Einführende Übersicht
Der Titel dieses Buches lautet „Beziehungsräume in der Sozialen Arbeit“. Zu den Beziehungsräumen gehört die dyadische Beziehung, wie die zwischen Sozialarbeiter und Klient, die Familie, die Gruppe, das Team, die Organisation wie auch der innerpsychische Raum des Individuums. Ich habe den Begriff des Raumes gewählt, da er für mich am besten die Multidimensionalität von Beziehungen im Feld Sozialer Arbeit beschreibt.
Als Einführung, damit der Leser eine Vorstellung davon bekommt, was ihn erwartet, möchte ich eine knappe Zusammenfassung über die Hauptkapitel geben.
Im ersten Kapitel widme ich mich dem Verhältnis von Psychoanalyse und Sozialer Arbeit, wobei ich zunächst die geschichtlich bedeutsamen Verbindungen aufzeige, die aus der Tradition der psychoanalytischen Pädagogik und psychoanalytischen Sozialarbeit kommen. Fruchtbare Verknüpfungen sind besonders durch solche Personen entstanden, die beide Ansätze integrieren konnten. Ich zeige auf, dass die fruchtbare Verbindung von Psychoanalyse und Sozialer Arbeit auf einer gegenseitigen Beeinflussung beruht. Bevor ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Disziplinen herausarbeite, beschreibe ich beide Wissenschaften separat, um eine theoretische Basis und einen Bezugsrahmen zu schaffen. Selbstverständlich kann ich mich in der Beschreibung dessen, was Psychoanalyse und was Soziale Arbeit ausmacht, nur auf einige, aus meiner Sicht wesentliche Aspekte beschränken. Die Diskussion ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigt die große Nähe der beiden Disziplinen auf verschiedenen Ebenen wie des allgemeinen Zieles, des Menschenbildes, der Haltung, der Prozessorientierung. Beide schaffen einen sozialen Raum, in dem gearbeitet wird, beide arbeiten in der Beziehung und berücksichtigen den Wechselwirkungsprozess zwischen psychischen und sozialen Elementen, beide sind vor dem Hintergrund ihres psychosozialen Menschenbildes dem Prinzip der Aufklärung verpflichtet. Den Begriff „Soziale Arbeit“ verwende ich als Verbindungskonstrukt von Sozialpädagogik und Sozialarbeit.
Im zweiten Kapitel werden die Beziehungsräume des Verstehens und Handelns entfaltet. Bei der Realisierung meines Anliegens, psychoanalytische Theorien im Feld Sozialer Arbeit anzuwenden, ist es sinnvoll, diesen komplexen Bereich zu reduzieren. Ich wähle den Raum der Beziehung. Die Arbeit mit und in Beziehungen ist der Kern aller psychoanalytischen Theorien und ebenfalls ein Essential in der Sozialen Arbeit. Ich definiere zunächst die Dyade als die Ur-Beziehung und entwickle ein Modell der Interaktion, welches sich sowohl generell als auch konkret für die Beschreibung von aktuellen und vergangenen Beziehungen und die Entstehung von Beziehungsmustern eignet. Eine zentrale Beziehung der Gegenwart ist die zwischen Klient und Sozialarbeiter; eine zentrale Beziehung aus der Vergangenheit, die die gegenwärtige beeinflusst, ist die zwischen Mutter und Kind. Dieses Modell basiert auf verschiedenen psychoanalytischen Theorien und stellt den Prototyp für die Beschreibung von Beziehungsinteraktionen und die Entwicklung von Beziehungsmustern dar. Das zweite Kapitel ist das kürzeste, aber gleichzeitig das Herzstück des Buches.
Das Beziehungsmodell als Bezugsrahmen nehmend, beschreibe ich in Kapitel 3 die gegenwärtig zentralen Psychoanalytischen Theorien: Die Konflikttheorie, die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorie, die Bindungstheorie und die Selbstpsychologie. Die Theorien ergänzen sich sehr gut und helfen, die psychosoziale Wirklichkeit des Menschen, hier den Klienten der Sozialen Arbeit, besser zu verstehen. Bei der Beschreibung der Theorien stelle ich jeweils solche Aspekte heraus, die aus meiner Sicht für den Kontext der Sozialen Arbeit bedeutsam sind. Z. B. akzentuiere ich in der Konflikttheorie Formen der Konfliktverarbeitung, in der Ich-Psychologie die unterschiedlichen Ich-Funktionen, die auch der Unterscheidung von neurotischen, psychotischen und Persönlichkeits-Störungen dienen. In der Objektbeziehungstheorie fokussiere ich auf das Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen und das Szenische Verstehen. In der Bindungstheorie geht es um Aspekte der Bindungsqualität und deren Auswirkungen auf das spätere Beziehungsverhalten. Bei der Selbstpsychologie setze ich den Schwerpunkt auf die Entwicklung und Verletzbarkeit des Selbst und auf pathologische Verhaltensmuster bei Selbststörungen. Jedes Theoriekapitel schließe ich mit einer Betrachtung der Konsequenzen für die Soziale Arbeit ab.
