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Handlexikon Geistige Behinderung

Schlüsselbegriffe aus der Heil- und Sonderpädagogik, Sozialen Arbeit, Medizin, Psychologie, Soziologie und Sozialpolitik

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl424 Seiten
ISBN9783170240056
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
Work with people who have mental disabilities has been undergoing greater change in recent years than practically any other field in remedial and special needs teaching. As the ability of people with mental disability to learn and develop was recognized, a competence and strengths approach was adopted in the theories and concepts underlying support work for them, and this was supplemented by taking into account the views of those affected and a commitment to strengthen their legal rights. This pocket dictionary provides solid scientific guidance in the face of the rapid developments and upheavals in assistance for the mentally disabled that have taken place in recent years. It includes all of the major key concepts that are important from both the practical and theoretical viewpoints. At the same time, the pocket dictionary tries to indicate the interdisciplinary nature of this specialist field of work by including terms that come not only from the field of remedial and special needs teaching, but also from psychiatry/medicine, psychology, sociology, social policy and social work.

Prof. Georg Theunissen holds the Chair of Education for the Mentally Disabled and Autism at the University of Halle-Wittenberg. Dr. Wolfram Kulig is a research assistant there. Kerstin Schirbort, who hold a teaching diploma, is Educational Director of a residential area for people with learning difficulties and complex disabilities.

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Leseprobe

A


Ablösung, Trennung vom Elternhaus


Ablösung beschreibt einen biografischen Prozess, eine Entwicklungsaufgabe mit wesentlicher Bedeutung für die Ausbildung der → Identität. Bereits die Geburt und danach das Abstillen, Laufen lernen, die Entwicklung eines eigenen Willens (Trotzalter) etc. stellen Schritte in die zunehmende Unabhängigkeit von den Eltern dar. Alle Entwicklungen im Eltern-Kind-Verhältnis zu mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit (Klauß 1997, 39) tragen zur Ausbildung eines Konzeptes vom eigenen Leben und der eigenen Person bei. Bei der schrittweise und über einen längeren Zeitraum erfolgenden Ablösung greifen äußere und innere Prozesse ineinander: Während das Kind sich äußerlich von den Eltern entfernt, alleine spielt, mit Freunden weggeht, eigene Interessen verfolgt und schließlich auszieht, löst es sich auch aus einer zu Beginn des Lebens symbiotischen Beziehung und entwickelt eigene Vorstellungen, Orientierungen, Bewertungsmuster und Handlungsweisen. Dies geht häufig und vor allem in der → Pubertät mit Auseinandersetzungen zwischen den Generationen einher.

Viele gesellschaftliche Institutionen unterstützen diese Ablösungsprozesse, sodass Eigenständigkeit und Unabhängigkeit stetig zunehmen. Für Menschen mit geistiger Behinderung stellt die Ablösung eine besondere Herausforderung dar, sie können vor allem dann, wenn sie Sonderinstitutionen außerhalb ihres Wohnumfelds besuchen, die Ablösung nicht in vergleichbarer Form einüben und damit schrittweise bewältigen:

  • Bereits im Kindergarten lernen Kinder üblicherweise, Wege alleine zu gehen, erste Freunde zu finden und mit ihnen etwas zu unternehmen. Kinder mit geistiger Behinderung werden meist gebracht und abgeholt, ihr Zuwachs an Eigenständigkeit ist hierbei geringer.
  • Zur Schule gehen Kinder ohne Behinderungen in der Regel ohne Elternbegleitung, sie weiten ihren Freundeskreis sehr aus und haben erstes (Taschen-)Geld. Behinderte Kinder werden meist weiterhin transportiert, und auch die Freizeitkontakte sind stärker organisiert.
  • Im Jugendalter sind Peergroups wichtig. Kontakte ohne Elternkontrolle helfen bei der Ausbildung eigener Sichtweisen. Jugendliche mit geistiger Behinderung brauchen hierfür Unterstützung und sind deshalb auch hier stärker fremdbestimmt. Ähnliches gilt für Urlaub und Freizeit; auch dort können sie nur begrenzt Unabhängigkeit und eigene Interessen erproben.
  • Die freie Wahl eines Arbeitsplatzes ermöglicht im Idealfall ein selbstbestimmtes Leben, eine eigene Wohnung und das Eingehen einer → Partnerschaft. Menschen mit geistiger Behinderung finden Arbeitsmöglichkeiten vor allem in Werkstätten, und ihr Einkommen ermöglicht kein wirklich eigenständiges Leben. Der Auszug aus der Herkunftsfamilie erfolgt oft fremdbestimmt (durch Eltern, Fachleute, unter Behördenmitwirkung) und häufig sehr spät (Klauß 1995, 448).

Auch für Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung ist die Ablösung eine besondere Aufgabe: Sie lernen im Laufe des Zusammenlebens mit ihrem Kind zu akzeptieren, dass es von ihnen besonders abhängig ist (vgl. Hahn 1981). Dies erschwert das Loslassen, weil die Eltern nie sicher sein können, wie gut professionelle Begleiterinnen ihre Tochter, ihren Sohn betreuen werden. Behinderte Kinder werden zudem häufig zum zentralen Lebensinhalt ihrer Eltern, die sich mit zunehmender Ablösung neu orientieren müssen – oder sie behalten Sohn oder Tochter so lange wie irgend möglich bei sich. Zudem müssen sie amtlich begründen und sich rechtfertigen, wenn sie beispielsweise einen Umzug in ein Heim für ihr (erwachsenes) ›Kind‹ anstreben, sodass die Ablösung eher als aktives Weggeben erlebt wird.

