Vorwort
Die konzeptionellen und praktischen Entwicklungen in Behindertenarbeit und sozialpädagogischer Praxis sind stets auch mit einem begrifflichen Wandel verbunden.
Als ein „Kursgewinner“ auf diesem Begriffsmarkt kann zweifelsohne der Terminus „Empowerment“ gelten. Er hat sich in vielen Bereichen der Behindertenarbeit etabliert und Entwicklungen in verschiedenen Feldern angestoßen. Eben diese aktuellen Entwicklungen sind Gegenstand des vorliegenden Bandes.
Möchte man in einem ersten Schritt das hinter dem Begriff Empowerment stehende Konzept charakterisieren, fällt das nicht leicht. Empowerment ist nicht aus einer (heil-)pädagogischen Theorie entwickelt wurden; es stellt im strengen Sinne einer wissenschaftlichen, gegenstandsbezogen Deskription überhaupt keine Theorie dar.
Empowerment wird mit Bezeichnungen wie „Philosophie“, „Leitbild“, „Prinzip“,„Ansatz“, „Konzept“ oder Ähnlichem charakterisiert.
Der Begriff selbst entstammt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und bedeutet übersetzt etwa Selbstbemächtigung oder -ermächtigung. Er steht dort für das (vor allem politische) Aufbegehren einer marginalisierten gesellschaftlichen Gruppe. Erst später ist er in den wissenschaftlichen Diskurs aufgenommen und für verschiedene Fachrichtungen ausgearbeitet worden (so zum Beispiel für die soziale Arbeit durch Herriger, vgl. 2002). Für die Heilpädagogik ist vor allem die systematische Aufbereitung des Ansatzes von Theunissen und Plaute (erste Auflage 2002) von Bedeutung.
Vier Aspekte des Begriffes Empowerment lassen sich nach deren Auffassung unterscheiden (die Darstellung folgt Kulig 2006):
Zum Ersten verweist der Begriff auf die Selbstverfügungskräfte des Einzelnen, die ihm zur Lösung von Konflikten zur Verfügung stehen. Diese individuellen Ressourcen bilden die Grundlage aller weiteren Überlegungen.
Zum Zweiten wird mit dem Begriff politisch ausgerichtete Macht und Durchsetzungskraft im Sinne einer politischen Emanzipation von Randgruppen verbunden. Dabei geht es vor allem um die Durchsetzung gleichberechtigter Zugangschancen zu soziokulturellen Ressourcen, z. B. Bildungseinrichtungen, aber auch um den Zugang zu Macht ausübenden Institutionen.
Zum Dritten steht Empowerment in einem reflexiven Sinne auch für den Prozess des Erkennens dieser Ressourcen bzw. Durchsetzungskräfte. „Empowerment beschreibt als Prozess im Alltag eine Entwicklung für Individuen, Gruppen, Organisationen oder Strukturen, durch die die eigenen Stärken entdeckt und die soziale Lebenswelt nach den eigenen Zielen (mit)gestaltet werden kann. Empowerment wird damit als Prozess der ‚Bemächtigung‘ von Einzelnen oder Gruppen verstanden, denen es gelingt, die Kontrolle über die Gestaltung der eigenen sozialen Lebenswelt (wieder) zu erobern.“ (Stark 1993, 41).
Viertens schließlich kann Empowerment auch im transitiven Sinne verstanden werden. Das meint hier, dass einzelne Personen oder gesellschaftlich marginalisierte Gruppen in die Lage versetzt werden, Vertrauen in eigene Fähigkeiten zu entwickeln und ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Der Widerspruch zu den bisher genannten drei Punkten ist evident. Dieses Problem sehen auch Theunissen und Plaute (2002, 13), wenn sie schreiben: „es wäre ein begrifflicher Widerspruch, wenn es im transitiven Sinne darum ginge, jemanden zu ‚ermächtigen‘, z. B. aus einem behinderten Menschen eine ‚empowered person‘ zu ‚machen‘. Empowerment kann nicht direkt von professionellen Helfern hergestellt, vermittelt oder gemäß einer geforderten Norm verordnet […] werden.“ Ungeachtet dieser Probleme muss jedoch festgehalten werden, dass ohne diese Begriffsdeutung im transitiven Sinne eine Verwendung des Ansatzes zur Bearbeitung sonder- oder sozialpädagogischer Fragen nur schwer vorstellbar ist. Denn lediglich dieser Punkt ermöglicht die Entwicklung einer Theorie helfender Professionen (vgl. zu den vier Begriffsbestimmungen Theunissen & Plaute 2002, 12 f).
Wie kann sich, so möchte man fragen, ein Konzept in der heilpädagogischen Theorie und Praxis etablieren, das keiner pädagogischen (Denk-)Tradition entstammt, über keinen ausgewiesen heilpädagogischen Begriffsapparat verfügt und bis vor ca. zwanzig Jahren in der Fachdiskussion nahezu unbekannt war?