Während Kapitel 3 eher theoretisch ausgerichtet ist, beziehe ich mich in Kapitel 4 Fallbeispiele – Verstehen und Handeln in der Praxis auf die praktische Anwendung. Ich stelle fünf Fallbeispiele aus eigener supervisorischer Praxis vor, wobei die Fälle aus Feldern der Sozialen Arbeit stammen. Es geht um eine individualpädagogische Jugendhilfemaßnahme, die Beratung eines „sexuellen Missbrauchers“ in einer speziellen Beratungsstelle, die Betreuung eines Jugendlichen in der Einzelfallhilfe, die Betreuung einer Borderline-Patientin in einer Klinik und die Betreuung eines psychiatrischen Klienten in einem Übergangshaus. Bei der Interpretation der Fallbeispiele beziehe ich mich auf die zuvor beschriebenen theoretischen Ausführungen, d.h. der Zugang des Verstehens in den Fallbeispielen erfolgt sehr konkret und individuenzentriert über die unterschiedlichen psychoanalytischen Theorieansätze, wobei die Schwerpunktsetzungen je nach Fall unterschiedlich sind.
In Kapitel 5 zeige ich zusammenfassend auf einer allgemeinen Ebene auf, welche Psychoanalytischen Perspektiven zum Verstehen und Handeln in der Sozialen Arbeit mit Individuen hilfreich sein können. Dem Kern des psychoanalytischen Denkens folgend, ist die Psychoanalyse primär hilfreich beim Verstehen von Individuen, in ihren Beziehungen und sozialem Umfeld. Um zu einem umfassenden Verständnis der psychosozialen Wirklichkeit des Individuums zu gelangen, wird es von unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Ich habe die Vielfalt der möglichen Perspektiven auf einige wesentliche reduziert und sie als Ordnungsgesichtspunkte genommen. Die psychoanalytischen Perspektiven, nach denen der Klient allgemein betrachtet werden kann, sind: Die aktuelle Situation, in der die Hilfe ansetzt, die psychogenetische, d.h. die biographische Perspektive, die die gegenwärtige Problemsituation verstehen hilft. Die biographische Perspektive ist untrennbar mit der innerpsychischen verknüpft. Die interaktionelle Perspektive weist auf die soziale Umgebung und speziell auf die Interaktion zwischen Klient und Sozialarbeiter. Da Soziale Arbeit immer in einem Organisationskontext stattfindet, wird auch diese Perspektive berücksichtigt. Der Sozialarbeiter ist stets ein Teil des Interaktionsgeschehens, von daher ist seine Persönlichkeit ebenfalls eine bedeutsame Perspektive. Die dynamische und unbewusste Perspektive gehen quer durch alle anderen. Die Handlungen ergeben sich aus den vorangestellten Perspektiven und sind ebenfalls von psychoanalytischer Reflexion geleitet.
In den Kapiteln 6 Psychoanalytische Theorien und ihre Anwendung in Gruppen und 7 Psychoanalytische Theorien und ihre Anwendung in Organisationen wird die Betrachtung der Beziehungsdyade als Ur-Beziehung überschritten. In der Gruppe und der Organisation geht es immer um Mehrpersonenbeziehungen. Je mehr Personen sich in einem sozialen Raum bewegen, desto größer wird auch die Komplexität des Beziehungsraumes.
Die Bedeutung der Gruppe, auch als Instrument der Veränderung, wurde von der Sozialen Arbeit wie auch von der Psychoanalyse erkannt und es wurde eine Vielzahl von Gruppenmethoden entwickelt. Methodische Gruppenarbeit gehört auch zu den Basismethoden in der Sozialen Arbeit. Neben der Geschichte der psychoanalytischen Gruppe stelle ich drei psychoanalytische Gruppenmodelle vor, von denen die Soziale Gruppenarbeit profitieren kann: Das Modell von Bion mit der Arbeits- und Grundannahmengruppe, das gruppenanalytische Modell nach Foulkes und das Göttinger Modell nach Heigl-Evers und Heigl. In den zusammenfassenden Konsequenzen für die Soziale Arbeit wende ich die verschiedenen psychoanalytischen Theoriezugänge und Reflexionsperspektiven auf ein Verstehen und Handeln in Gruppen an.
Wie ich in Kapitel 1 ausgeführt habe, gehört auch die Organisation zum Gegenstand Sozialer Arbeit. Der Sozialarbeiter setzt entweder bei der komplexen Situation des Klienten an, zu der immer auch die Organisation gehört, oder direkt bei der Organisation zur Veränderung des Bedingungsgefüges. Der Sozialarbeiter arbeitet also stets in und mit Organisationen, z. B. bei deren Vernetzung. Auch für das Verstehen von Organisationen ist psychoanalytisches Wissen hilfreich. Ich gebe einen kurzen Überblick über die Geschichte der Anwendung der Psychoanalyse in Organisationen und verknüpfe die Psychoanalyse mit der Systemtheorie. Da die Systemtheorie sowohl eine Referenztheorie für die Organisation als auch für die Soziale Arbeit darstellt, bildet sie auch eine Brücke zu Kapitel 1. Den Schwerpunkt lege ich auf unbewusste Prozesse in Organisationen, auf unbewusst ablaufende Dynamiken, Konflikte, Anpassungs- und Abwehrprozesse. Auch dieses Kapitel schließe ich mit allgemeinen Konsequenzen für die Soziale Arbeit ab.
Im abschließenden Kapitel 8 Konsequenzen für die Ausbildung und Fortbildung stelle ich einige Überlegungen zur Integration psychoanalytischen Wissens in der Ausbildung sowie Fort- und Weiterbildung an. Für eine effektive professionelle Soziale Arbeit ist psychoanalytisches Wissen beim Verstehen und Handeln unerlässlich.
Während des Schreibens hat mich stets die Frage begleitet, ob ich von...