Viele Heranwachsende mit geistiger Behinderung zeigen zwar, dass sie möglichst viel selbst bestimmen und auch von ihren Eltern unabhängiger sein möchten, sie trauen sich den Schritt aus dem Elternhaus jedoch häufig nicht zu. Eltern müssen eine Trennung deshalb aktiv betreiben. Selbst für die Ablösung eines Kindes aktiv werden zu müssen, muss ambivalente Gefühle auslösen, und es erfordert eine Neudefinition der eigenen Rolle, eine Abgabe von Verantwortung.

Da eine gelungene Ablösung für Menschen mit geistiger Behinderung eine wichtige biografische Bedeutung hat, ist es eine pädagogische Aufgabe, günstige Bedingungen dafür zu schaffen. Dies bedeutet vor allem,

  • Eltern dabei zu unterstützen, am Beginn des gemeinsamen Lebens zu ihrem Kind eine Beziehung einzugehen, die später auch ein Loslassen ermöglicht; dazu kann die Frühförderung beitragen;
  • Kindern mit geistiger Behinderung möglichst viele Chancen zu geben, Kontakte mit Gleichaltrigen einzugehen und in möglichst normalen Institutionen die schrittweise Ablösung einzuüben, und
  • Eltern und Menschen mit geistiger Behinderung die Ablösung dadurch zu erleichtern, dass sie Zutrauen zu den professionellen Hilfeleistungen gewinnen können, die teilweise die Aufgaben übernehmen müssen, die im ersten Lebensabschnitt von den Eltern wahrgenommen wurden.

Theo Klauß

Literatur


Fischer, U. (2006): Bindung und Ablösung bei schwerer geistiger Behinderung. Kongressbeitrag Magdeburg

Hahn, M. (1981): Behinderung als soziale Abhängigkeit. Zur Situation schwerbehinderter Menschen. München

Klauß, Th. (1995): Irgendwann kommt die Trennung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 46, 9, 443–450

Klauß, Th. (1997): Wenn alle das Beste wollen, leidet die Selbstbestimmung. Plädoyer für eine begrenzte Verantwortlichkeit von Eltern und Pädagogen. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 20, 1, 37–46

Active Support, aktive Unterstützung


Active Support (aktive Unterstützung) ist ein aus dem angloamerikanischen Sprachraum (v. a. Großbritannien, Australien) stammendes Modell, das insbesondere zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit komplexer Behinderung (schweren kognitiven Beeinträchtigungen) beitragen soll (Felce, Jones & Lowe 2002; Jones et al. 2011; Theunissen 2012, Kap. V). Dabei steht die Partizipation an Aktivitäten des alltäglichen Lebens in der primären Lebenswelt sowie im sozio-kulturellen Raum im Vordergrund. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Modells der aktiven Unterstützung war die Beobachtung, dass viele institutionalisierte Menschen mit komplexer Behinderung tagsüber wenig Lebensanreize erfuhren, dass sie selbst wenig Eigeninitiative zeigten und sich durch »erlernte Hilflosigkeit« (Seligman) und »erlernte Bedürfnislosigkeit« (Theunissen) der Alltagsroutine in einem Heim oder einer Wohngruppe angepasst hatten. Folgende Aspekte liegen dem active support model zugrunde:

  • Ein zeitlich durchstrukturierter Tagesablauf und Plan für alltägliche Aktivitäten (activity and support plans)
  • Eine fünftägige Mitarbeiterschulung (interactive training; active support training)
  • Ein »Ermöglichungsplan« (opportunity plan)
  • Ein individualisiertes Unterstützungs- und Lehrprinzip: »ask – instruct – prompt – show – guide« (support)
  • Personen- und bereichsbezogene Dokumentationspläne (domestic participation record; community participation record; participation summary; support protocol);
  • Eine (Prozess-) Evaluation (monitoring)

Untersuchungen aus Großbritannien und Australien haben den Nachweis erbracht, dass die aktive Unterstützung im Hinblick auf Partizipation an alltagsbezogenen Aktivitäten und Partizipation am sozio-kulturellen Leben von Menschen mit komplexer Behinderung signifikant wirksamer als eine herkömmliche Betreuungsform eingeschätzt werden darf (Felce, Jones & Lowe 2002, 261f.; Stancliffe et al. 2007). Allerdings besteht gleichermaßen wie bei der herkömmlichen Betreuung die Gefahr, dass die aktive Unterstützung als eine Top-down-Methode praktiziert wird und Menschen mit komplexer Behinderung zu wenig Wahlmöglichkeiten (choices) offeriert werden. Ferner leistet sie keinen wirksamen Beitrag zum Abbau von Verhaltensauffälligkeiten, weshalb eine Verschränkung des Modells mit der → Person-zentrierten Planung und der → Positiven Verhaltensunterstützung empfohlen wird (vgl. Theunissen 2012, Kap. V).

Georg Theunissen

Literatur


Felce, D.; Jones, E.; Lowe, K. (2002): Active Support. Planning Daily Activities and Support for People with Severe Mental Retardation. In: Holburn, S.; Vietze, P. M. (eds.): Person-Centered Planning. Research, Practice and Future Directions. Baltimore, 247–269

Jones, E. et al. (2011): Active Support. A handbook for supporting people with learning disabilities. Online: arcuk.org.uk/cymru/files/2011/04/Acitive-Support-Hanbook.pdf (Zugriff: 21.7.2011)

Stancliffe, R. J. et al. (2007): Australian Implementation and Evaluation of Active Support. In: Journal of Applied Research in Intellectual Disabilities, 20, 211–227

Theunissen, G. (2012): Lebensweltorientierte Behindertenarbeit und Sozialraumorientierung. Eine Einführung in die Praxis. Freiburg

Aggression, aggressives Verhalten


(siehe auch Verhaltenssauffälligkeiten, selbstverletzendes Verhalten)


Der Begriff »Aggression« ist abgeleitet vom...

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