Auch wenn die Antwort notwendig spekulativ bleiben muss, sollen doch zwei Thesen gewagt werden:
In diesen letzten zwei Jahrzehnten haben sich Theorie und Praxis der Behindertenhilfe stark verändert; ob man tatsächlich vom vielbeschworenen Paradigmenwechsel sprechen kann, sei dahingestellt. Dass sich die Sichtweisen gewandelt haben, ist jedoch kaum zu bestreiten. Wesentlich ist dabei vor allem eine veränderte Sichtweise auf die Menschen mit Behinderung selbst; von einem qua Definition weitgehend unmündigen, hilfebedürftigen Wesen zum Mitbürger mit Rechten und Pflichten könnte die knappe Formel zur Beschreibung dieser Veränderungen lauten. Eine Beschreibung des Wandels in der Behindertenhilfe unter einer solchen Rechteperspektive liefert Johannes Schädler im einleitenden Beitrag dieses Bandes. Eng mit diesem Wandel verbunden ist eine Stärkung des Selbst- und Mitbestimmungsgedanken: nicht mehr nur „Dabeisein“ ist das Ziel, sondern Mitgestalten und eine echte Zugehörigkeit. Dies wird vor allem in Begriffen wie Partizipation, Teilhabe oder allgemein Inklusion gefasst. Werner Schlummer greift im zweiten Beitrag diese Entwicklungen auf. Empowerment fasst die wesentlichen Elemente dieser aktuellen Entwicklung in einem Konzept zusammen und bietet damit einen umfassenden begrifflichen Rahmen sowie einen methodischen Zugang, was – so die erste These – den Erfolg des Konzeptes mitbegründet.
Neben dieser begrifflichen Konzeption stellt Empowerment auch eine konsequent an diesen Forderungen ausgerichtete Wertebasis zur Verfügung: Selbstbestimmung, kollaborative und demokratische Partizipation sowie Verteilungsgerechtigkeit bilden die Grundlage aller pädagogischen und sozialen Folgerungen. Die Orientierung an verbindlichen Grundwerten – und das ist die zweite These – macht Empowerment auch für einen politischen Diskurs anschlussfähig, was ebenfalls zu seinem Erfolg beiträgt. Mit Hilfe des Ansatzes lassen sich sozialpolitische Forderungen begründen und es werden gleichzeitig Anregungen gegeben, diese in der Gesellschaft durchzusetzen (Selbsthilfeansatz, soziale Netze usw.). Damit wird der Ansatz auch für Betroffene und ihre Organisationen interessant.
Möchte man die vielen Entwicklungen, die mit Empowerment in der Behindertenhilfe verbunden werden, ein wenig ordnen, lassen sich zumindest drei Hauptaspekte ausmachen:
Zum Ersten sind die betroffenen Menschen mit Behinderungen selbst zu nennen. Sie ergreifen das Wort und mischen sich als „Experten in eigener Sache“ in eine Diskussion ein, die noch vor wenigen Jahren ausschließlich von Fachleuten geführt wurde. Dabei werden sehr engagiert eigene Standpunkte vertreten und der Fachwelt nicht selten ein kritischer Spiegel vorgehalten. Im vorliegenden Band greift Barbara Viehweg von der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V.“ das Thema Selbstbestimmung aus Sicht dieser Organisation auf. Stefan Götling als Vorsitzender von „Mensch zuerst – People First Deutschland“ stellt gemeinsam mit Kerstin Schirbort im Anschluss zum einen diese Selbstvertretungsorganisation in leichter Sprache vor. Christine Preißmann widmet sich dem Thema Autismus. Sie ist selbst vom Asperger-Syndrom betroffen, spricht also einerseits als Expertin in eigener Sache, ist anderseits als Ärztin und Psychotherapeutin beruflich im medizinischen und sozialen Bereich tätig.
Zum Zweiten sind Entwicklungen in der pädagogischen Praxis zu beschreiben: So diskutiert Monika Seifert über neue Wohnformen für Menschen mit Behinderung, und Jutta Hollander fragt, wie sich der Übergang in den Ruhestand für und mit den Betroffenen gestalten lässt. Ein weiter Aspekt von sich ändernder Praxis, der in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen hat, sind veränderte Planungsverfahren; dem Empowerment i. S. von Selbstbestimmung und Partizipation verpflicht, wurden in den letzten Jahren Methoden entwickelt, die die Wünsche der Menschen mit Behinderung erfassen und ihre Vorstellung eines gelungenen Lebens zur Grundlage pädagogischer Maßnahmen machen. Milly Assman stellt mit der Individuellen Lebensstilplanung ein solches Verfahren vor. Um selbstbestimmt Wünsche zu artikulieren und seine Interessen zu vertreten, ist es notwendig, Wissen über gesellschaftliche, aber auch fachspezifische Entwicklungen zu besitzen. So stehen Praktiker, aber auch Wissenschaftler immer wieder vor der Frage, wie sie ihre Erkenntnisse und Hinweise Menschen mit (vor allem) geistiger Behinderung vermitteln können. Harald Goll stellt hierzu ein Material vor, in welchem er das Thema Menschenbild und Inklusion für Menschen mit geistiger Behinderung aufbereitet.
Als letzter Punkt ist noch auf pädagogische Methoden im engeren Sinne einzugehen; Ansätze also, die die Betroffenen anregen, ihre Probleme selbst anzugehen und aus eigenen Kräften zu lösen. In diesem Band greifen Angela Brosch und Günther Opp mit dem Thema „positive peer culture“ ein Konzept auf, das Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung auslotet.
Ernst Wüllenweber wendet sich in seinem Essay dem Thema Verhaltensauffälligkeiten zu und schlägt eine Deutung dieses häufig beklagten Phänomens im Sinne des Empowerment vor. Daran anknüpfend stellt Michael...