Migration und Beratung – Eine eröffnende Perspektive
Wilhelm Körner, Gülcan Irdem & Ullrich Bauer
Die eröffnende Perspektive soll Grundbegriffe der Debatte erläutern und damit eine erste thematische Orientierung bieten. Wir stellen zunächst grundlegende Trends in der Betrachtung des Migrationsthemas vor und wollen exemplarisch die Bedeutung von Beratung im Rahmen von sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen erörtern.
1 Worüber sprechen wir, wenn wir von Migration reden?
Migration ist zu einem Querschnittsthema unserer Gesellschaft geworden. Mit der Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Migrationsströmen geändert. Seit inzwischen über einem Jahrzehnt versteht sich auch die Bundesrepublik als ein Einwanderungsland. Neben dem inzwischen »klassischen« Migrationstypus der Arbeitsmigration der 1950er bis 70er Jahre sind ab den 1980er Jahren die wirtschaftliche, Flucht- und Asylmigration in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, im Anschluss das Brain-Drain (die akademische Arbeitsmigration), die Heiratsmigration, der Familiennachzug und die Prostitutionsmigration (Oswald, 2007). Aktuell sprechen wir auch von Pendel- oder Transmigration und erleben damit, dass der Blick auf das Phänomen der Migration als langfristige Veränderung eines dauerhaften Wohnsitzes unscharf geworden ist. Ein individueller Wohnsitz kann demnach dauerhaft instabil sein (Bommes, 2002; Pries, 2001).
Das Statistische Bundesamt unterscheidet auf Grundlage der Berechnungen des jährlichen Mikrozensus Bevölkerungsanteile, die mit dem Begriff »Migration« verbunden werden, in inzwischen sehr differenzierter Form (Statistisches Bundesamt, 2011). Danach lassen sich Lebensbedingungen, die mit einer eigenen oder familialen Migrationserfahrung verbunden sind, wie folgt unterscheiden (► Tabelle 1).
Tab. 1: Ausprägungen des detaillierten Migrationsstatus (Statistisches Bundesamt, 2011, S. 7. Eigene Darstellung).
1 | Deutsche ohne Migrationshintergrund |
2 | Personen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn insgesamt |
2.1 | Migrationshintergrund nicht durchgehend bestimmbar |
2.2 | Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinn insgesamt nach Staatsangehörigkeit einschließlich »ohne Angabe«, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.1 | Personen mit eigener Migrationserfahrung (Zugewanderte) insgesamt nach Staatsangehörigkeit einschließlich »ohne Angabe«, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.1.1 | Ausländer nach Staatsangehörigkeit, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.1.2 | Deutsche nach Staatsangehörigkeit einschließlich ›ohne Angabe‹, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.1.2.1 | (Spät-)Aussiedler nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.1.2.2 | Eingebürgerte nach Staatsangehörigkeit, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.2 | Personen ohne eigene Migrationserfahrung (nicht Zugewanderte) insgesamt nach Staatsangehörigkeit einschließlich »ohne Angabe«, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.2.1 | Ausländer (2. und 3. Generation) nach Staatsangehörigkeit, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.2.2 | Deutsche nach Staatsangehörigkeit einschließlich »ohne Angabe«, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.2.2.1 | Eingebürgerte nach Staatsangehörigkeit, nach Alter oder Aufenthaltsdauer |
2.2.2.2.2 | Deutsche mit mindestens einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil |
2.2.2.2.2.1 | mit beidseitigem Migrationshintergrund |
2.2.2.2.2.2 | mit einseitigem Migrationshintergrund |
Das Statistische Bundesamt (2011, S. 7f.) spricht von einem Anteil von 16,0 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund. Dies sind 715 000 Personen mehr als im Jahr 2005. Im gleichen Zeitraum ist hingegen die Bevölkerung insgesamt um 561 000 Personen zurückgegangen (von 82,5 auf 81,9 Mio.), die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund sogar noch in einem höheren Maße um 1 276 000 (von 67,1 auf 65,9 Mio.) Personen. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist in der Folge von 18,6 % auf 19,6 % angestiegen. Dabei fällt auf, dass sich der Anteil der Bevölkerung in den unterschiedlichen Altersstufen verändert (► Abb. 1). Er verbreitert sich in den jüngeren Alterskohorten (im Altersdurchschnitt 34,6 gegenüber 45,6 Jahren), wir können somit von einer dauerhaften und nachhaltigen Implementierung des Migrationsthemas in der deutschen Bevölkerungsstruktur sprechen.
Abb. 1: Zwei Alterspyramiden, 2009, nach Migrationshintergrund, Ergebnisse des Mikrozensus (Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Migration in Deutschland 2011, S. 14 f.).
Von den Personen mit Migrationshintergrund machen Ausländerinnen und Ausländer (also Personen ohne deutschen Pass) 7,2 Mio. oder 8,8 % der Bevölkerung, die in Deutschland Eingebürgerten dagegen mit 8,8 Mio. oder 10,8 % der Bevölkerung mehr als die Hälfte aus (hier wie im Folgenden: Statistisches Bundesamt, 2011). Mit 10,6 Mio. stellen die seit 1950 Zugewanderten mit eigener Migrationserfahrung zwei Drittel aller Personen mit Migrationshintergrund dar. Die in Deutschland geborenen Personen ohne eigene Migrationserfahrung haben sich in ihrer Zusammensetzung verändert: Ausländerinnen und Ausländer stellen mit 1,6 Mio. weiterhin 2 % der Bevölkerung, »die Zahl der hier geborenen Deutschen mit Migrationshintergrund hat sich gegenüber 2008 aber um 189 000 auf 3,5 Mio. bzw. 4,2 % der Bevölkerung erhöht.« (Ebd., S. 7) Der europäische Herkunftskontext ist für die Migration in Deutschland quantitativ besonders bedeutsam, 70,6 % der 10,6 Mio. ausländischen oder eingebürgerten Zuwanderer kommen aus einem europäischen Land, 32,3 % von ihnen kommen aus den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union (► Tabelle 2).
Tab. 2: In Deutschland lebende Personen mit Migrationshintergrund und Herkunftsländer (Statistisches Bundesamt, 2011, S. 8. Eigene Darstellung).
Anzahl der Personen | Herkunft |
2 900 000 | | ehemalige Sowjetunion |
1 500 000 | | Nachfolgestaaten Jugoslawiens |
Die ca. 10 Millionen Zugewanderten halten sich im Schnitt seit ca. 21 Jahren in Deutschland auf. Die klassische Familie mit Eltern und Kindern kommt in den Haushalten mit Migrationshintergrund deutlich häufiger vor als in Familien ohne Migrationshintergrund (57,6 % gegenüber 38,6 %). Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg weichen indes auffällig von der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ab (► Abb. 2). Im Durchschnitt 14 % der Ausländer und Personen mit
Abb. 2: Bevölkerung nach Migrationsstatus und allgemeinem Schulabschluss (Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2, Migration in Deutschland 2011, S. 28).
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