buches im Hinterkopf behalten:
»Überarbeitung wird zum Konflikt, wenn ein autoritärer Vorgesetzter antreibt und dies im Widerspruch zum eigenen Autonomiestreben und Selbstwerterleben steht […]. Konflikte wirken aber nur dann pathogen, wenn es dadurch zu einer Überforderung kommt, wenn eine Konfliktlösung nicht möglich ist« (Feldmann 1984, S. 193). Bereits damals wurde die Bedeutung des Konflikts für die Reifung des Individuums betont: »Normalerweise haben Konflikte eine positive konstruktive Bedeutung für Lebensbewältigung und Reifung « (ebenda).
Psychoreaktive Störungen sind auch schon als Stressreaktionen im Verdacht: »Dabei ist aber weniger das biologische Stressmodell (Selye) anwendbar, als vielmehr verhaltenspsychologische Stresskonzepte, welche die subjektive Wertigkeit von belastenden Ereignissen und das psychische Verhalten unter Stress besonders berücksichtigen. Dabei sind auch psychosoziale Stressoren mit einzubeziehen: Leistungsdruck, Leistungs- und Versagensangst, soziale Isolierung und andere soziale Angsterfahrungen […]«(Feldmann 1984, S. 194). Wie heute üblich, wird auf das transaktionale Stresskonzept von Lazarus Wert gelegt, worin »[…] die persönliche Wertigkeit eines belastenden Ereignisses danach bestimmt [wird], wie das Ereignis vom einzelnen bewertet wird: kognitive Bewertung. Entscheidend ist dabei der Bedrohungsaspekt: wie bedrohlich oder ängstigend eine Situation einem erscheint. Besonders belastend sind dabei solche Situationen, die man nicht verändern, auf die man keinen Einfluss nehmen kann: Erfahrung der Nichtkontrolle « (ebenda, S. 195).
Die sich daraus entwickelnden Folgen werden so beschrieben, wie wir...